Einblicke in die Zeit um 1900 - unterhaltsam, realistisch, atmosphärisch
Die Zeit der WinzerinIch habe Band 1 nicht gelesen, konnte mir aber die Verwandtschaftsverhältnisse und die Vorgeschichte zu den Familien und ihren Weingütern durch aufmerksames Lesen aneignen. Spätestens ab der Hälfte habe ...
Ich habe Band 1 nicht gelesen, konnte mir aber die Verwandtschaftsverhältnisse und die Vorgeschichte zu den Familien und ihren Weingütern durch aufmerksames Lesen aneignen. Spätestens ab der Hälfte habe ich keine Informationsdefizite mehr gespürt.
In der Handlung werden Schicksalsschläge und Missstände aufgegriffen, die heute noch in dieser oder ähnlicher Form auftreten können. Als Leser teilt man Momente der Verletzlichkeit und des Zweifels, welche alle vier Figuren, in deren Perspektive man schlüpft, nahbar und sympathisch machen.
In Bezug auf Spannung und Emotionen hat mich Linnette am meisten erreicht.
Stilistisch ist gut erkennbar, wo ein Perspektivwechsel stattfindet. Kapitelüberschriften mit Monats- und Jahresangabe und teilweise Ortsangabe unterstützen dabei, den Überblick zu behalten.
Die Begleitung von Sara und Philippe macht erwartungsgemäß den Mammutanteil aus. Die Liebesbeziehung wird nach meiner Einschätzung realistisch geschildert: Das sexuelle Knistern wird deutlich, ohne explizit zu werden, es gibt ein kleines bisschen Romantik, wird dabei nie kitschig. Ansonsten ist folgendes Zitat Programm: „Ich bin in erster Linie eine Winzerin – Ehefrau und Mutter an zweiter Stelle.“ Der neun Jahre ältere Philippe muss seinen Mann stehen und hat es insbesondere für die damalige Zeit mit einer sehr resoluten Frau zu tun. Dementsprechend nehmen unterschiedliche Meinungen und Wertvorstellungen und daraus resultierende Reibungspunkte in der Interaktion viel Raum ein. Einerseits habe ich die Dramatik, den „Pfeffer“ gemocht, umso mehr weil sich Hintergründe veränderten. Andererseits zeigt sich Sara so stur, dass ich mich mit ihr einfach nicht identifizieren konnte.
Spoiler-Anfang Ich habe es den Hauptfiguren z. B. übel genommen, dass die Operation des Kindes auf ihrer Prioritätenliste so weit unten fungierte. Immerhin ist es nicht nur ein optischer Makel, der zu Ausgrenzung durch intolerante Menschen führt, sondern macht obendrein krankheitsanfällig und ist ein Hemmnis beim Essen und bei der Sprachentwicklung. Liebe und Sorge werden benannt, eine ärztliche Untersuchung oder das Sparen für eine Operation erhalten aber jahrelang keine Erwähnung. Spoiler-Ende
Die zigfachen familiären Verstrickungen und zufälligen Begegnungen könnten Kritiker als konstruiert bezeichnen, während Fans von Schicksalhaftigkeit sprechen. Mich hat‘s jedenfalls nicht gestört.
Die Nebenfiguren sind interessant. Das Schwarz-Weiß-Schema wird nicht überstrapaziert, denn einige konnten mich in ihrer Entwicklung überraschen.
Die Beschreibungen versprühen Atmosphäre. Ich konnte mir die Landschaften gut vorstellen und habe auch Saras Passion zu ihren Weinreben, Weinanbau, -produktion und -verkauf als authentisch wahrgenommen. Es wird deutlich, dass die Autorin Expertenrat hinzugezogen hat und mit Leidenschaft schreibt.
Wer sich für Wein überhaupt nicht interessiert, könnte von solchen Passagen genervt sein, zu dieser Gruppe zähle ich aber nicht. Die Sorge um Ertrag und Absatzmarkt war auch sehr interessant und es finden sich stets Parallelen zur heutigen Zeit.
Erfreulicherweise habe ich viel zur Lebenswirklichkeit und dominierenden gesellschaftlichen Strömungen (z. B. Frauenbewegung, Prohibitionsbewegung) um 1900 wahrgenommen und im Gedächtnis abgespeichert. Toll auch, ein paar Einblicke in den damaligen Stand der Chirurgie zu bekommen. Der Erkenntnisgewinn gestaltet sich nicht so tiefgreifend wie z. B. in „Sturz der Titanen (Jahrhundert-Trilogie, Band 1)“, aber diesen Anspruch hatte ich auch nicht.
Das Ende ist nochmal dramatisch, schlägt einen schönen Bogen zu den Anfängen und schließt die Dilogie würdig ab.
Lob und Dank dafür, dass im Anhang auf im Roman vorkommende historische Persönlichkeiten und geschichtliche Ereignisse eingegangen wird und weiterführende Fachliteratur angeführt wird.
Die Übersetzung hat mir sprachlich gefallen und weist nur ganz wenige Fehler auf.
Das Werk wirkt realistisch, hat mich gut unterhalten und obendrein einen kleinen Lerneffekt erzielt. 4 von 5 Sternen, weil mich ganz persönlich andere Bücher mit Innovativem noch mehr fasziniert, mit ihren Figuren noch mehr berührt, mit Wendungen noch mehr überrascht, belustigt oder in Spannung versetzt haben.