Eine moderne und tiefgründige Geschichte
Nicu & JessIch lese gerne Bücher aus dem Jugendbuchbereich, die anders sind, als die ihre Leser mit aufwendig gestalteten Cover täuschen und deren trivialer Inhalt anmutet, als hätte man ihn schon tausend Mal gelesen. ...
Ich lese gerne Bücher aus dem Jugendbuchbereich, die anders sind, als die ihre Leser mit aufwendig gestalteten Cover täuschen und deren trivialer Inhalt anmutet, als hätte man ihn schon tausend Mal gelesen. Mittlerweile weiß ich auch bei welchen Autorin und Verlagen ich bezüglich der besonderen Bücher fündig werde. Nach einer ausgewachsenen Leseflaute sehnte ich mich nach einem Buch, das mich mitreißt und mich mit tiefgründigen Themen und bedeutsamen Worten einfängt. Denn in letzter Zeit habe ich mich des Öfteren von schönen Titeln in aufwendigen Verkleidungen verleiten lassen. Mit „Nicu & Jess“ von Sarah Crossan und Brian Conaghan kam die willkommene Erlösung aus meinem Lesetiefpunkt.
Zwei Menschen begegnen sich durch einen Zufall – im Gepäck jede Menge schicksalhaften Ballast, der sie geformt hat. Nicu und Jess, zwei divergente Jugendliche mit unterschiedlichen Kulturen und Elternhäusern. Trotz ihrer charakterlichen Unterschiede haben sie eines gemeinsam: Sie sind straffällig geworden und müssen nun Sozialstunden ableisten. Doch nicht nur hier kreuzen sich ihre Wege, denn Nicu ist neu an Jess Schule. Anfangs ignoriert Jess den Jungen, dessen Worte durcheinander tanzen, weil er erst vor Kurzem in ihr Heimatland kam und nun von einem besseren Leben träumt.
All zu viel möchte ich von der Handlung nicht verraten, denn mit seinen 300 Seiten ist es ein Buch, das auf den ersten Blick ziemlich dünn erscheint. Jedoch sind in dieser Geschichte die Worte und die Themen mit Bedacht gewählt, die die Handlung nie zu dünn oder oberflächlich erscheinen lassen.
Die kontrastreiche Erzählweise der Autoren hat mich wirklich begeistern können. In dem sie Nicu und Jess abwechselnd auf so unterschiedliche Weise über ihr Leben, ihre Gefühle und die damit verbundenen Schwierigkeiten berichten lassen, haben sie dieser tiefgründigen Geschichte eine ganz besondere Note verliehen. Jeder Perspektivwechsel wird mit einer passenden Überschrift eingeleitet. Der Text ist von dem Autorenduo auf besondere Weise in Szene gesetzt und in Versform gestaltet worden, obgleich sich die Sätze nicht reimen. Hier und da sind kleine Pausen eingearbeitet worden, um den gelesenen Worten eine größere Bedeutung zu verleihen.
Anfangs musste ich mich sehr an Nicu und seine Schilderungen gewöhnen. Aber auch hier haben die Autoren ein perfektes Stilmittel eingesetzt, um den Leser zu verdeutlichen, mit welchen Problemen er in seinem neuen Alltag zu kämpfen hat. Nicu erzählt auf eine sehr eindringliche uns gefühlvolle Weise, obgleich seine Worte im wahrsten Sinn tanzen – was manchmal eben auch unfreiwillig komisch ist.
„Seine Stimme tanzt mit Worten, die zwar durcheinander sind, aber wirklich etwas bedeuten.“ Seite 122
Nicu beherrscht die Sprache des Landes, welches ihm Zuflucht gewährt hat noch nicht. Dadurch begegnen ihm immer wieder Menschen, die voreingenommen sind. Aus Hass oder Angst – aus welchen Gründen auch immer, lassen sie Nicu oft spüren, dass er unerwünscht ist. Er wird oft von anderen verletzt und verliert trotz alldem nie sein Lachen. Das ist seine Waffe. Eine Eigenschaft, die Jess faszinieren und anziehend findet.
Jess berichtet hingegen auf eine völlig konträre Weise. Deutlich, direkt und schonungslos erzählt sie über ihren Alltag in einem lieblosen Elternhaus. Sie lässt die Leser teilhaben an ihrer Resignation und ihrer Ohnmacht darüber die vielen erschütternde Begebenheiten nicht ändern zu können. Aber auch von den Chancen endlich einmal das Richtige zu tun und nicht hilflos da zustehen.
„Ich weiß, ich kann nichts tun, damit sie menschlicher werden, aber zumindest bin ich - wenigstens ein Mal - nicht nur rumgestanden und habe zugesehen, als ob mir jemand die Kehle zugedrückt und mich daran gehindert hätte, das Maul aufzumachen.
Zum ersten Mal im Leben habe ich das Richtige getan.“ Seite 191
„Nicu & Jess“ von Sarah Crossan und Brian Conaghan ist eine moderne, emotionale und tiefgründige Geschichte, die mich auch nach dem Lesen nicht losgelassen hat. Das lag vor allem an der Schwere der Thematik, der zarten Liebesgeschichte und dem offenen Ende, das viel Platz für eigene Spekulationen oder einer Fortsetzung lässt.
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