Emotionale Achterbahnfahrt, düster, spannend, atmosphärisch
Morgan`s HallEindrücke in Kürze: Offener Auftakt zu einer Familiensaga, verortet im ländlichen, gehobenen US-Bürgertum von 1937 bis 1956. Belletristik für Erwachsene, bei der intensive - überwiegend negative - Gefühlslagen ...
Eindrücke in Kürze: Offener Auftakt zu einer Familiensaga, verortet im ländlichen, gehobenen US-Bürgertum von 1937 bis 1956. Belletristik für Erwachsene, bei der intensive - überwiegend negative - Gefühlslagen und zwischenmenschliche Beziehungen im Mittelpunkt stehen. Weniger politisch als erwartet. Wirtschaft spielt bis dato eine untergeordnete Rolle. Indianische Mystik als Herausstellungsmerkmal. Ein fantastisches Erstlingswerk, inhaltlich packend, stilistisch überzeugend.
Ausführliche Einschätzungen, ohne schlimme Spoiler:
Zum Erzählstil:
Die Kapitel haben mit jeweils ca. 10 Minuten eine ideale Länge. Gut für Verständnis und Überblick ist, dass es Kapitelüberschriften gibt und Ort und Datum genannt sind.
Erzählt wird in der Vergangenheits- und Er-/Sie-Form, aus der Perspektive der jungen Erwachsenen John und Isabelle sowie Dickie und weniger weiterer Personen, jederzeit eindeutig identifizierbar, unterstützt durch die Wiedergabe einiger Briefe. Alles ganz nach meinem Geschmack.
Zu Figuren:
Die Autorin widmet sich viel den Beobachtungen, Beurteilungen und Gefühlslagen ihrer Hauptfiguren. Wenn auch in der äußeren Erscheinung klischeebehaftet, empfinde ich diese als tiefgründige und komplexe Charaktere. Keine strahlenden Helden, sondern polarisierend. Obwohl sogar über weite Strecken unsympathisch wirkend, konnte ich schon nach wenigen Seiten fantastisch mitleiden, mitjubeln, hoffen, mich aufregen. War es für euch auch ein Wow-Erlebnis, als ihr bei Game of Thrones über euch selbst erstaunt wart, als ihr Sympathien für Jamie Lannister entwickelt habt? Ähnlich erging es mir hier. Die Authentizität ermöglichte mir eine (wenn auch teils schmerzhafte) Nachvollziehbarkeit ihres Handelns, sodass bei mir das volle Paket an Emotionen freigesetzt wurde, inklusive interessanter Wendungen und Überraschungen.
Auch einige Nebenfiguren sind schwer durchschaubar und damit gut gelungen.
Erfrischenderweise wird man oft animiert, über Haltungen und Motive zu rätseln und seine eigene Meinung zu hinterfragen.
Zur Handlung und historischen Bezügen; Vergleiche:
Emotionale Belletristik, in deren Mittelpunkt die Liebe steht. Wahre Liebe, Begehren, Freundschaft, Liebe zur Heimat und zur Natur. Und Ergebnisse unerwiderter Gefühle: Streit, Hass, Selbsthass, Täuschung, Eifersucht, Manipulation, Einsamkeit, Depression, Zorn, Rache. Und Hoffnung.
Ich möchte nicht spoilern, der Klappentext verrät ohnehin etwas zu viel für meinen Geschmack.
Besser nicht zu viel Erkenntniszuwachs und historische Bezüge erwarten.
Einige in Wien verortete Tage (u. a. Erstarkung Hitlers in Österreich 1938) empfand ich als informativ, sehr eindringlich und atmosphärisch, sodass Eindrücke hängenbleiben.
Die meiste Handlung spielt aber tatsächlich auf dem Landgut Morgan’s Hall in den USA, wo man nebenher interessante Eindrücke zur Lebensart, zu Rollenbildern von Mann und Frau sowie Hausbediensteten sammelt. Religion sowie politische, wirtschaftliche, soziale, gesellschaftliche Entwicklungen werden genannt, nehmen aber bis dato nur eine untergeordnete Rolle ein.
Ich hatte aufgrund des Klappentextes ursprünglich die Sorge gehabt, dass mich Darstellungen zur Verarbeitung von Äpfeln, zum Vertrieb der Erzeugnisse und zur Verwaltung alldessen ermüden könnten. Stattdessen finde ich es schade, dass das Führen des Familienbetriebs in nur wenigen Sätzen abgehandelt wurde. Wie Johns Alltag aussieht, blieb mir schleierhaft. Bei der Clifton-Saga, Buddenbrooks oder Winzer-Dilogie nehmen solche Aspekte mehr Raum ein.
Da Familiendramen im Auftaktband packend dargestellt sind, auf Dauer aber langweilen können, würde ich mich über eine tiefergehende Betrachtung von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft in Folgebänden freuen.
Vielversprechend: Die Autorin hat Nebenschauplätze mit Potenzial für Folgebände positioniert, z. B. eine generationenübergreifende Fehde zweier Familien und das unbedingte Festhalten an Traditionen.
Dass indianische Mythen - unterschwellig und zum Ende hin deutlicher - eine Rolle spielen, verleiht eine faszinierende Exotik. Neben wohltuenden Eindrücken, die Liebe zu Landschaft und Natur ausdrücken, zudem ein angenehmer Ruhepol.
Eine stimmige Prise Erotik ist beinhaltet.
Vergleichbar mit der Hansen-Saga von Ellin Carsta, etwas düsterer, weniger kitschig.
Eigenständig lesbar?
Nein. Es handelt sich um den Auftakt zu einer mindestens 4-teiligen Saga, die zusammenhängend gelesen werden muss. Ein abgerundetes Ende hätte ich gegenüber dem hier vorliegenden Cliffhanger bevorzugt. Immerhin werden einige Rätsel gelöst.
Ich habe ein großartiges Wechselbad der Gefühle mitgemacht, schließe - obwohl negative Stimmung den Roman dominiert - mit positivem Gefühl ab und freue mich auf Band 2, angekündigt für Frühjahr 2019.