Packend, überraschend und sehr originell
Rat der Neun - Gezeichnet"Ergreift ihn", rief der Mann namens Vas, woraufhin sich der Kleinste sofort auf Aoseh stürzte. Cisi und Akos wichen zurück, als ihr Vater und der Shotet-Soldat miteinander rangen. Aoseh knirschte mit ...
"Ergreift ihn", rief der Mann namens Vas, woraufhin sich der Kleinste sofort auf Aoseh stürzte. Cisi und Akos wichen zurück, als ihr Vater und der Shotet-Soldat miteinander rangen. Aoseh knirschte mit den Zähnen. Der Spiegel im Wohnzimmer zersprang, die Splitter flogen in alle Richtungen. Dann zerbrach der Rahmen auf dem Kaminsims mit dem Bild vom Hochzeitstag ihrer Eltern. Der Shotet hatte Aoseh inzwischen fest im Griff. Er schleifte ihn ins Wohnzimmer und ließ die drei Kinder allein zurück. Dann zwang er ihren Vater auf die Knie und drückte die Stromklinge an seine Kehle.
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INHALT:
Der junge Akos lebt auf Thuve, einem der neun vom Hohen Rat anerkannten Planeten seiner Galaxie. Für ihn sind die Grenzen klar: Auf der einen Seite lebt er mit seinem friedliebenden Volk, und hinter dem Federgras lauern die brutalen Shotet, die rauben und morden. Einige von ihnen greifen eines Tages auf Geheiß ihres Herrschers Rysek seine Familie an und entführen ihn und seinen älteren Bruder.Von nun an sind sie Gefangene, denn ihre Lebensgaben - Fähigkeiten, die jeder Bewohner der Galaxie erhält - sind sehr wertvoll für die Shotet. In Gefangenschaft begegnet Akos Cyra, Schwester von Rysek und dafür bekannt, Schmerz zu verbreiten. Doch der Preis dafür ist hoch: Sie fühlt genau diese Schmerzen ebenso stark. Nur Akos hat die Möglichkeit, ihr Leid zu lindern. Und zwischen den Beiden entsteht ein ungeahntes Bündnis...
MEINE MEINUNG:
Nach ihrer Debüt-Trilogie hat Veronica Roth dem Dystopien-Genre den Rücken gekehrt und stattdessen eine eigene Science Fiction-Welt erschaffen. "Gezeichnet" ist Band 1 ihrer neuen Reihe um den "Rat der Neun" und lebt insbesondere durch den originellen und überraschenden Weltentwurf. Man sollte wahrscheinlich ein Fan des Genres sein, um sich bei den Beschreibungen der Planeten und ihrer Eigenarten so richtig wohl zu fühlen. Der Stil ist voller wunderschöner Beschreibungen, und er beschwört schnell eine dichte und packende Atmosphäre herauf. Erzählt wird die Geschichte aus der Ich-Perspektive von Cyra und der personalen Sicht von Akos, wobei diese teilweise ins Auktoriale abdriftet. Die beiden berichten jedoch nicht immer abwechselnd, sondern haben anfangs ganze Teile für sich allein, wodurch man sie für sich kennen lernen kann.
Cyra ist in einer sehr brutalen Familie aufgewachsen und hat deren Wesenszüge teilweise übernommen. Trotzdem hat sie im Gegensatz zu ihrem Bruder ihr Gewissen bewahrt - was zum Teil wohl auch damit zusammenhängt, dass sie den Schmerz, den sie anderen zufügt, selbst auch fühlt. Ihre eher sarkastische und spröde Art weiß zu gefallen und macht sie in Verbindung mit ihren Schuldgefühlen sehr menschlich. Akos ist der ruhigere der beiden, der mit seiner gutmütigen, aber trotzdem mutigen Art schnell Sympathien sammelt. Manchmal agiert er etwas kopflos, was in seiner Verzweiflung aber verständlich ist. Und auch die Nebenfiguren sind großartig ausgearbeitet: Der brutale Rysek, geformt durch die Taten seines Vaters, früher liebevoll und heute voller Angst vor seinem Schicksal. Oder der schwache Jorek, der wie fehl am Platz wirkt zwischen den oft eher verschlagenen Shotet. Es gibt hier kein Schwarz oder Weiß, alle Charaktere zeigen gute wie schlechte Seiten.
Prinzipiell hat sich Veronica Roth einem bekannten Thema gewidmet: Dem Krieg zwischen zwei verfeindeten Völkern, in diesem Fall den Bewohnern von Thuve und von Shotet. Einige Elemente dieser Handlung kommen einem auch durchaus bekannt vor: Ein sich auflehnendes Familienmitglied, eine Liebe über alle Grenzen hinweg und ein Trupp von Rebellen, die den Herrscher stürzen wollen. Doch durch viele besondere Details und Ideen kommt es trotzdem immer wieder zu außergewöhnlichen Momenten. Die Art, wie Cyras grauenhafte Schmerzen und ihre zerrüttete Familie beschrieben werden, die vielen Pflanzen, Orte und Tiere, oder auch das spannende System dieser Planeten inklusive der Lebensgaben und Schicksale, das alles fesselt, lässt man sich darauf ein.
Die Autorin hatte nach Veröffentlichung des Romans stark mit Rassismus-Vorwürfen zu kämpfen, die ich absolut nicht nachvollziehen kann - obwohl ich eine absolute Gegnerin von Diskriminierung jeglicher Art bin. Äußerlichkeiten werden größtenteils eher vage beschrieben, aber es wird deutlich gemacht, dass zum Beispiel das Volk der Shotet nicht einheitlich aussieht, weil es aus so vielen Ethnizitäten besteht. Zu behaupten, hier würden dunkelhäutige Personengruppen als gefährlich dargestellt, ist damit schlichtweg falsch, vor allem, weil die Personen oft eher ambivalent und selten ausnahmslos böse dargestellt werden. Hätte ich nicht von den Problemen gewusst - niemals wäre mir in den Sinn gekommen, hier Rassismus zu suchen. In jedem der Völker gibt es gute wie schlechte Menschen, ganz so wie in Wirklichkeit. Damit sind die Charaktere undurchschaubar und wissen immer wieder zu überraschend, die Motive sind deswegen aber nicht weniger glaubwürdig. Bis zum Ende ist der Roman eine spannende Mischung aus fulminanter Action, mitreißenden Dialogen und einer sich sehr langsam und realistisch entwickelnden Liebesgeschichte. Da kann Band 2 gar nicht schnell genug kommen.
FAZIT:
Lässt man sich auf Veronicas originelle und spannende Science Fiction-Welt ein, könnte "Gezeichnet" zu einem Highlight werden. Ambivalente, undurchschaubare Charaktere, eine fesselnde Liebesgeschichte und spannende Ereignisse lassen einen kaum Luft holen. Der Nachfolger erscheint im Original zum Glück schon nächstes Jahr. Verdiente 4,5 Punkte!