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Veröffentlicht am 26.08.2023

Eine glaubhafte Familiengeschichte

Bei euch ist es immer so unheimlich still
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Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt ...

Ich hatte mir dieses Buch ausgewählt, weil ich bereits "Junge Frau, am Fenster stehend, Abendlicht, blaues Kleid" gelesen hatte und mir der Schreibstil von Alena Schröder sehr gut gefiel.
Nun also schreibt sie einen Roman mit gänzlich anderen Vorzeichen: Erzählt wird eine glaubhafte, beinahe doch unglaubliche Familiengeschichte, sehr empathisch und mitreißend. Der Leser hat beinahe das Gefühl, selbst im Uraltauto der Protagonistin Silvia zu sitzen, bloß weg aus Berlin, bloß weg von der WG, bloß weg von den Männern. Und das mit der Aussicht, ihr Baby der ahnungslosen Großmutter zu präsentieren und möglichst für sich und das Kind einen Unterschlupf zu finden. Dass da zuerst im provinziellen Heimatort nicht gerade die Empfangsfanfaren geblasen werden, kann man sich gut vorstellen. Die plötzliche Großmutter Evelyn hat auch ihr Päckchen zu tragen und es dauert eine Weile, bis sich Mutter und Tochter einander annähern. Dass das süße Baby Hannah daran auch seinen Anteil hat, kann der Leser live miterleben.
Natürlich geht auch dieser Roman in der Handlung rückwärts und vorwärts, in Berlin fällt die Mauer und es ereignen sich einige unerwartete Dinge, die Silvia an ihrer Entscheidung, zur Mutter zu ziehen doch manchmal zweifeln lassen.
Mir hat dieses Buch ausnehmend gut gefallen und es hat mich gut unterhalten. Das Cover ist wunderschön und verleitet sofort zum Kaufen. Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 26.08.2023

Ein „normales“ Schicksal, das einzigartig erzählt wird

Aenne und ihre Brüder
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Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.

Er nimmt sich der Lebensgeschichte ...

Reinhold Beckmann ist ein Journalist und Musiker, der sein angeborenes Talent zum Geschichten- und Geschichte erzählen in diesem Buch auf hervorragende Weise zum Ausdruck bringt.

Er nimmt sich der Lebensgeschichte seiner Mutter und ihrer Brüder und Schwester mit großer Herzenswärme an, um dieses persönliche Schicksal herum gelingt ihm eine komprimierte Abhandlung über das Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg bis hin zur Nachkriegszeit. Gut lesbarer Geschichtsunterricht, der an viele Ereignisse erinnert, die mir natürlich bekannt sind, die sich aber gut in diesen privaten Rahmen fügen. Gerade auch die regionalen Ereignisse, die mir nicht geläufig waren, sind eine interessante Ergänzung von Aennes Geschichte.
Der kleine katholische Ort Wellingholzhausen wird sehr anschaulich beschrieben, wie auch seine Bewohner und die knorrige Lebensart, die sich auch in einem schwer verständlichen Dialekt ausdrückt. Zum Glück ahnt Beckmann, dass nicht alle Leser den sofort verstehen und schiebt immer wieder Erklärungen oder Übersetzungen nach.

Mein etwas ambivalentes Verhältnis zum Leben und Erleben der deutschen Bevölkerung insbesondere nach der Machtergreifung und in Bezug auf den Holocaust und die Verfolgung Andersdenkender macht mir trotzdem manchmal das Lesen etwas schwer. Mein Vater z. B. war 10 Jahre Häftling in Hitlers Zuchthäusern, zufällig von 1936 bis 1939 im Moorlager Aschendorfer Moor, das Beckmann beschreibt, als Bischof Berning dort einen „Besuch“ mit Ansprache macht. In meiner Familie sind weit über 100 Menschen, auch mein Großvater, dem Holocaust zum Opfer gefallen, meine Mutter wurde als „Mischling“ beschimpft. Sehr unterschiedlich die Lebenswege von ihr und Aennes Bruder Willi, beide 1927 geboren. Wenn ich bei Beckmann dann von den Menschen lese, die doch fanden, dass der Hitler vieles gut gemacht hat, ihnen Arbeit gegeben hat, ihren Wohlstand verbesserte und dass Beckmanns Vater auch noch nach dem Krieg diese These vertrat, fühlt sich das nicht gut an. Andererseits ist auch mein Onkel vor Stalingrad gefallen (sein Name ist wie der von Alfons auf einem Gedenkstein eingemeißelt), meine Großmutter väterlicherseits bekam das Goldene Mutterkreuz, meine Großeltern wurden in Duisburg ausgebombt bzw. meine Großmutter vertrieben. Diese Ambivalenz lässt sich nicht einfach verdrängen. Das Buch von Beckmann ließ mich lange darüber nachdenken, weil es einfach nicht möglich ist, sich aus der heutigen Position in die Lage der Menschen zu versetzen, die Hitler an die Macht kommen, ihn seine Macht bis zum bitteren Ende auskosten ließen. Auch diese Menschen haben teuer bezahlt.

Aenne hat das Pech, als Mädchen auf dem Lande aufzuwachsen, ohne jede Hoffnung, dem dort normalen Lebensweg entgehen zu können. Keine höhere Schulbildung, keine Berufsausbildung, dafür aber eine recht herrische Stiefmutter und dann nach der Schulzeit „in Stellung“ bei Bauern. Kein Zuckerschlecken für eine Vierzehnjährige. Aber sie entzieht sich dem Diktat der Stiefeltern und beginnt mit 18 Jahren tatsächlich einen neuen Lebensabschnitt, zumindest einige Kilometer von ihrem Zuhause entfernt. Aber da beginnen auch schon die letzten Kriegsvorbereitungen, der Stiefvater wird eingezogen, die drei älteren Brüder ziehen einer nach dem anderen in den Krieg.

Schon der Klappentext nimmt den Verlauf von Aennes Lebensgeschichte vorweg, die Brüder fallen alle vier. Und doch hat Aenne nicht der Lebensmut verlassen. Dass sie später ihrem Sohn von ihrer Kindheit und Jugend, der Familie, den Geschwistern und Stiefeltern so ausführlich berichtet, ist eine echte Seltenheit. Reinhold Beckmann packt die Gelegenheit beim Schopf, als er von seiner sterbenden Mutter dann die Feldpostbriefe der Brüder erhält. Diese tragischen Zeugnisse des unsinnigen Sterbens einer ganzen Generation sind kaum zu ertragen. Furchtbar sind die Gewissheiten wie die Ungewissheiten.

Beckmann startet mit dem Schreiben zwei Tage vor Beginn der russischen Invasion in die Ukraine. Auf Seite 208 wird in einer Divisionschronik (Alfons‘ 60. Infanteriedivision) von dem Schrecken berichtet, „dass die russische Führung keinerlei Scheu vor den größten Menschenopfern hat. (…) Der Wert eines Menschen spielt nicht die geringste Rolle, …“ Ich sehe beim derzeitigen Krieg, den Russland gegen die Ukraine führt, keinerlei Unterschiede zur stalinistischen Einstellung im Zweiten Weltkrieg. Russland hat eben immer noch ein riesiges Potential an „Menschenmaterial“, wenn die Waffen nicht mehr reichen, schicken sie eben noch mehr Soldaten. Dieses Wissen ist entsetzlich. In seiner Jugend war Beckmann Wehrdienstverweigerer, leider schreibt er nicht, wie er jetzt angesichts dieses nun schon 1 ½ Jahre dauernden brutalen Kriegs zum Pazifismus steht.

Noch einige Bemerkungen zu Schutzumschlag und Typographie. Der Umschlag im schlichten Grau, die Fotos prägend für das Buch. Hier sieht man sie sofort, die Aenne und ihre vier Brüder, Briefe dezent im Hintergrund. Die Rückseite ergreifend mit dem Mutter-und-Sohn-Foto, die Texte gut lesbar. Innen beginnt das Buch mit einem Vorsatz, der Abbildungen der Briefe und Briefumschläge als Collage zeigt, der Nachsatz ist ähnlich gestaltet. Beides nicht schwarz-weiß, sondern in Farbe. Sehr ansprechend, guter Ein- und Ausstieg. Der Buchblock in einem leicht cremefarbigen Papier, das mir wesentlich besser gefällt, als es bei strahlendem Weiß der Fall wäre. Das rote Kapitalband korrespondiert gut mit der teilweise roten Schrift auf dem Umschlag. Ein rotes Lesebändchen wäre ein Sahnehäubchen. Schrift und Satzspiegel sehr klassisch gediegen, was mir besonders auffiel, war die Registerhaltung, alle Zeilen im Schön- und Widerdruck exakt ausgerichtet. Die filigrane Grundschrift für mich als Brillenträger gerade groß genug, den kursiven Text der Briefe und Zitate empfand ich jedoch als zu klein. Ein Punkt mehr für diese Abschnitte hätte bei gleichem Durchschuss auch die Registerhaltung nicht beeinflusst, das Lesen aber komfortabler gemacht. Etwas störend empfand ich das Durchscheinen der im Text gestreuten Fotos, auch der Text scheint etwas durch. Etwas dickeres Papier würde das verhindern, aber das Buch auch dicker und schwerer, wahrscheinlich auch teurer machen. Also aus meiner Sicht ein guter Kompromiss. Der Extrafototeil auf mattem Kunstdruckpapier wiederum passt sehr gut; es ist sehr berührend, die Menschen zu sehen, von denen so intensiv erzählt wird.

Fazit: Beckmann macht aus der Geschichte seiner Mutter und den Briefen ein absolut faszinierendes Buch, es liest sich wunderbar, der Schreibstil hat nichts „Journalistisches“, es ist wie ein Roman, der mit Briefen und historischen Informationen (die überhaupt nicht trocken daherkommen) erweitert wird. Ich empfinde dieses Buch als eine große Bereicherung und als ein absolutes Antikriegsbuch, das gut neben Remarques „Im Westen nichts Neues“ seinen Platz finden kann. Mir hat die Art des Schreibens sehr gefallen. Das Lied für die vier Brüder setzt einen emotionalen Schlusspunkt, man sollte es sich unbedingt anhören. Das schön gestaltete Buch verdient zudem mindestens einen der von mir vergebenen fünf Sterne.

Absolute Leseempfehlung!

***** 5 Sterne
25.8.23

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Veröffentlicht am 14.08.2023

Schriftstellerikone Brigitte Reimann aus der Sicht eines Literaturprofessors

Ich bin so gierig nach Leben – Brigitte Reimann
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Carsten Gansel ist ein profunder Kenner der Literatur, ein Literaturwissenschaftler, der sich der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann annimmt, und dies sehr detailverliebt.
Brigitte Reimann hätte in ...

Carsten Gansel ist ein profunder Kenner der Literatur, ein Literaturwissenschaftler, der sich der DDR-Schriftstellerin Brigitte Reimann annimmt, und dies sehr detailverliebt.
Brigitte Reimann hätte in diesem Jahr ihren 90. Geburtstag feiern können, wäre sie nicht vor 50 Jahre viel zu früh an Krebs verstorben. Also 2023 gleich zwei Jubiläen, guter Grund, ihr endlich eine Biografie zu widmen. Carsten Gansel scheint für diese Aufgabe prädestiniert, er verknüpft die Lebens- und Schaffensgeschichte mit viele anderen Schriftstellern und Zeitgenossen, mit denen die Reimann früher oder später Kontakt und mehr hatte. Unzählige Zitate bereichern das Buch, machen es aber auch sehr umfangreich. Das trifft auch auf die historischen Betrachtungen zu, die Gansel in aller Ausführlichkeit um die teilweise dünneren Faktenlagen in Bezug auf die Reimann herumdrapiert.
Ich habe 1975 im Verlag Neues Leben gearbeitet, der „Geist“ von Brigitte Reimann war damals noch in jedem Flur zu spüren und in so manchem Büro, gerade war der Roman „Franziska Linkerhand“ verlegt worden, es hat eine Schaffenszeit von rund 10 Jahren bis zu ihrem Tod, und sammelt Lob ein, Nachauflagen wurden gestartet, sonst in der Menge eher ungewöhnlich. Und immer wieder ein „Hier habe ich mit Brigitte gesessen, hier haben wir diskutiert…“ Auch zwei Jahre nach ihrem Tod war sie fast noch lebendig, Walter Lewerenz war im Verlag ihr größter Verehrer, der Typograf Leipold mindestens der zweitgrößte. Dass nun seit Jahren der Aufbauverlag das Erbe der Reimann wiederbelebt, ist für mich Ausdruck hoher Wertschätzung.
In den letzten Jahren erschienen, teils in Neubearbeitung, ihre Tagebücher, sie bieten einen wunderbaren, authentischen Einblick in dieses unglücklich-glückliche Künstlerleben. Ich habe die Bücher und Hörbücher gleichermaßen geliebt. Nun, beim Lesen der Biografie, fühlte ich mich überschüttet mit so vielen Einzelheiten, dass mir die Lesefreude an mancher Stelle doch genommen wurde. Vielleicht liegt das aber auch daran, dass ich Details aus dem Leben der Brigitte Reimann doch schon kannte. Mit einem unvoreingenommenen Blick hätte mir das Buch wahrscheinlich besser gefallen.
Auch wenn über Brigitte Reimann meist, nicht nur hier, viel Lob ausgeschüttet wird, sollte man nicht vergessen, sie war eine Schriftstellerin in der DDR. Sie war Zwängen unterworfen, die sich auch auf ihre Werke auswirkten. Sicher hat sie immer wieder angeeckt mit ihrer Art, aber sie hat sich auch angepasst und die oktroyierten Prinzipien in ihren Werken beachtet. „Die Arbeiterklasse“ war das Maß aller Dinge, auch wenn die Reimann einen sehr kritischen Blick hatte, musste oder wollte sie das nicht verleugnen. Mit einigen Wortbeiträgen hätte sie der Aktuellen Kamera, der DDR-Nachrichtensendung, gut zu Gesicht gestanden. Andererseits distanziert sie sich zunehmend von eben jenem Bitterfelder Weg, der der schreibenden Arbeiter- und Bauernzunft als Orientierung dienen sollte.
Im Laufe der 1960er Jahre verschärft sich der Ton, es weht den Schriftstellern ein rauer Wind des sozialistischen Vaterlands entgegen, Brigitte Reimann gerät mehr als einmal zwischen die Stühle. Dass sie und wohl auch ihre jeweiligen Ehemänner in den Fokus und in die Hand der Staatssicherheit gerieten, wundert da nun wirklich nicht. Brigitte Reimann, die zuerst in Hoyerswerda, der Vorzeigplattenbaustadt schlechthin, später dann in Neubrandenburg wohnt, quält sich wohl sehr mit den politischen und ideologischen Hemmnissen, die ihr und anderen in den Weg gelegt werden. Die Mauer verursacht auch in den Köpfen der Menschen eine eingeengte Denkweise, die Vorgaben an die Verlage werden verschärft, Schriftsteller fühlen sich geistig eingeengt. Wie signifikant ist da der Satz „Mein Buch macht mir keinen Spaß mehr, …“ – gemeint ist der Fortschritt bei „Franziska Linkerhand“. Dass sie sich im weiteren Schreibprozess dennoch einer gewissen Selbstzensur unterworfen hat, spricht nicht gegen sie, sondern gegen ein System der geistigen Unterdrückung und Manipulation. Es ist auch die Zeit, als „Spur der Steine“ mit Manfred Krug und viele andere Filme in den Giftschränken der Partei verschwinden, bis sie nach der Wende triumphierend wieder gezeigt werden können. Für die Künstler ein später Trost, manche haben es gar nicht mehr erlebt.
Der Epilog hat aus meiner Sicht eine Schwäche, er geht in keiner Weise auf die heutige Zeit, die Rezeption dieser Künstlerin nach der Wende in Ost und West, auch im Ausland, die interessanten Entwicklungen in Hoyerswerda und Neubrandenburg ein. Schade, der Bogen hätte doch geschlagen werden können. Man findet z. B. in Hoyerswerda eine Brigitte Reimann Begegnungsstätte, auch eine Stadtbibliothek mit ihrem Namen, es werden Stadtspaziergänge gemacht, die an ihre Zeit in der Stadt erinnern. In Neubrandenburg gibt es ein Literaturzentrum, das ein relativ großes Konvolut an Dokumenten und Büchern bewahrt, einige Anmerkungen verweisen auf dortige Quellen.
Fazit: Sehr umfangreich, detailintensiv, ungewöhnliche Sichtweise und nicht ganz flüssig zu lesen. Die Tragik des verlorenen Kampfes gegen den Krebs macht das Lesen nicht leichter. Gerade für Leser, die sich der Brigitte Reimann erstmals annähern und auch historisches Interesse haben, ist die Biografie ein Gewinn und empfehlenswert.

IchbinsogierignachLebenBrigitteReimann

NetGalleyDE

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Veröffentlicht am 05.08.2023

Sag mir, wo die Blumen sind…

Kornblumenzeit
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Sag mir, wo die Blumen sind… - Dieses Lied von Pete Seeger, in der deutschen Version gesungen von Marlene Dietrich, fiel mir ein, als ich über dieses Buch nachdachte. Es entsprach genau meiner Gefühlsverfassung, ...

Sag mir, wo die Blumen sind… - Dieses Lied von Pete Seeger, in der deutschen Version gesungen von Marlene Dietrich, fiel mir ein, als ich über dieses Buch nachdachte. Es entsprach genau meiner Gefühlsverfassung, die dieser Debütroman von Simone Wernicke bei mir hinterlassen hat. Mit ihrem Erstlingswerk muss sich die Autorin nicht verstecken, bei mir im Regal wird es seinen Platz finden zwischen all den Büchern, die ich in den letzten zwei Jahren über Krieg, Flucht, Vertreibung und unendlichen Schmerz gelesen habe. Ich erinnere mich an Christiane Hoffmanns „Alles, was wir nicht erinnern“, Susanne Bendas „Dein Schweigen, Vater“ oder Olaf Müllers „Der Himmel meiner Mutter“, auch Sachbücher wie „Das Wolfsmädchen“ von Christian Hardinghaus und „Flucht“ von Andreas Kossert stehen bei mir. Wer sich mit dieser Thematik näher befasst, wird auch Arno Surminskis Ostpreußen-Bücher kennen. Simona Wernicke gehört für mich ab sofort zu den Autoren, die mir und meiner Seele am nächsten kamen.
Der Umschlags- und der Annotationstext geben eine kurze Inhaltsangabe, erzählt wird in diesem Buch die Familiengeschichte der Kühnapfels von 1928 bis in die Nachkriegszeit. Was für mich den Roman so besonders macht, ist der erste Teil mit den ausführlichen Schilderungen der Lebensbedingungen, wie sich im kleinen Ort Locken in Ostpreußen eine Familie bildet und zusammenwächst, wie es im Haus und auf dem Hof aussieht, welche Anstrengungen nötig sind, um jedes Jahr wieder die Ernte einzufahren, wie zum Jahresende dann doch alle wieder glücklich in der warmen Stube Weihnachten feiern. Dieses ganz normale, harte, trotzdem schöne ostpreußische Leben wird wunderbar erzählt. Die Dialoge sind lebensecht und machen einen großen Teil der Authentizität dieses Buches aus. Der Leser lernt neue Begriffe, weiß bald, dass der raue ostpreußische Charakter eine ganz eigene, von vielen liebevollen Diminutiven durchwobene Sprache benutzt und die Generationen einen enormen Zusammenhalt pflegen. Dass dieses ostpreußische Land auch noch in den 1930er Jahren in vielem rückständig und unterentwickelt ist, ich denke nur an die Torftoilette unter der Treppe der Kühnapfels oder die erst spät ins Haus verlegten Wasser- und Stromversorgungen, das ist uns als heutigem Leser so fremd wie der Mond.
Die Familie aber wächst und wächst, im Hintergrund wächst der Nationalsozialismus heran. Die Kühnapfels ahnen, dass die politische Entwicklung und der Kriegsbeginn Folgen auch für ihre Familie haben werden. Das wird im zweiten Teil dieses Buches so entsetzlich realistisch geschildert, dass einem der Atem stockt. Ich werde hier auf diesen zweiten Teil nicht eingehen, einerseits denke ich, dass die meisten Leser ahnen, was ab 1945 auch dieser Familie nicht erspart bleibt, andererseits soll auch durch Spoilern kein Leser vom Weiterlesen abgehalten werden.
Simona Wernicke beschreibt ihre eigene Familie, man bemerkt eine liebevolle, aber auch kritische Betrachtung der Hauptpersonen. Da ist Carl, der Bäckermeister, während der Ausbildung in Berlin einem Flirt nicht abgeneigt, später im Eheleben reißt er sich zusammen, aber er spricht gern und oft auch dem Alkohol zu. Da hilft auch das nette Wort vom Meschkinnes nicht, und der Bananenklub ist eben auch nur ein Stammtisch in der Kneipe. Käthe, seine fleißige und unermüdliche Ehefrau, kann nur froh sein, dass Carl trotz Schnaps immer pünktlich um drei in seine Backstube geht und eine sehr große Portion Verantwortungsgefühl für seine Familie hat. Einen gehörigen Schrecken bekommt er im Laufe der Jahre gleich zweimal, durch seine Unachtsamkeit wird Söhnchen Rudi schwer verletzt und zu viel Schnapsche im Kopf ist fürs Autofahren auch nicht förderlich.
Die Kinder sind recht unterschiedlich, zwischen die Jungen hat sich ein einziges Mädchen, Doris, geschummelt, immer wieder ist die Mutter froh, wenigstens ein „pflegeleichtes“ Kind zu habe. Das sechste Kind, bei weitem kein Wunschkind von Käthe, stirbt früh und hinterlässt eine tiefe Traurigkeit, erst später werden alle denken, was dem kleinen Uli wohl alles erspart geblieben ist.
In den ersten Jahren des Krieges ist in Ostpreußen noch nicht so viel von den Einschränkungen und Schwierigkeiten zu bemerken, noch gibt es Ausflüge zu den Großeltern, Fahrten mit der Eisenbahn oder dem Schiff auf dem Oberlandkanal, Schlittenfahrten und schöne Geburtstagsfeiern. Doch nach und nach macht sich ein großes Unbehagen breit, besonders die sensible Käthe sieht die drohenden Gefahren, Carl versucht mit ewigem Optimismus, der Dinge Herr zu bleiben. Je näher die Rote Armee kommt, umso mehr wird den Menschen abverlangt, erst keine Autofahrten, keine privaten Bahnfahrten mehr, dann wird das Auto konfisziert, später sogar Pferde.
Als die ersten Gerüchte über das Massaker in Nemmersdorf, wo die Rote Armee erstmals 1944 auf deutsche Gebiete vorstieß, auch in Locken bekannt werden, ahnt noch niemand, dass die ekelhafte Propaganda von Reichsminister Goebbels nicht weit von der Wahrheit über die verrohten Methoden der künftigen Sieger entfernt war. Und so warten alle Anfang Januar 1945 auf den erlösenden Befehl zur Flucht. Gauleiter Koch aber wartet damit so lange, bis es fast zu spät für viele Menschen in Ostpreußen ist. Vielen gelingt es nicht einmal mehr, in einem Flüchtlingstreck mitzufahren. Hier beginnt der zweite Teil des Romans.
Zur Ausstattung des Buches: Das Umschlagbild ist aus einem Panoramafoto entstanden, erst wenn man sich das Buch aufgeschlagen mit dem Inhalt nach unten auf den Tisch legt, sieht man die ganze herrliche Landschaft, auch die titelgebenden Kornblumen fallen einem dann noch mehr auf. Dieses Bild gibt das wieder, was die Vertriebenen als die „alte Heimat“ beschreiben, wenn man es lange genug betrachtet, kommen einem die Tränen, denn diese verlorene Heimat, die haben nur noch wenige im Kopf und im Herzen. Simona Wernickes Roman wird das Vergessen und Verschwinden hoffentlich ein wenig aufhalten. Die Karte im hinteren Umschlag fand ich nicht sehr hilfreich, denn die Orte Koschainen und Locken fand ich dort nicht, da hätte der Grafiker ein wenig nachhelfen können. Als Nachkomme von ehemals in Meseritz (Neumark) wohnenden Großeltern und Mutter bin ich in Ostberlin aufgewachsen und kenne viele im Buch verwendete Begriffe. Aber für andere Leser, gerade auch der jüngeren Generation, würde ich ein kleines Ostpreußisch-Hochdeutsches Glossar am Ende einfügen. Buchgestaltung und Typographie gefallen mir recht gut, die Schrift ist nicht zu klein, so dass die 500 Seiten auch für Brillenträger gut zu bewältigen sind. Etwas verwundert war ich über den Gestaltungsbruch im zweiten Teil, in dem die Kapitelnummern plötzlich mit Überschriften erweitert wurden. Über die Schriftauswahl für diese Kapitelüberschriften kann man geteilter Meinung sein, mir gefällt sie nicht. Last not least hätte ich gern einige Fotos in diesem Buch gesehen, die Familie, das Haus, der Ort Locken sind wunderbar beschrieben, aber einige Bilder hätten noch ein Sahnehäubchen auf das Buch gegeben.
Zum Schluss erzählt Simona Wernicke dann in ihrem Epilog noch über das Leben ihrer Familienmitglieder bis in die heutige Zeit. Ein schöner, wenn auch teilweise trauriger Abschluss. Dass sie mit ihrem Vater über all die Ereignisse, die im Buch so lebensnah beschrieben werden, auch sprechen konnte, mit ihm Locken besucht hat und so die Familiengeschichten und -traditionen erhält, finde ich das Schönste und Bewundernswerteste an diesem Buch. Danke, Simona Wernicke!
Fazit: für mich ein außergewöhnliches und trotz der schmerzvollen Geschehnisse wunderbares Buch, ich möchte es nicht mehr missen und empfehle es uneingeschränkt weiter.

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Veröffentlicht am 22.07.2023

Tiefe, schmerzliche Einblicke in ein fremdes Leben

Eine vollständige Liste aller Dinge, die ich vergessen habe
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Doris Knecht kenne ich von ihren Romanen Die Nachricht und Gruber geht, gerade las ich, dass ihr Roman Wald verfilmt wurde, also eine nicht ganz unbekannte österreichische Autorin in Norddeutschland, deren ...

Doris Knecht kenne ich von ihren Romanen Die Nachricht und Gruber geht, gerade las ich, dass ihr Roman Wald verfilmt wurde, also eine nicht ganz unbekannte österreichische Autorin in Norddeutschland, deren neuer Roman jetzt im Sommer 2023 herausgebracht wird. Mich hat nicht nur ihr Name, sondern auch der Titel angezogen, ich war gespannt, was eine Frau so alles vergessen kann.
Ja, die Protagonistin dieses Romans vergisst viel über die Jahre, aber eigentlich ist es das Viele, an das sie sich fortwährend erinnert fühlt. Sie ist Mitte 50, die beiden Kinder (Zwillinge, Max und Mila) ziehen aus und sie macht aus der Not eine Tugend und zieht in ihre kleine, ehemalige sogenannte (Schreib-)Werkstatt. Dass sie aus der Tochter Luzi kurzerhand einen Max macht, weil Luzi nicht im Buch auftauchen will, ist ein sehr gekonnter Kunstgriff. Max lässt sich als der sensible Junge offensichtlich besser beschreiben als eine widerspenstige Tochter.
Ich will hier nicht aufzählen, was man als Frau im Laufe der Zeit so alles vergessen kann, aber einige Ideen sind schon zum Lachen, Sonnenbrillen, die gleich mehrfach verloren gehen, ebenso wie die Farbe der Teppiche oder die echten Erinnerungen an die Kinder, als sie klein waren. Doris Knecht beschreibt also nicht nur ihre materiellen, sondern auch ihre ideellen Verluste, bisweilen für meinen Geschmack etwas zu ausführlich, aber sie fängt sich immer wieder selbst ein. Beginnt mit einer neuen Überschrift einen neuen Gedanken.
Eine der schönsten Szenen spielt im Kapitel Spinnweben, die alten Eltern (die aufgebrezelte Mutter würde hier wohl das Jugendrennen gewinnen) besuchen die neue Miniwohnung und versuchen sich am Auseinandernehmen der Backofentür, in der die Mutter Spinnweben entdeckt. Wunderbar, weil so vollkommen realistisch. Trotzdem liebevoll.
Wenn Max und Mila zu Besuch sind, ist da immer etwas Hintergründiges, ich glaube, Max trifft den Seelenzustand seiner Mutter genau, als er meint, sie könne wenigstens verbergen, dass sie sich freut, wenn sie wieder allein ist und ihre Ruhe hat.
Ja, dann ist da auch noch ein Hund, an dem die beiden Kinder wohl noch mehr hängen als an der Mutter. Der fährt nicht gerne Auto. aber das ist schon wieder eine andere Story.
Mit hat dieser Roman trotzdem nur teilweise sehr gut gefallen, was mich etwas gestört hat, waren die unzähligen Jammersätze, dass die große Wohnung zu teuer wäre und nun keine schöne, neue, bezahlbare mehr zu finden sei. Da spürte ich plötzlich, dass Österreich doch gar nicht so weit weg von Deutschland ist, zumindest mental, wenn man so dem ÖRR da wie dort zuhört, wo solche Jammerorgien an der Tagesordnung sind. Immerhin hat ja die jammernde Hauptperson noch ein Häuschen, das sie nun mit dem Hund im Schlepptau anpeilen kann.
Fazit: Eine Lebensgeschichte, die dem Leser eine Frau nahebringt, die nicht mehr jung, noch nicht alt, alleinstehend, und doch nicht allein ist. Sie hat ihre Kinder in der Nähe, sie hat einen Hund, sie hat Arbeit, sie hat Freunde, sie hat sich selbst, ihre Erinnerungen und alles das, was sie meinte, vergessen zu haben, das hat sie auch noch. Kein Grund zum Traurigsein, auch wenn man mitunter ein bisschen Mitleid mit ihr verspürt.

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