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Veröffentlicht am 08.11.2018

Ein stilistisches Kunstwerk über Homosexualität

ZAMI. Eine neue Schreibweise meines Namens
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„Zami“ bezeichnet das Zusammenkommen von Frauen als Freunde und gleichzeitig Liebhaber. In ihren Memoiren erzählt Audre Lorde von ihrem Leben als Lesbe während der Fünfzigerjahre in New York. Da Homosexualität ...

„Zami“ bezeichnet das Zusammenkommen von Frauen als Freunde und gleichzeitig Liebhaber. In ihren Memoiren erzählt Audre Lorde von ihrem Leben als Lesbe während der Fünfzigerjahre in New York. Da Homosexualität zu dieser Zeit noch streng verpönt war und sie außerdem eine dunklere Hautfarbe hatte als die meisten Amerikaner, musste sich die Autorin mit vielen homophoben und rassistischen Bemerkungen auseinander setzen. Lorde bewies jedoch Charakterstärke und widersetzte sich den Beschuldigungen. In ihren späten Teenagerjahren und frühen Zwanzigern probierte sie sich aus, besuchte Lesben Bars und lebte zeitweilig in Mexiko.

Zu ihrer Mutter hatte die Autorin ein weniger gutes Verhältnis. Audre Lorde wurde mit harter Hand, die ihrer Mutter auch gern einmal ausrutschte, erzogen. Als jüngstes von drei Kindern warfen die Eltern vor allem auf sie ein wachsames Auge. Freundinnen durften Audre nicht besuchen, in der Schule sollte sie stets darauf achten, nicht aufzufallen, und niemals durfte sie sich ihren Eltern oder anderen Erwachsenen widersetzen. Die bereits erwähnte Charakterstärke zeigte sich bei der Autorin schon im Grundschulalter. Als sie gerade das Lesen und Schreiben lernte, entschied sie sich für eine neue Schreibweise ihres Namens: Aus Audrey wurde Audre, denn sie mochte es nicht, wie das „y“ den Schreibfluss unterbrach. Von diesem Moment an distanzierte sich die Schriftstellerin immer weiter von ihren Eltern und nahm ihr Leben selbst in die Hand – bis sie den Entschluss fasste, nach der High School auszuziehen.

Audre Lorde führte ein aufregendes Leben. Sie lernte die unterschiedlichsten Frauen kennen, führte die unterschiedlichsten Beziehungen und wohnte in den unterschiedlichsten Stadtteilen und Ländern. Während die Schriftstellerin ihre Erfahrungen teilt, lässt sie keine Details aus und bringt den Leser damit teilweise in Verlegenheit. Ihre Offenheit wirkt erfrischend, ihre Geschichten interessant, jedoch wird sich nicht jeder mit Audre Lorde anfreunden können.

Obwohl mir der Einstieg in Lordes Memoiren schwerfiel, war ich doch erstaunt, wie flüssig sich der Text im weiteren Verlauf lesen ließ. Die Autorin gewährt jedem, der ihr Buch in die Hand nimmt, einen direkten Einblick in ihre Gedanken und Gefühlswelt. Mir hat gefallen, wie offen sie über ihr Leben berichtet, jedoch ist mir aufgefallen, dass sie sich regelrecht in neue Beziehungen gestürzt hat – und das wiederum ging mir etwas gegen den Strich. Obwohl Audre Lorde eine sehr selbstbewusste und willensstarke Persönlichkeit war, schien es fast als fehlte es ihr an Zuneigung. Kommt das daher, weil sie nie genug Anerkennung von ihren Eltern bekam? Lief sie auch in ihren Zwanzigern immer noch der mütterlichen Liebe hinterher, die sie nie erfahren hatte? Es hatte mich teilweise wirklich genervt zu lesen, wie jede neue Bekanntschaft ein neues, einmaliges Feuerwerk in ihr auslöste. Audre Lorde wirkte auf mich so selbstsicher, dass sie es nicht nötig hatte, nach Akzeptanz zu suchen.
Insgesamt kann ich Zami aber an jeden weiterempfehlen. Vor allem der Schreibstil der Memoiren hat es mir angetan. Da Lorde hauptsächlich als Lyrikerin tätig war, wusste sie genau, wie sie Worte einsetzen musste, um bei anderen Menschen einen bleibenden Eindruck zu hinterlassen. Ihre Sätze sind weise gewählt und jedes Kapitel ist ein kleines stilistisches Kunstwerk.

Veröffentlicht am 02.11.2018

Eine leichte Memoir über ein schwieriges Thema

Können wir nicht über was Anderes reden?
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Können wir nicht über was Anderes reden? handelt nicht von Roz Chasts eigenem Leben, sondern von dem ihrer Eltern George und Elizabeth. Obwohl das Verhältnis zwischen den Dreien nicht besonders gut ist, ...

Können wir nicht über was Anderes reden? handelt nicht von Roz Chasts eigenem Leben, sondern von dem ihrer Eltern George und Elizabeth. Obwohl das Verhältnis zwischen den Dreien nicht besonders gut ist, stehen sie in regelmäßigem Kontakt. Als die Cartoonistin und Autorin, die in Connecticut wohnt, ihre Eltern eines Tages in Brooklyn besuchen kommt, muss sie feststellen, dass die einst so ordentlichen und sauberen Menschen nach und nach verwahrlosen. Die Staubschicht auf den Regalen wird immer dicker und die Mobilität der mittlerweile Anfang 90-jährigen immer schlechter. Nun steht Roz Chast vor einer wichtigen Entscheidung: Nimmt sie das „Sorgerecht“ für ihre Eltern an sich und sorgt dafür, dass sie ein paar letzte schöne Jahre erleben oder hindert sie die emotionale Distanz daran, ein besseres Verhältnis zu George und Elizabeth aufzubauen?

Als verantwortungsvolle Tochter nimmt Roz Chast die Herausforderung an: Ihre Eltern, die mittlerweile 93 Jahre alt sind, können nicht mehr selbstständig leben. Sie brauchen jemanden, der für sie einkaufen geht, regelmäßig putzt und dafür sorgt, dass sie aus dem Haus kommen. Wie die Autorin aber schon zu Beginn ihrer Memoir deutlich macht, sind George und Elizabeth keine einfachen Menschen. Ihre Mutter ist sehr dominant, hat seit 70 Jahren in ihrer Ehe die Hosen an und weiß, wie sie ihren Mann zu erziehen hat. George ist das absolute Gegenteil. Er ist ruhig, zurückhaltend und da seine Frau ihm die meisten Aufgaben abnimmt, ist es sogar ein Abenteuer für ihn, eine Glühbirne zu wechseln. Nun kann man sich vorstellen, dass es für Roz Chast nicht leicht sein wird, den Alltag ihrer Eltern zu ändern. Ihre Aufgabenliste wird immer länger und nach einer Weile muss sie mehr Tiefen als Höhen in Kauf nehmen …

Obwohl der Inhalt der Memoir sehr emotional klingt, war es genau das für mich nicht. Das schlechte Verhältnis zu ihren Eltern lässt Chast sehr deutlich durchscheinen und mir fiel auf, dass sie größtenteils nur die negativen Eigenschaften ihrer Mutter und ihres Vaters erwähnt. Elizabeth sei zu dominant und grob gewesen, George widerum zu seicht und zurückhaltend. Als Leser merkt man, wie schwer es der Autorin fällt, ein nettes Wort über ihre Eltern zu sagen, denn jedes Mal, wenn sie die beiden nach einem Besuch verlässt, beschreibt sie es als „Flucht“.
Hier und da baut Roz Chast ein paar Geschichten zum Schmunzeln ein. Diese treten meist in den senilen Momenten der Eltern auf. Die Stellen haben mich zwar kurzzeitig amüsiert, doch die Charakterisierung von sowohl der Autorin als auch von Elizabeth und George ließen mein Lachen schnell verstummen. Roz Chast wirkt teilweise sehr hysterisch, schon der kleinste Fehltritt ihrer Eltern bringt sie an die Decke und dies ist eine Eigenschaft, die ich nicht verstehen kann. Jeder Mensch hat Eigenarten, jeder Mensch wird im Alter vergesslich – wieso muss man sich über soetwas aufregen? Aber vielleicht habe ich den schwarzen Humor auch einfach nicht verstanden.

Neben dem recht negativen Inhalt, hat mir die Gestaltung der Memoir jedoch sehr gefallen. Durch die anschaulichen Comicbilder baut man ein sehr enges Verhältnis zu den handelnden Personen auf. Man kann sich Chast und ihre Eltern optisch besser vorstellen und die Bilder stellen Emotionen teilweise besser dar, als die geschriebene Sprache. Zwischendurch gibt es ein paar längere Passagen, in denen die Autorin gewisse Zusammenhänge erklärt. Diese sind in ihrer Handschrift geschrieben und verleihen dem Buch noch einmal eine sehr persönliche Note.

Natürlich wird die Geschichte ausschließlich aus Roz Chasts Perspektive erzählt, was bedeutet, dass man ihre Sicht der Dinge glauben muss. Ob Elizabeth und George sich nun wirklich so verhalten haben, ob das Verhältnis zu ihren Eltern wirklich so schlecht war und ob sich wirklich alles im Detail so zugetragen hat, kann man nicht genau wissen. Ich hoffe zumindest sehr, dass es hier und da auch ein paar (unausgesprochene) emotionale Momente gab.

Veröffentlicht am 23.10.2018

Ein kleines Wirrwarr voller Geschichten

Tintenwelt 3. Tintentod
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Ich muss ehrlich zugeben, dass mich der dritte Band der Tintenwelt-Trilogie nicht so begeistern konnte wie seine zwei Vorgänger. Obwohl mir die Geschichte sehr gefiel und mich einige Fantasy-Elemente verzaubert ...

Ich muss ehrlich zugeben, dass mich der dritte Band der Tintenwelt-Trilogie nicht so begeistern konnte wie seine zwei Vorgänger. Obwohl mir die Geschichte sehr gefiel und mich einige Fantasy-Elemente verzaubert haben, fällt es mir schwer, Tintentod als Teil der Trilogie zu akzeptieren. Als alleinstehender Roman hätte er sich gut gemacht, als Fortsetzung von Tintenherz und Tintenblut leider weniger.

Während Staubfinger zu Beginn des Buches noch bei den Weißen Frauen ist, entfaltet sich Mo immer mehr als „der Eichelhäher“. Die Rolle, die Fenoglio einst nur in Anlehnung an Meggies Vater entworfen hat, nimmt der Buchbinder nach und nach immer mehr an. Mo wird zu einer Heldenfigur unter den Räubern und fühlt sich auch in der Tintenwelt immer wohler. Gemeinsam mit seinem Gefolge versucht er, Ombra und das umliegende Land zu einem besseren Ort zu machen, frei von Fürsten und Soldaten, die die Gegend aus purer Habgier besitzen und regieren wollen. Meggie und Resa distanzieren sich allerdings immer weiter von der Tintenwelt und da Mo ihr plötzlich aufkommendes Heimweh nicht versteht, entfernen sie sich auch emotional etwas von ihm. Die kleine Familie beginnt, häufig zu diskutieren und mit jeder Seite scheint es, als zerreiße das starke Band zwischen ihnen. Als Mo sich dann auch noch auf einen gefährlichen Deal mit Oprheus einlässt, wird dem Leser klar, dass er völlig in seiner Rolle als „Eichelhäher“ aufgeht. Er soll seine Seele an die Weißen Frauen übergeben, damit Staubfinger wieder leben kann, doch der Tod hat ganz andere Pläne …

In Tintentod hatte ich das erste Mal das Gefühl, dass nicht mehr die Geschichte von „Tintenherz“ verfolgt wird. Zwar ist das fiktive Buch noch immer der Schauplatz, doch es rücken ganz andere Charaktere in den Vordergrund. Auf der einen Seite bringt dies zwar eine erfrischende Abwechslung mit sich, auf der anderen Seite hatte es mit der Ausgangsgeschichte nicht mehr viel zu tun. Vor allem Orpheus und der Eichelhäher bekommen diesmal sehr viel Aufmerksamkeit, beide entstammen aber der realen Welt und schon bald musste ich Fenoglio zustimmen: die Geschichte macht, was sie will. Ich denke, es war Cornelia Funkes Absicht zu zeigen, dass die Tintenwelt genau so echt ist wie jede andere Welt und sie daher auch ihre eigenen Charaktere und Handlungsorte erschafft. Obwohl ich es spannend fand, auf Einhörner, bunte Feen und Riesen zu treffen, haben mir doch die „gewöhnlichen“ Glasmänner, Feuerelfen und Nixen aus Tintenblut gereicht.

Tintentod wirkte auf mich wie eine Sammlung aus verschiedenen Erzählungen: Mo wird zu einem Robin-Hood-Charakter, der Däumling bekommt eine ganz neue Rolle zugewiesen und Staubfinger und Farid bekommen durch das Feuer sogar hellseherische Fähigkeiten. Dadurch machte die Geschichte einen etwas ungeordneten Eindruck auf mich, aber ich möchte auf keinen Fall sagen, dass ich sie schlecht fand. Natürlich habe ich mich, wie jeder andere Leser wahrscheinlich auch, in den Feuertänzer verliebt und die vielen magischen Orte haben es mir wirklich angetan. Wäre Tintentod ein in sich abgeschlossener Roman gewesen, hätte er mich wirklich begeistern können, doch als Teil einer Trilogie hat er mich enttäuscht.

Veröffentlicht am 05.09.2018

Im Land der Glasmänner und Feen

Tintenwelt 2. Tintenblut
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Tintenblut ist so viel anders als Tintenherz und doch haben mich die gleichen Charaktere verzaubert. Die Handlung spielt sich diesmal in der Tintenwelt ab; der zweite Band stellt somit einen schönen Kontrast ...

Tintenblut ist so viel anders als Tintenherz und doch haben mich die gleichen Charaktere verzaubert. Die Handlung spielt sich diesmal in der Tintenwelt ab; der zweite Band stellt somit einen schönen Kontrast zur bisherigen Handlung dar und man bekommt die Chance, das von Fenoglio verfasste und zugleich begehrte Buch „Tintenherz“ besser kennenzulernen. Obwohl ich an manchen Stellen ein wenig Heimweh verspürte, habe ich mich trotzdem mit Meggie, Staubfinger und Co. in die fremde Welt begeben und ein Abenteuer nach dem anderen erlebt. Und was soll ich sagen? Der Zauber der Tintenwelt hat auch mich erwischt und ich möchte nie wieder zurück.

Nachdem die Bösewichte aus „Tintenherz“ besiegt wurden, könnten Familie Folchart und Loredan wieder zu ihrem Alltag zurückkehren. Doch die wundersamen Geschichten über Feen, Nixen, Glasmänner und Prinzen, die Meggie von ihrer Mutter erfährt, lassen sie nicht los. Für die mittlerweile Dreizehnjährige ist klar: sie möchte all dies gern mit eigenen Augen sehen. Als dann auch noch Staubfinger und Basta in die fremde Welt verschwinden, lässt sie sich von Farid überreden, ihnen zu folgen – schließlich muss Staubfinger gewarnt werden. Auf eigene Faust und recht naiv begeben sich die Jugendlichen auf große Reise; Fenoglio, der in der Tintenwelt gefangen ist, könnte sie doch jederzeit zurück schreiben. Dann folgen Mo und Resa ihrer Tochter aus Sorge und alles geht fürchterlich schief …

Tintenblut ist mit seinen 736 Seiten ein ganz schöner Wälzer und die Geschichte geht genauso rasant weiter, wie sie im ersten Band endete. Auch hier folgt eine Nebenhandlung auf die andere und man kann, wenn man die Geschichte versucht zu rekapitulieren, schon einmal durcheinander kommen. Doch dies war ich schon von Tintenherz gewohnt und hat mich daher weniger gestört.
Tintenblut ist diesmal auf zwei Ebenen aufgebaut: die Haupthandlung spielt sich in der Tintenwelt ab, die Nebenhandlung, in der Elinor, Darius und Orpheus eine Rolle spielen, findet in der Realität statt. Da ich Elinor im ersten Band sehr lieb gewonnen habe, fand ich es sehr schade, dass sie in Tintenblut eine eher unbedeutsame Rolle spielt. Ich hätte mir mehr Einblicke in die reale Welt und auch ein paar mehr Hintergrundinformationen zu Orpheus gewünscht – vor allem, weil er zum Ende des Romans noch eine wichtige Aufgabe bekommt.

Alles in allem hat mich Tintenblut jedoch noch mehr in den Bann der Tintenwelt gezogen. Genau wie Meggie war ich anfangs sehr neugierig und aufgeregt – ich wollte unbedingt wissen, wie es in Ombra und auf der Festung des Speckfürsten und des Natternkopfes wirklich zugeht – und das Buch konnte meinen Wissensdurst nur halbwegs stillen. In der Tintenwelt lauert hinter jedem Baum und unter jedem Stein ein neues Geheimnis und ich bin davon überzeugt, dass Staubfingers Geschichte noch nicht zu Ende ist. Begierig stürze ich mich nun also auf Tintentod, denn ich habe noch so viele Fragen, die beantwortet werden müssen.

Veröffentlicht am 25.08.2018

Eine Dystopie voller Fragen

Die Kindheit Jesu
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Die Kindheit Jesu ist ein weiterer Schatz, den ich dank eines Seminars an der Uni kennenlernen durfte. Von J.M. Coetzee ist dies mein erster Roman gewesen und ich kann mit Gewissheit sagen, dass es nicht ...

Die Kindheit Jesu ist ein weiterer Schatz, den ich dank eines Seminars an der Uni kennenlernen durfte. Von J.M. Coetzee ist dies mein erster Roman gewesen und ich kann mit Gewissheit sagen, dass es nicht mein letzter sein wird. Von Anfang an hat es der Autor geschafft, meine volle Aufmerksamkeit zu gewinnen und ich hing ihm bis zur finalen Seite buchstäblich an den Lippen. Das Buch wirft Fragen auf, bringt mich zum Kopfschütteln und endet so abrupt, dass man sofort die Fortsetzung lesen möchte.

Als Flüchtlinge kommen Simón und David auf einem Schiff im „neuen Land“ an. Sie haben keinerlei Erinnerungen an ihr altes Leben; sie wissen nicht, wer sie einmal waren und was sie dort gemacht haben, auch wird nicht verraten, wo genau sie sich nach ihrer Flucht befinden. Während der Überschiffung ging ein Brief verloren, den David wahrscheinlich von seinen verschollenen Eltern bekommen hatte – auch hier wird der Leser im Ungewissen gelassen; es wird nie genau bestätigt wo der Brief herkam und an wen er gerichtet war – und somit macht es sich Simón zur Aufgabe, den kleinen Jungen mit seiner Mutter wieder zu vereinen.

In Novilla, einer Stadt im „neuen Land“ finden die beiden mit Hilfe des Relocation Centers eine kleine Wohnung und Simón bekommt einen gut bezahlten Job. Doch die Suche nach Davids Mutter lässt ihn nicht los. Völlig angespannt verbringt er einen Tag nach dem anderen und wird regelrecht besessen von der Idee, eine Frau zu finden, die sich um den Jungen kümmern wird. Als plötzlich Ines in das Leben der beiden Männer tritt, scheint Simóns Suche ein Ende zu haben, doch kann er nicht wissen, auf was er sich einlässt. Er überlässt ihr seine Wohnung und damit auch die Erziehung des Jungen, doch Ines ist erst Mitte dreißig und hat selbst kaum Ahnung von Kindern. Über einen kurzen Zeitraum hinweg entzieht sie David seine Freunde, lässt ihn mit einem gefährlichen Hund alleine und behandelt ihn so, dass er bald meint, der Mittelpunkt der Welt – oder gar Jesus – zu sein. Der gerade einmal Fünfjährige kommt in Kontakt mit Alkohol, ist vorlaut und hat vor Erwachsenen keinen Respekt…

Vor allem die Ungewissheit in J.M. Coetzees Roman hat es mir sehr angetan. Da man als Leser keinerlei Hintergrundinformationen zu den Charakteren bekommt, muss man sie selbst erst Seite für Seite kennenlernen. Dadurch begegnet man ihnen auch mit einer gewissen Distanz, man bildet sich im Verlauf der Geschichte seine eigene Meinung über ihr Handeln und das Auftreten der Personen wird nicht durch eine Vorgeschichte beeinflusst. Das bewusste Auslassen von Details animiert außerdem zum stetigen Weiterlesen, so dass Seite um Seite verfliegt und man begierig nach Antworten sucht.

Insgesamt hat mir der Roman sehr gut gefallen, doch den Titel fand ich irreführend. Die Kindheit Jesu sollte eigentlich einen religiösen Aspekt versprechen, doch die einzige „Bibel“, auf die sich im Buch bezogen wird, ist die Geschichte von Don Quixote. David lernt mit Hilfe des Romans von Miguel de Cervantes sowohl das Lesen als auch ein Gefühl für die spanische Sprache zu entwickeln. Des Weiteren erklärt ihm Simón hier und da anhand von Textstellen aus Don Quixote wie das Leben funktioniert. Wer allerdings Jesu ist – ob damit wirklich Jesus gemeint ist, oder ob es der Name eines Charakters ist – wird nicht verraten. Vielleicht ist es ja Davids richtiger Name, der, den er hatte, bevor er in das „neue Land“ gekommen ist? Ich bin jedenfalls sehr auf den zweiten Teil gespannt. Vielleicht liefert er ja noch ein paar Antworten zu den vielen Fragen, die Die Kindheit Jesu aufgeworfen hat.