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Veröffentlicht am 22.09.2016

Was man aus Liebe tut ...

Die Wahrheit meines Vaters
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... muss nicht immer besonders logisch sein. Oder legal. In Andrew Hopkins' Fall war es gegen das Gesetz. Verdenken konnte ich ihm seine Taten allerdings nicht, denn als ich nach und nach die Gründe dafür ...

... muss nicht immer besonders logisch sein. Oder legal. In Andrew Hopkins' Fall war es gegen das Gesetz. Verdenken konnte ich ihm seine Taten allerdings nicht, denn als ich nach und nach die Gründe dafür erfahren habe, war ich immer mehr der Überzeugung, dass ich genauso gehandelt hätte. Mehr möchte ich an dieser Stelle nicht von der teilweise erschütternden Wahrheit verraten, das soll schon jeder selbst herauslesen, wie Andrew versucht hat, das Leben seiner Tochter Delia zu "retten". Ich möchte lieber erklären, warum das Buch von mir nur drei Sterne bekommen hat ...

~ Es ist immer leichter, einen Menschen zu verurteilen, als sich zu überlegen, was ihn vielleicht so weit gebracht hat, eine illegale oder moralisch verwerfliche Tat zu begehen, weil er glaubt, dass er dann besser dran ist. ~
(S. 377)

Die Handlungen der Figuren (in der Gegenwart) konnte ich größtenteils nicht nachvollziehen. Warum? - Weil mir manche Entscheidungen für erwachsene Menschen etwas überstürzt und kindisch erschienen sind. Mit ein Grund für das Unverständnis der Handlung, war wahrscheinlich auch die Tatsache, dass die Autorin ziemlich stark an den Emotionen der Buchfiguren gespart hat. Es wird fast alles so nüchtern und gefühllos beschrieben - das hat mir gar nicht gefallen. Auf diese Weise habe ich zu keinem der Hauptcharaktere eine gewisse Nähe aufbauen können. Die Geschichte/die Buchfiguren waren nur aus der Distanz zu betrachten, so richtig einfühlen konnte ich mich leider in niemanden.
Zusätzlich erschwert wurde der Nähe-Aufbau durch die Kapitelwechsel. In jedem neuen Kapitel wird aus der Sicht einer anderen wichtigen Person erzählt - und davon gab es gar nicht mal so wenige, fünf waren es mindestens.

~ Ich könnte ihr aus eigener Erfahrung sagen, dass Menschen, die wir lieben, manchmal Entscheidungen treffen, die wir nicht nachvollziehen können. Aber wir sind trotzdem in der Lage, diese Menschen weiterhin zu lieben. Nicht das Verständnis zählt, sondern die Vergebung. ~
(S. 86)

Was mir wiederum gefallen hat, waren die Einblicke, die man über alkoholkranke Menschen bekommen hat. Der Alkohol spielt in diesem Buch eine tragende Rolle, genauso wie eine Verhandlung vor Gericht (aber die ist ja fast schon Markenzeichen von Jodi Picoult) und ich persönlich fand es sehr interessant, zu dieser Thematik auch einmal mehr lesen zu können. Ebenso, aber das hat mir nur zum Teil gefallen, tauchen im Text immer wieder bedeutungsschwere Sätze, Gespräche und Fragen auf, über die man vermutlich stundenlang philosophieren könnte. Für mich war das manchmal etwas zu viel, aber ich glaube, das ist sowieso eher Geschmacksache.

Dann gab es da noch Gefängnisszenen, die zwar zum Teil heftig zu lesen waren, mir aber dennoch wie reine Seitenfüller vorgekommen sind, da sie mit dem eigentlichen Problem mit Delia nicht viel zu tun hatten.
Ganz genauso wie ein Abschweifen vom Thema sind bei mir die Szenen angekommen, in denen eine Indianerfrau mit Delia Kontakt hatte. Die alte Indianerin hat von abgehobenen Dingen gesprochen, die in ihrem Glauben verankert sind, mit dem ich aber nicht viel anfangen konnte. Es kamen auch einige indianische Ausdrücke vor, die unaussprechlich waren und mich eigentlich nur gelangweilt haben.

~ »Ja!« falle ich ihr ins Wort. »Er ist ein Lügner. Er hat mich achtundzwanzig Jahre belogen, wollen Sie das von mir hören? Aber die Alternative war die Wahrheit, und die will niemand hören.« ~
(S. 457)

Und zu guter Letzt muss ich noch erwähnen, dass es in dieser Geschichte auch um eine Dreiecksbeziehung geht. Interessanterweise lese ich in letzter Zeit viele Geschichten mit Dreiecksbeziehungen, aber diese hier ist mir irgendwie auf die Nerven gegangen. Eben, weil ich, wie oben schon erwähnt, die Handlungen so mancher Charaktere nicht nachvollziehen konnte, wegen deren fehlender Gefühle.

Alles in allem also eine kleine Enttäuschung für mich. Mein Gesamteindruck war allerdings gar nicht so negativ, wie man durch meine zahlreichen Kritikpunkte jetzt vermuten könnte, unbedingt weiterempfehlen möchte ich »Die Wahrheit meines Vaters« aber auch nicht.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Viele wichtige Lebensthemen auf engem Raum konzentriert

Du und ich und all die Jahre
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»Du und ich und all die Jahre« ist ein Roman, der rund um die Silvesternächte aufgebaut ist. Mit der Protagonistin Nicole konnte ich, als ich sie zu Beginn in einem der Gegenwart-Kapitel kennengelernt ...

»Du und ich und all die Jahre« ist ein Roman, der rund um die Silvesternächte aufgebaut ist. Mit der Protagonistin Nicole konnte ich, als ich sie zu Beginn in einem der Gegenwart-Kapitel kennengelernt habe, nicht wirklich viel anfangen. Sie erschien mir als erfolgreiche Fernsehreporterin nämlich erst sehr unglaubwürdig mit ihrer entscheidungsunfähigen Art und ihrer Unfähigkeit, sich in ihrem eigenen Haus gegen die Schwiegermutter zur Wehr zu setzen.

Kapitelweise springen wir in ein anderes Jahr, die Handlungen finden aber immer um Neujahr herum statt. Schnell bekommt man also auch einen ersten Eindruck von Nicole in ihrer Jugendzeit, wir lernen Julian kennen und erleben mit, wie sich aus einer anfänglichen Liebelei eine ganz besonders starke Freundschaft entwickelt. Am Anfang von fast jedem neuen Kapitel findet man zusätzlich auch immer eine kleine Liste mit 5 Neujahrsvorsätzen von Nicole. - Diese Vorsatzliste ist seit dem Beginn der Freundschaft zu Julian ein fixes Ritual zwischen den beiden.

~ »Es ist immer später, als man denkt.« ~
(S. 295)

Ich habe das Buch in einer Leserunde mit einer zweiten Bloggerin gelesen und uns beiden war durch die Gegenwart-Kapitel schnell klar, dass ein schlimmes Ereignis Nicoles Leben erschüttert haben muss und wir durch die Zeitsprünge in die Vergangenheit nur die wichtige Vorgeschichte erfahren.

Freundschaft spielt in diesem Buch eine sehr große Rolle, aber dieses Thema ist bei weitem nicht alles, worum es hier geht. Eine Liebesgeschichte darf natürlich auch nicht fehlen: eine Dreiecksgeschichte, versteht sich. Und die macht ihrem Namen alle Ehre! Es ist nicht nur Julians Name, der ständig fällt ... Eine Protagonistin, die zwischen zwei weiteren Männern steht - diese Konstellation, gepaart mit dem Umstand, dass die Gute ein ernsthaftes Entscheidungsproblem hat, bietet jede Menge fesselnden Lesestoff. Versprochen! ;)

~ »Eines Tages wirst du nein sagen müssen, Nic. Sonst wird er immer wieder auftauchen, dein Leben auf den Kopf stellen und anschließend wieder auf die Suche nach neuen Abenteuern gehen. Männer wie er halten es nicht lange an einem Ort aus, weißt du.« ~
(S. 146)

Neben den beiden großen Hauptthemen Freundschaft und Liebe, geht es aber auch noch um Betrug/Fremdgehen, also in weiterer Folge ums Verzeihen. Mehr kann ich dazu aber gar nicht mehr schreiben, denn damit würde ich ungewollt spoilern. Ebenso hat die Familie einen wichtigen Stellenwert in Nicoles Geschichte, allen voran ihr Vater, zu dem die Beziehung sehr kompliziert zu sein scheint. Und zu guter Letzt lässt sich auch noch der Tod blicken und die Akzeptanz desselben und die Trauerbewältigung, die damit automatisch einhergehen muss, bekommt auch seinen Platz.
Manch einer würde jetzt wahrscheinlich anmerken, dass das aber ganz schön viele wichtige Lebensthemen für nur 367 Seiten sind. Dazu muss ich allerdings sagen, dass ich nie das Gefühl hatte, dass eines dieser Themen nur angeschnitten oder zu kurz gekommen wäre. Die Autorin hat es in meinen Augen hervorragend hinbekommen, Nicoles wichtige Lebensereignisse ausreichend und in die Tiefe gehend zu erzählen bzw. zu bearbeiten.

Ein Buch, das mich mit ungeahnter Tiefgründigkeit überrascht hat und ich deswegen als sehr fesselnd und unterhaltend empfunden habe. Gerne eine Leseempfehlung dafür!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Eine ALLES verzeihende Liebe. - Gibt es die überhaupt?

Als wir uns sahen
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Mein allererster Eindruck von der Geschichte war: was Leichtes, Anspruchsloses für zwischendurch. Es kommt zwar alles etwas klischeehaft daher, aber lesbar ist es auf jeden Fall, da es doch irgendwie zu ...

Mein allererster Eindruck von der Geschichte war: was Leichtes, Anspruchsloses für zwischendurch. Es kommt zwar alles etwas klischeehaft daher, aber lesbar ist es auf jeden Fall, da es doch irgendwie zu fesseln vermag.

In der Hauptrolle ist ein junges Paar: Carly und ihr geliebter Gerrit. Carly ist diejenige, aus deren Sicht die Geschichte erzählt wird und es geht, wie man aus der Buchrückseite schon entnehmen kann, um deren Beziehung, um ihre scheinbar unerschütterliche Liebe, es geht um ihre Ehe. Aber das wäre doch irgendwie langweilig, wenn nicht irgendwas Verheerendes passieren würde, nicht? So auch hier: Einer der beiden macht einen Fehler, der plötzlich alles auf den Kopf stellt und die beiden Charaktere sich daraufhin fragen müssen, ob ihre Ehe in Anbetracht eines derartigen Ereignisses überhaupt noch zu retten ist ...

~ Endete unsere Beziehung genauso wie sie angefangen hatte, mit einem Blick aus dem Fenster? ~
(S. 157)

Von Anfang an fragt man sich als Leser, WAS denn so Schlimmes passiert sein könnte, dass eine so wunderbare Beziehung plötzlich auf der Kippe steht. Dieses große WAS steht ständig im Raum und lässt einen diese Geschichte eben gebannt verfolgen. Ist den beiden etwas Schlimmes widerfahren, oder hat einer der beiden sich einen Fehler erlaubt, der nicht mehr wieder gutzumachen ist? - All das erfährt man erst nach und nach, aber erst wird uns hier die scheinbar sehr harmonische und liebevolle Beziehung von Carly und Gerrit präsentiert, beginnend bei ihrem magischen Kennenlernen im Jugendalter, bis hin zu ihrer ersten gemeinsamen Bleibe und der anschließenden Hochzeit in ihren frühen Zwanzigern. Und all die Harmonie und Perfektion in ihrer Beziehung ist mir als Leserin teilweise so unwirklich und kitschig vorgekommen - eben wie es nur in Filmen oder Büchern Realität ist. Dass dann tatsächlich mal etwas geschieht, dass diese ganze Eintracht zunichte macht, war schon fast erleichternd für mich, denn immer dieses "Friede, Freude, Eierkuchen" erscheint mir nicht sehr authentisch.

Was ich dann aber wirklich nicht erwartet habe, war DIESES tragische Ereignis, das einer der beiden hervorgerufen hat ... Ich konnte das Verhalten des Charakters, den es betrifft, nicht nachvollziehen - schon gar nicht, wenn man einen Ehepartner hat, der alles für einen bedeutet.

~ Zuerst konnte Gerrit mir nicht folgen. Seine Stirn lag in Falten, während er versuchte, sich aus meinem Gestottere einen Reim zu machen.
Doch dann, als ihm langsam klar wurde, was ich da sagte, entglitten ihm alle Gesichtszüge. ~

(S. 124)

Ob mir diese Enthüllung besagten Protagonisten nun unsympathischer gemacht hat, kann ich gar nicht sagen. Jedenfalls habe ich einen besseren Zugang zu ihm bekommen, denn das zeigt einem, dass wir alle nur Menschen sind, die auch mal Fehler machen. Und das ist auch die Hauptthematik in dieser Geschichte: wir sind alle nur Menschen und keine Übergötter, wir machen Fehler, wir handeln nicht immer richtig. Wichtig daran ist, dass man etwas daraus lernt und es einem leid tut. Und dass dem Charakter in diesem Buch sein Fehler aufrichtig leid tut, war deutlich zu erkennen. Danach ist es wichtig, die Größe zu besitzen, um zu vergeben - und das schafft wahrlich nicht jeder!

Wenn ihr nun neugierig geworden seid, ob wahre Liebe und das Füreinander-bestimmt-sein in Carlys und Gerrits Fall tatsächlich eines Tages alles wieder gutmachen kann, solltet ihr euch »Als wir uns sahen« auf keinen Fall entgehen lassen. Ich empfand die Geschichte mit der darin enthaltenen Frage »Kann die Liebe alles verzeihen?« nämlich als wirklich sehr lesenswert und sie hat mich selbst auch ein wenig zum Philosophieren gebracht.

Veröffentlicht am 15.09.2016

»Nur gemeinsam können wir die Einsamkeit besiegen.«

Vom Ende der Einsamkeit
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Nach dem Zuklappen des Buches bleibt ein überwältigendes Gefühl zurück ... Ich bin überwältigt von all den tiefsinnigen Gedanken darin, von der Sprache, die von einer zarten Melancholie geprägt ist und ...

Nach dem Zuklappen des Buches bleibt ein überwältigendes Gefühl zurück ... Ich bin überwältigt von all den tiefsinnigen Gedanken darin, von der Sprache, die von einer zarten Melancholie geprägt ist und von den bewegenden Schicksalsschlägen der Protagonisten.
»Vom Ende der Einsamkeit« ist nach »Fast genial« mein zweites Buch von Benedict Wells, aber das erste von ihm, das von mir den Lieblingsbuch-Status erhält.

~ Was sorgt dafür, dass ein Leben wird, wie es wird? ~
(S. 11)

Jules Moreau erzählt hierin die Geschichte seines Lebens mit all seinen Höhen und Tiefen und den Erkenntnissen, die er daraus zieht. Angefangen bei seiner Kindheit, seinen Eltern und dem schrecklichen Unfall, bei dem sie zu Tode kommen. Jules erzählt, was dieser Schicksalsschlag mit ihm und seinen beiden Geschwistern Marty und Liz angerichtet hat ...

Jules ist ein Träumer, leidenschaftlicher Koch und fotografiert gerne. Aber vor allem - und das ist seine größte Leidenschaft - schreibt er unheimlich gerne (und gut). Die Einsamkeit und das Alleinsein spielt in seinem Leben seit dem Tod der Eltern eine sehr große Rolle. Auch Alva, ein Mädchen mit roten Haaren, das er ›danach‹ in der Schule kennenlernt, nimmt Raum in Jules Leben und Gedankenwelt ein. Mit Alva entwickelt sich eine der schönsten, aber auch tragischsten Liebesgeschichten, die ich jemals gelesen habe ...

~ Zu Hause erwartete mich Stille, ein mir seit Jahren vertrautes Geräusch. Doch wie sehr war mir diese Einsiedlerexistenz inzwischen zuwider, diese Unfähigkeit, am Leben teilzunehmen. Immer nur geträumt, nie wirklich wach gewesen. Sieh dich an, dachte ich, was sehnst du dich in Gesellschaft so oft danach, allein zu sein, wenn du das Alleinsein kaum noch aushältst? ~
(S. 162/163)

Sich mit der Endlichkeit des Lebens auseinandersetzen, das ist es, was Jules in seinem Leben tun muss. Erkenntnisse, wie dass im Leben nicht immer alles gerecht abläuft oder dass man sein eigenes Dasein/seine Gedanken und Handlungen selbst in der Hand hat, sprich, dass man selber dafür verantwortlich ist, was für ein Leben man führen möchte, sind ebenfalls Dinge, die Jules im Laufe der Zeit zu verstehen beginnt und annimmt.
Jules hat wirklich kein leichtes Leben gehabt, umso interessanter fand ich seine Entwicklung, die durch seine Erzählungen der Vergangenheit gut zu verfolgen war. Er macht sich oft Gedanken über die Zeit, Erinnerungen und die Vergangenheit - das Buch hat für mich also sehr viele zum philosophieren einladende Fragen bereitgehalten, die das Ganze zu einem Lesegenuss der besonderen Art gemacht haben.

~ Das Leben ist kein Nullsummenspiel. Es schuldet einem nichts, und die Dinge passieren, wie sie passieren. Manchmal gerecht, so dass alles einen Sinn ergibt, manchmal so ungerecht, dass man an allem zweifelt. ~
(S. 299)

Ich mochte an dieser Geschichte einfach alles: die Sprache, die Protagonisten, den Verlauf, die Tiefgründigkeit, die Tragik und vor allem wie all das enorm bewegende Gefühle in mir hervorrufen konnte.
Wer Bücher mit Tiefgang mag und einer flüssig-fesselnden Geschichte mit viel Liebe und Tragik nicht widerstehen kann, sollte UNBEDINGT zu »Vom Ende der Einsamkeit« greifen. Ich war und bin nach wie vor ziemlich ergriffen davon!

Veröffentlicht am 15.09.2016

Er war nicht mehr da, aber er war nicht verschwunden.

Süden und der glückliche Winkel
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Von Anfang an macht Süden ein Geheimnis daraus: er könne es niemandem erzählen, warum Cölestin Korbinian tagelang unauffindbar war. Diese Geheimniskrämerei macht den Leser natürlich erst mal sehr neugierig ...

Von Anfang an macht Süden ein Geheimnis daraus: er könne es niemandem erzählen, warum Cölestin Korbinian tagelang unauffindbar war. Diese Geheimniskrämerei macht den Leser natürlich erst mal sehr neugierig auf die Motive des untergetauchten Postangestellten. Eigenartig ist auch, dass Korbinian Süden nach seinem Auftauchen gesagt hat, »er sei nicht dazu gekommen«, sich in dem einen Monat bei seiner Frau, die ihn vermisst gemeldet hat, zu melden, dann aber auch nicht damit gerechnet hat, dass diese die Polizei informieren könnte, und dann vor Süden zusätzlich noch auf »alles okay und ganz normal« tut. - Eine sehr rätselhafte Einleitung jedenfalls!

~ Wie ist jemand, der wie immer ist? Wann fängt das »immer« an? Mit dem ersten Kuss? Mit der Hochzeit? Mit dem Eintritt ins Berufsleben? Mit dem dreißigsten Geburtstag? Und endet es mit einer neuen Frisur? Mit einer heimlichen Geliebten? Mit dem Tod der Partnerin? Mit dem eigenen Tod? Und was wäre dann am offenen Grab zu sagen? Er lebte wie immer und starb ganz anders? ~
(S. 14/15)

So erzählt Süden nun also nach und nach, wie seine Ermittlungen verlaufen sind, mit wem er gesprochen hat und was er alles ausprobiert hat, um auf eine Spur von Cölestin zu kommen. Vor allem erfahren wir währenddessen viel über das Wesen von Cölestin, um uns besser in ihn hineinversetzen zu können. Wenn ich ihn kurz mit ein paar Worten beschreiben müsste, würde das so ausfallen: Er war wie immer. - Sein bisheriges Leben wirkte auf mich so langweilig, sein Alltag so belanglos. Ein ganz und gar unaufgeregter Typ Mann, der alles wie immer gemacht hat. Sein plötzliches Verschwinden wirkte wie ein Ausbrechen und war für Cölestin so abnormal, dass es als wirklich besorgniserregend galt. Dann fand Süden Tatsachen heraus, die man von dem Postler niemals erwartet hätte: unter anderem hat das mit zwei Frauen zu tun, einem alten blinden Hund, den Süden sogar spontan in die Ermittlungen miteinbezogen hat und nicht zuletzt spielt noch eine Kunstausstellung, genauer gesagt die Gemälde von Spitzweg eine tragende Rolle in der ganzen Geschichte.

~ »Der Cölestin braucht immer ewig, bis der was verändert.« ~
(S. 40)

Das Innenleben von Süden und seinem besten Freund und Kollegen Martin Heuer nehmen in diesem Buch auch wieder einen wesentlichen Raum ein. Ganz besonders Martin fällt hier auf: seine zunehmende Veränderung ins Negative. Man merkt deutlich seine depressiven Anwandlungen, sein verwahrlostes Aussehen, seinen schlechten körperlichen Zustand, seinen Alkoholkonsum. Man sorgt sich um ihn - nicht nur ich, sondern auch Süden tut das. Aber Martin ist ein harter Brocken ...

Süden und Martin sind sich eigentlich recht ähnlich: Zwei Männer jenseits der 40, wortkarg und ein eigensinniges Verhalten an den Tag legend. Je mehr man die beiden von Buch zu Buch kennenlernt, wird einem klar, dass sie eigentlich voller Sehnsucht sind. Einer Sehnsucht nach einem freien, einmaligen Leben, in dem sie nichts tun müssen, was von ihnen erwartet wird, in dem sie leibhaftige und lebhafte Wesen sein können, die sich nicht einfangen, einengen und am Ende töten lassen.
Irgendwann in jungen Jahren hatten sie den Zeitpunkt verpasst, sich für das »wirkliche« Leben zu entscheiden und sind Polizeibeamte geworden ... Und Süden, der kommt scheinbar besser damit klar, als sein bester Freund Martin ...

~ »Für einen Polizisten sind Sie auf jeden Fall reichlich normal.«
»Ich bin nicht normal«, sagte ich. »Fragen Sie meinen Vorgesetzten.« ~

(S. 147)

Ani schreibt seine Geschichten immer recht melancholisch und trüb. Süden ist Einzelgänger, ein Beobachter, jemand, der nicht wertet und lieber zu verstehen versucht. In gewisser Weise hat er auch Ähnlichkeit mit dem verschwundenen Cölestin, der ebenso sehr von einem Alleinsein erfasst ist, wie unser einfühlsamer Vermisstenfahnder.

Besonders spektakulär ist und endet dieser Fall zwar nicht, aber er erzählt eine teilweise sehr schöne poetische Geschichte von Stille, Einsamkeit und Anderssein, die es für aufmerksame Leser herauszulesen gilt.
Ich mochte das Ende sehr gerne. Auch wenn man nicht mehr explizit erfährt, warum Süden über das Verschwinden Cölestins nichts verraten kann, wusste ich dennoch irgendwie, warum: möglicherweise, weil es niemand nachvollziehen hätte können, warum Cölestin in seinem Winkel der Einsamkeit glücklich ist.

~ »Ich hatt den Eindruck, Cölestin wollt mit jemand reden, er hat gesagt, er geht jede Woche in die Spitzwegausstellung, und das wär für ihn wie nach Hause kommen. « ~
(S. 151)