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Veröffentlicht am 07.11.2022

Grausamkeiten - auf hohem sprachlichen Nievau

Mein Himmel brennt
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Dort, wo die Erde in einem Neunzig-Grad-Winkel ins Nichts kippt, lag bis in die frühen siebziger Jahre das Münsterland. Ein abgelegenes, ja abseitiges Territorium, in dem die Vergangenheit sich festgekrallt ...

Dort, wo die Erde in einem Neunzig-Grad-Winkel ins Nichts kippt, lag bis in die frühen siebziger Jahre das Münsterland. Ein abgelegenes, ja abseitiges Territorium, in dem die Vergangenheit sich festgekrallt hatte. Bodenständig bis auf die Knochen, katholisch bis ins Mark, gottesfürchtig, aber ohne Gottvertrauen, so rückständig, dass es einen graust. Heinrich von der Haar ist dort aufgewachsen. Mit zehn Geschwistern hat er auf einem Kleinbauernhof geschuftet, unter der rigorosen Weltvergessenheit seines Vaters gelitten und es doch geschafft, etwas zu erreichen, was man Leben nennen kann, wenn man unter Leben anderes versteht, als bloße Existenz. Von der Haar schildert diese Jugendzeit in seinem preisgekrönten Roman „Mein Himmel brennt“. Das Buch ist die Dokumentation von Grausamkeiten – und es ist dies auf hohem sprachlichen Niveau. Heinrich von der Haar kann schreiben – so schreiben, dass man hineingezogen wird in seine belletristischen Weltschilderungen, die nur im Fachterminus „schöngeistig“ sind. Sie sparen nichts aus, sie schaffen es, die Dialektik zwischen Umwelt und Protagonisten in den Lesenden zu bringen – mit, das ist ja notwendig, Brutalität und Härte.
„Der Idealist“ ist die Fortsetzung dieser Jugendschilderung. Der Junge aus dem Münsterland hat das Abitur geschafft und macht sich auf nach Berlin. Er bricht aus dem Käfig aus, der das Münsterland ist, diesem Käfig, dessen Gitterstäbe Bischofsstäbe sind, und der Himmel ist eine Mitra. Wer da aufgewachsen ist, kommt nicht einfach so nach Berlin. Nicht so, wie einer aus Hamburg oder Dortmund, aus Köln oder München. So einer kommt nach Berlin und in eine ganz neue Welt. Eine Welt, in der anderes gilt, als das, was noch im Münsterland gegolten hat. Da wird auf andere Weise kommuniziert, da gelten andere Regeln. Heiner, der Held beider Bücher, muss sich diese neue Welt erschließen. Der Roman beginnt Anfang der Siebziger Jahre und endet vor dem sogenannten „Mauerfall“. Heinrich von der Haar liefert einen Blick in die Verhältnisse der Bundesrepublik, in die Debatten und soziokulturellen Verhaltensweisen der „Linken“. Und wieder, wie schon in „Mein Himmel brennt“ schafft er es, das hohe literarische Niveau zu halten. Damit wird das Buch zu mehr, als nur zur Reminiszenz. Es wird zu einer großen Zeitschilderung. Ein hohes literarisches Niveau kann man nicht erreichen, wenn pädagogisiert wird. Es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, den Finger zu heben, sondern zu schildern. Schlüsse muss der Leser ziehen. Von der Haar hat das verstanden. Vortrefflich vermeidet er es, mehr zu tun, als die Welt aus den Augen seines Protagonisten zu sehen. Nicht der Heinrich von heute blickt da dreißig, vierzig Jahre zurück – nein, Heiner schaut die Welt. Und weil er es wahrhaftig tut, ist dies auch ein Roman übers Scheitern. Die Utopien, die Ideale verfallen, und werden doch immer wieder aufgebaut. Mit dem Scheitern geht, wenn man so will, der Trotz einher, es sich nicht einzugestehen. In Bundeswehrparkas wird gegen den Krieg demonstriert, in Klamotten der US-Army gegen den Imperialismus gekämpft. Brüche allenthalben. Und Heiner, der Lehrer wird – das sei hier verraten –, findet sich in einer Welt aus Abgründen wieder. Seine Ehe wird zum Drama, sein Beruf zu Vabanquespiel zwischen Idealen und Repressionen. Ein solches Buch kann leicht zu einem tristen Dahererzählen werden. Es ist das Talent Heinrich von der Haars, dass er die trivialen Klippen umschifft hat. Wenn einer erzählen kann, wie er es kann, dann ist nichts so spannend wie das normale Leben.
Mit dem dritten – 2020 erschienenen – Band: „Kapuzenjunge“ liegt eine Trilogie über das Leben in Deutschland von den frühen Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts bis heute vor.

Karin Wolf

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 07.11.2022

Der Idealist – ein Roman für Materialisten

Der Idealist
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Dort, wo die Erde in einem Neunzig-Grad-Winkel ins Nichts kippt, lag bis in die frühen siebziger Jahre das Münsterland. Ein abgelegenes, ja abseitiges Territorium, in dem die Vergangenheit sich festgekrallt ...

Dort, wo die Erde in einem Neunzig-Grad-Winkel ins Nichts kippt, lag bis in die frühen siebziger Jahre das Münsterland. Ein abgelegenes, ja abseitiges Territorium, in dem die Vergangenheit sich festgekrallt hatte. Bodenständig bis auf die Knochen, katholisch bis ins Mark, gottesfürchtig, aber ohne Gottvertrauen, so rückständig, dass es einen graust. Heinrich von der Haar ist dort aufgewachsen. Mit zehn Geschwistern hat er auf einem Kleinbauernhof geschuftet, unter der rigorosen Weltvergessenheit seines Vaters gelitten und es doch geschafft, etwas zu erreichen, was man Leben nennen kann, wenn man unter Leben anderes versteht, als bloße Existenz. Von der Haar schildert diese Jugendzeit in seinem preisgekrönten Roman „Mein Himmel brennt“. Das Buch ist die Dokumentation von Grausamkeiten – und es ist dies auf hohem sprachlichen Niveau. Heinrich von der Haar kann schreiben – so schreiben, dass man hineingezogen wird in seine belletristischen Weltschilderungen, die nur im Fachterminus „schöngeistig“ sind. Sie sparen nichts aus, sie schaffen es, die Dialektik zwischen Umwelt und Protagonisten in den Lesenden zu bringen – mit, das ist ja notwendig, Brutalität und Härte.
„Der Idealist“ ist die Fortsetzung dieser Jugendschilderung. Der Junge aus dem Münsterland hat das Abitur geschafft und macht sich auf nach Berlin. Er bricht aus dem Käfig aus, der das Münsterland ist, diesem Käfig, dessen Gitterstäbe Bischofsstäbe sind, und der Himmel ist eine Mitra. Wer da aufgewachsen ist, kommt nicht einfach so nach Berlin. Nicht so, wie einer aus Hamburg oder Dortmund, aus Köln oder München. So einer kommt nach Berlin und in eine ganz neue Welt. Eine Welt, in der anderes gilt, als das, was noch im Münsterland gegolten hat. Da wird auf andere Weise kommuniziert, da gelten andere Regeln. Heiner, der Held beider Bücher, muss sich diese neue Welt erschließen. Der Roman beginnt Anfang der Siebziger Jahre und endet vor dem sogenannten „Mauerfall“. Heinrich von der Haar liefert einen Blick in die Verhältnisse der Bundesrepublik, in die Debatten und soziokulturellen Verhaltensweisen der „Linken“. Und wieder, wie schon in „Mein Himmel brennt“ schafft er es, das hohe literarische Niveau zu halten. Damit wird das Buch zu mehr, als nur zur Reminiszenz. Es wird zu einer großen Zeitschilderung. Ein hohes literarisches Niveau kann man nicht erreichen, wenn pädagogisiert wird. Es ist nicht die Aufgabe des Schriftstellers, den Finger zu heben, sondern zu schildern. Schlüsse muss der Leser ziehen. Von der Haar hat das verstanden. Vortrefflich vermeidet er es, mehr zu tun, als die Welt aus den Augen seines Protagonisten zu sehen. Nicht der Heinrich von heute blickt da dreißig, vierzig Jahre zurück – nein, Heiner schaut die Welt. Und weil er es wahrhaftig tut, ist dies auch ein Roman übers Scheitern. Die Utopien, die Ideale verfallen, und werden doch immer wieder aufgebaut. Mit dem Scheitern geht, wenn man so will, der Trotz einher, es sich nicht einzugestehen. In Bundeswehrparkas wird gegen den Krieg demonstriert, in Klamotten der US-Army gegen den Imperialismus gekämpft. Brüche allenthalben. Und Heiner, der Lehrer wird – das sei hier verraten –, findet sich in einer Welt aus Abgründen wieder. Seine Ehe wird zum Drama, sein Beruf zu Vabanquespiel zwischen Idealen und Repressionen. Ein solches Buch kann leicht zu einem tristen Dahererzählen werden. Es ist das Talent Heinrich von der Haars, dass er die trivialen Klippen umschifft hat. Wenn einer erzählen kann, wie er es kann, dann ist nichts so spannend wie das normale Leben.
Mit dem dritten – 2020 erschienenen – Band: „Kapuzenjunge“ liegt eine Trilogie über das Leben in Deutschland von den frühen Fünfzigern des vorigen Jahrhunderts bis heute vor.

Karin Wolf

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere