Bücher sollen eigentlich Spaß machen. Den Leser entführen in eine Welt voller Emotionen. „Dem Abgrund so nah“, wartet mit einer ganzen Gefühlspalette auf. Doch ein Spaß ist es nicht. Denn die Geschichte ist keine Fiktion. Sie hat sich tatsächlich so oder zumindest so ähnlich zugetragen. Autorin Jessica Koch greift hier auf die Tagebücher und Erzählungen ihres späteren Freundes Danny zurück und erzählt auf knapp 500 Seiten seine Geschichte.
Sie handelt von dem jungen Danny, den aufmerksame Leser schon in „Dem Horizont so nah“ von Jessika Koch kennenlernen durften. Ein lebensbejahender junger Mann, der mit den Schatten seiner Kindheit zu kämpfen hatte. In „Dem Abgrund so nah“, erzählt die Autorin Dannys Jugendgeschichte zwischen dem 10. und 15. Lebensjahr. Von häuslicher Gewalt, sexuellem Missbrauch und schwerer körperlicher Misshandlung. Und Dannys Kampf um Anerkennung, Liebe und dem schlichten Wunsch zu überleben.
Aufbau, Sprache und Motive des Buches
Der Aufbau des Buches geht in seiner Erzählung streng chronologisch vor. Die einzelnen Kapitel umfassen das jeweilige Jahr, in dem sich Danny und die Leser bewegen. Der Sprachstil bleibt wie auch schon im ersten Buch schnörkellos. Doch wer den ersten Band gelesen hat, wird feststellen, dass die Autorin sich sprachlich weiterentwickelt hat. Sowohl in Wortwahl als auch in Beschreibung. Sie bemüht sich um einen möglichst sachlichen Ton, der den Leser zu einem stillen Zeugen der Geschichte werden lässt. Weder versucht sie reißerisch die verschiedenen physischen und psychischen Angriffe auf Danny auszuschmücken, noch schont sie den Leser mit diffusen Andeutungen. Im Kopf kann ein ziemlich genaues Bild von Dannys Leben und Leid entstehen. Hin und wider störte ich mich an der Wortwahl wie beispielsweise „besoffen“, das widerholt vorkam. Es ist mir persönlich zu grob (die Situationen sind teilweise schon grob genug).
Sie versteht es, eindringlich zu beschreiben, wie sich das Leben von Danny nach und nach in einen Albtraum verwandelt, dem er nichts entgegenzusetzen hat, außer seiner inneren Stärke. Die oben schon genannte Thematik zieht sich als roter Faden durch das Buch. Natürlich, denn es ist der Schlüssel zu Dannys späteren Reaktionen. Ein heißes Eisen, denn wer liest schon gern über Missbrauch und Misshandlung von Kindern? Doch die Entscheidung der Autorin, genau das zu Papier zu bringen, hat einen wichtigen Grund: Es ist ein Appell an alle, genauer hinzusehen, wenn das Bauchgefühl einem sagt, dass in einer Familie offenbar etwas nicht stimmt. Denn auch das ist in diesem Buch ein wichtiges Thema: Alle sehen weg. Schule, Freunde, Trainer, Ärzte, Nachbarn, ja selbst die nächsten Verwandten verschließen die Augen vor der Tatsache, dass im Hause Taylor etwas ganz und gar schiefläuft.
Die Charaktere der Eltern bleiben schwer (be-)greifbar. Das ambivalente Verhältnis zwischen Vater und Sohn zu Beginn ist oft von Streitgesprächen durchzogen, in denen sowohl Vater als auch Sohn in meinen Augen überraschend reagieren. Danny für sein Alter (zwischen 10 und 12) in meinem Empfinden viel zu aufmüpfig (später, in der Pubertät kann ich mir das eher vorstellen). Aiden oft weinerlich. Aber das ist sicherlich Geschmackssache. Die innerliche Zerrissenheit des Vaters, der weiß, dass er einen Tabu-Bruch begeht, aber zu wenig Rückgrat besitzt, um sich selbst im Griff zu halten, wird von der Autorin immer wieder angerissen. Die Mutter bleibt oft in der Erzählung abwesend, was aber natürlich ihrem Gesundheitszustand zuzuschreiben ist und Dannys Lebensumfeld entsprechend prägt. Maßgeblich hält die Autorin ihr Augenmerkt auf die Vater-Sohn-Beziehung, die sich immer negativer entwickelt, je älter Danny wird.
Es hat mich daher tief bewegt, dass Danny daran nicht zerbricht, sondern schon mit 12 klar in der Lage ist, seine Vorzüge und Stärken zu erkennen. Mit dem eisernen Willen, diese für sich zu bewahren. Allen Widrigkeiten zum Trotz.
„Die Welt und die anderen Menschen können nichts für Dein Leid“, flüsterte er. Das durfte er niemals vergessen. Sonst verlor er das, was ihn ausmachte. Das, was seine Persönlichkeit definierte. Sein Wesen durfte sich nicht ändern, sonst hatte sein Vater gewonnen.“ (S. 200)
Eine erstaunliche Leistung für ein Kind, dass offensichtlich völlig auf sich gestellt ist. Es wäre so leicht gewesen, auf die schiefe Bahn zu geraten. Und jeder hätte es irgendwie sogar nachvollziehen können. Der unbändige Lebenswillen und sein Gerechtigkeitssinn lassen ihn überleben und „in der Spur bleiben“, wenn auch die Narben in seiner Seele nie ganz heilen können.
Die Aufmachung des Buches
Das Cover bleibt dem Stil des ersten Bandes treu und fängt die Stimmung des Buches auf subtile Weise ein. Vermutlich hätte ich auch ohne den 1. Band zu kennen, nach dem Buch in einem Buchladen gegriffen.
Die Jahreszahlen der jeweiligen Kapitel geben einen guten Überblick, in welchem Jahr sich Danny und damit der Leser befindet. Sie unterstreichen Dannys Entwicklung über die beschriebene Zeit.
Fazit
„Dem Abgrund so nah“ berührt tief. Eben weil es keine fiktive Geschichte ist und dahinter ein Mensch steht, den der Leser des 1. Bands sehr in sein Herz geschlossen hat. Aber auch ohne dieses Hintergrundwissen erobert Danny das Herz des Lesers im Sturm. Das Buch lässt einen fassungslos zurück. Doch auch mit einer gewissen Genugtuung, denn der Schluss hält sogar ein kleines Happy End für Danny bereit. Ein Umstand, der nicht immer selbstverständlich ist, wenn man an die Missbrauchs-Skandale z.B. in der Kirche der letzten Jahre zurückdenkt.
Eine Frage bleibt zum Schluss offen: Wie werde ich zukünftig reagieren, wenn ich feststelle, dass in meinem Umfeld ein Kind Hilfe braucht? Welche Schritte muss ich unternehmen, um zu verhindern, dass ein Kind wie Danny jahrelang durch die Hölle gehen muss?
Hier wären Kontaktadressen oder sinnvolle Vorgehensweisen eine Überlegung. Denn das Buch soll schließlich nicht nur aufrütteln, es soll etwas in Gang bringen.
Insgesamt eine empfehlenswerte Lektüre für starke Nerven. Empfindliche Leser sollten es sich gut überlegen, es zu lesen. Die Triggerwarnung zu Anfang steht dort nicht ohne Grund.
Davon abgesehen: Eine klare Leseempfehlung.