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Veröffentlicht am 24.03.2024

Über das Dickicht der Generationen

Wir sitzen im Dickicht und weinen
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Valeries Mutter Christina hat Krebs. Die Diagnose trifft die Familie schwer und Valerie bemüht sich, für ihre Mutter da zu sein. Aufgrund ihrer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung fällt ihr das aber alles ...

Valeries Mutter Christina hat Krebs. Die Diagnose trifft die Familie schwer und Valerie bemüht sich, für ihre Mutter da zu sein. Aufgrund ihrer schwierigen Mutter-Tochter-Beziehung fällt ihr das aber alles andere als leicht, zudem macht ihr die Tatsache, dass ihr Sohn ein Jahr in Ausland gehen will, zu schaffen. Die Geschichte zeigt, dass schwierige Beziehungen schon seit Generationen in der Familie vorhanden sind und nimmt uns auf eine Entwicklungsreise verschiedener ihrer Frauenfiguren mit.

Felicitas Prokopetz hat ein unglaubliches Talent - sie kann nicht nur hervorragend und einnehmend schreiben, sondern sie hat eine spezielle, feinfühlige Beobachtungsgabe, die sie ins Unterbewusstsein ihrer Protagonistinnen transferiert. Alle beschriebenen Charaktere in "Wir sitzen im Dickicht und weinen" sind eigen, ecken an, gehen auf die Nerven - und wirken dadurch äußerst authentisch. Zudem spannt sie einen weiten Bogen der Entwicklung von weitergegebenen Rollen- und Charakterbildern, die ein Stück weit erklären, weshalb die Figuren zu dem geworden sind, was sie im Moment des Betrachtens sind.

Die einzelnen Kapitel sind kurz und prägnant, oft findet ein Wechsel der erzählten Zeitstränge statt. Es dauert etwas, bis klar ist, wie welche Protagonistin mit wem in direkter Linie verwandt ist, wer die Vorfahrin und Prägerin war. Hauptaugenmerk liegt auf weiblichen Personen, auch weil die Männer in der Geschichte ohnehin meist nur eine untergeordnete Rolle spielten. Die Charaktere sind Einzelkämpferinnen, starke Persönlichkeiten, auch wenn ihnen das selbst oft nicht bewusst ist. Am detailliertesten wird Valerie - die Protagonistin der Gegenwart - beschrieben, die sich offensichtlich bemüht, das Gegenteil ihrer Mutter zu werden, dadurch aber auch Zwänge entwickelt, die weder für ihren Sohn noch für sich selbst gesund sind. Oft habe ich mir beim Lesen gedacht: "bitte, tu das nicht!" oder "wie krass bist du, warum beharrst du so auf deinem Standpunkt?". Besonders am Schluss kann vermutet werden, dass sie einige ihrer Handlungen wohl bereuen wird.

Das Buch regt dazu an intensiv über das Erzählte nachzudenken, oft empfand ich es emotional so heftig, dass ich eine Lesepause einlegen musste, wenngleich ich aber trotzdem unbedingt weiter lesen wollte. Auch hat es mich dazu angeregt, meine eigenen Familienkonstellationen zu reflektieren. Ich fragte mich oft - wie hätte ich selbst in dieser oder jener Situation reagiert? Was hätte ich anders gemacht oder ist das Handeln der Figuren die logische Reaktion auf das Erlebte? Ich mache mir zwar grundsätzlich viele Gedanken zu verschiedensten Themen, kaum jedoch hat mich ein Roman zu einem solchen Gedankenfeuer angeregt. Was ich allerdings sehr schade fand: die Geschichte ist nur 205 Seiten kurz. Ich hatte nach Beendigung der Lektüre das Gefühl, dass so viel noch nicht erzählt ist. Nicht unbedingt über Valerie und Christina, ihre Geschichte wird rund portraitiert, sondern über die anderen Frauen der Familie, die uns nähergebracht wurden. Vielleicht war das nähere Eingehen auf die anderen Charaktere nicht so wichtig für den Ausgang der Geschichte, trotzdem blieb bei mir eine kleine ungeschlossene Lücke zurück. Das tut aber im Endeffekt nichts zur Sache, denn wie auch immer - "Wir sitzen im Dickicht und weinen" zu lesen war eine Bereicherung!

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Veröffentlicht am 23.03.2024

Schöne Atmosphäre, unerklärlicher Schluss

Leute von früher
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Nach Abschluss ihres Studium nimmt Marlene einen Job auf der Nordseeinsel Strand an - dort gibt es ein "historisches" Dorf, das Tourist:innen verspricht, sich in die Zeit um 1900 begeben zu können. Nach ...

Nach Abschluss ihres Studium nimmt Marlene einen Job auf der Nordseeinsel Strand an - dort gibt es ein "historisches" Dorf, das Tourist:innen verspricht, sich in die Zeit um 1900 begeben zu können. Nach anfänglichen Eingewöhnungsschwierigkeiten lernt Marlene das gefakte Dorfleben schätzen, knüpft Freundschaften und findet eine Liebe - doch immer öfter muss sie sich den Kopf über seltsame Vorkommnisse zerbrechen...

Kristin Höller nimmt uns in ihrem atmosphärischen Roman "Leute von früher" mit in eine absurde Welt, die viel Sein vorgibt, der Schein aber bei genauerer Betrachtung immer mehr in den Vordergrund tritt. Die Protagonistin Marlene passt sich etwas widerwillig an, nimmt dann aber die Gegebenheiten an, als bei ihr der Alltag eintritt. Der Mikrokosmos im Fakedorf auf Strand hat sich über die Jahre zu einem festen Regelwerk entwickelt, dem sich die dort Arbeitenden anpassen und Marlene betrachtet erstaunt wie sehr sich alle fügen. Schließlich akzeptiert auch sie die Regeln im Nu und konzentriert sich auf die sich entwickelnde Beziehung zu Janne.

Besonders fasziniert hat mich an "Leute von früher" das große Talent der Autorin - wie sie die besondere Atmosphäre der Insel erlebbar macht und es schafft, dass ich mich sofort in die Protagonistin hineinversetzen konnte. Die Beobachtungsgabe, die sie Marlene mitgibt, ist faszinierend und fesselnd. Das Leben im Dorf und der Zusammenhalt der Menschen, die dort schaffen, wird so beschrieben, dass er einen selbst dort mit leben lässt. Die ersten zwei Drittel des Buches gingen wie nebenbei weg und ich las sie sehr gerne. Langsam jedoch machte sich bei mir etwas Ungeduld breit: was soll eigentlich genau erzählt werden? Wann wird das Geheimnis in irgendeiner Art und Weise thematisiert, das auf dem Buchumschlag versprochen wird? Ich wurde etwas müde vom Dahinplätschern der Geschichte und sehnte mich nach einem roten Faden, der in meinen Augen mittlerweile verloren gegangen war. Die versprochenen Geheimnisse wurden schlussendlich gegen Ende doch noch thematisiert, allerdings empfand ich das eher als Pflichtkür, weil es ja angekündigt war, aber als richtig rund konnte ich den Abschluss der Geschichte nicht empfinden - es blieben für mich zu viele Fragezeichen. Vor allem, warum man in eine Geschichte, die sich lange Zeit um Beziehungsaufbau und -Entwicklung, das Sich-selbst-finden und dem einkehrenden Alltag auf einer Fakedorf drehte, nun auf eine mystische Ebene heben musste. Das hat dazu geführt, dass ich das Erzählte nicht wirklich verstehe, auch wenn der Schluss selbst atmosphärisch wieder sehr rund erscheint.

Mein Fazit: "Leute von früher" ist ein atmosphärischer Roman, der es versteht, die Lesenden in eine Welt voller Sein und Schein mitzunehmen. Die große Stärke liegt in der feinfühligen Beobachtungsgabe der Autorin, die ihre Figuren und ihre Beziehungen zueinander sachte und rund zu entwickeln weiß. Leider hat sich die Geschichte für mich im letzten Drittel ziemlich unrund entwickelt und ich hätte mir ein Ende ohne unerklärliche Phänomene gewünscht.

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Veröffentlicht am 19.03.2024

Ein Krimi der etwas anderen Art

Neusiedler Tod
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Nachdem die Journalistin Laura ihren Job bei einem Magazin für medizinische Ästhetik verloren hat, begibt sie sich an den Neusiedler See, um dort einen Reiseführer über die Sehenswürdigkeiten rund um diesen ...

Nachdem die Journalistin Laura ihren Job bei einem Magazin für medizinische Ästhetik verloren hat, begibt sie sich an den Neusiedler See, um dort einen Reiseführer über die Sehenswürdigkeiten rund um diesen Steppensee zu schreiben. Während der Erkundung der Landschaft trifft sie - just an der Österreichisch-Ungarischen Grenze - auf eine Leiche im Wasser. Während die Ermittler den Fall zu lösen versuchen, kann es Laura nicht lassen, sich ihre eigenen Gedanken zu dem Geschehen zu machen. Es beginnt eine umfangreiche Suche nach Motiven, nicht nur zur Tat, sondern auch für Lauras Reiseführer und nach der Richtung, die sie in ihrem Leben einschlagen will.

Bernadette Németh ist mit "Neusiedler Tod" ein kurzweiliges und anspruchsvolles Buch gelungen, das nur auf den ersten Blick ein bloßer Kriminalroman ist. Vielmehr erfahren die Lesenden viel über die Menschen und Kulturen auf österreichischer sowie ungarischer Seite des Neusiedler Sees. Die Charaktere werden vielschichtig und eindrücklich beschrieben, sodass es ein Leichtes ist, sich in deren Situation hineinzuversetzen. Den Schreibstil habe ich als einnehmend und literarisch empfunden. Durch Zeitsprünge bekommen wir Einblicke in die Vorgeschichte der Protagonist:innen - sowohl das künftige Opfer, als auch Laura selbst erhalten Platz, um ihre Charaktere im Laufe der Geschichte weiter zu entwickeln. Auch gesellschaftspolitische Themen werden aufs Tapet gebracht; so spielt der Klimawandel ebenso eine Rolle wie die prekären Arbeitsbedingungen, welchen viele Ungar:innen ausgesetzt sind. Die Autorin hat m.E. ein großes Beobachtungstalent, nicht nur für ihre Figuren, sondern auch für die (Kultur-)Landschaft, in der sie sich bewegen.

Der Kriminalfall selbst wird vorwiegend durch die Wahrnehmungen von Laura beschrieben, es kommen zwar auch Ermittler vor, in die polizeiliche Arbeit werden die Leser:innen jedoch nur sehr am Rande mitgenommen. Dies verleiht dem Fall eine unübliche Perspektive, auch, weil er nicht immer vordergründig thematisiert wird. Zwischendurch erhalten wir Einblicke in die Gedankenwelt des Täters, die einen aber bis am Schluss um dessen Identität im Dunklen lassen, was den Spannungsbogen zusätzlich strafft. Gekonnt werden verschiedene Spuren zu den möglichen Tätern gelegt, die einen immer wieder in die Irre führen. Die Auflösung kommt schlussendlich überraschend.

Mein Fazit: Neusieder Tod ist ein anspruchsvoller Roman mit einem ungewöhnlichen Krimisetting, bei dem der Fall nicht unbedingt im Vordergrund steht. Es ist ein kurzweiliges Buch, das viel erzählt über die Österreich-Ungarische Kulturlandschaft um den großen See, über menschliche Beziehungen, den Wert der Natur und schließlich auch darüber, wie man sich gut täuschen kann. Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 18.03.2024

Über Freundschaft, Menschen und das Kindsein

Mein ziemlich seltsamer Freund Walter
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"Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." "Fremde. Und Leute, die Bücher ...

"Wie kann ich es höflich sagen? Das Wetter ist halt echt nicht toll, und außerdem haben alle ein wenig Angst vor diesen Menschen. Es heißt, dass sie Fremde nicht so mögen." "Fremde. Und Leute, die Bücher lesen. Und Dicke. Und Dünne. Und Schwarze und Rothaarige. Das ist korrekt. Aber ansonsten ist die Erde ganz in Ordnung. [...]" (S. 64)

Lisa ist ein trauriges Mädchen. Ihre Eltern sind arbeitslos und deshalb lethargisch. Am Spielplatz wird sie tagtäglich von Jugendlichen gequält und von ihren Mitschüler:innen gemobbt. Nur ihr selbstgebauter Computer und der Blick ins All bereiten ihr Freude. Eines Nachts tauchen Außerirdische auf, die sofort wieder flüchten - doch zurück bleibt einer von ihnen: "Walter". Mit ihm lernt sie die schönen Seiten des Lebens kennen...

"Walter" ist ein Kinder-Comicroman von der Schriftstellerin Sibylle Berg und dem Illustrator Julius Thesing, der auch Erwachsenen eine kurzweilige Lesefreude bereitet. Der Schreibstil strotzt trotz einer depressiven Grundstimmung vor Humor und Leichtigkeit, was die großartigen Zeichnungen von Thesing in Schwarz-Weiß gekonnt in Szene setzen. Durch den Außerirdischen Walter lernt das Mädchen Lisa scheinbar erstmalig Freundschaft kennen und auch die Tatsache, dass es viele Vorteile bringen kann, wenn man sich situationsbedingt unterschiedlich verhält. So lernt Walter Lisa, wie sie sich verbal gegen die tyrannisierenden Jugendlichen wehren oder wie sie ihre Lehrerin für sich gewinnen kann. Allen voran aber zeigt er ihr, welche Stärken in ihr stecken. Das ist gar nicht so einfach, denn Walter scheint aus einer Welt zu stammen, in dem Geschlechter(rollen) nicht mehr existieren und das System Kapitalismus unbekannt ist. Irgendwie (wie genau, bleibt den Lesenden vorenthalten) schafft der Außerirdische es sogar, dass Lisas Eltern wieder zu ihrer Lebenslust zurückfinden.

Grundsätzlich sind viele "Moralen", die in "Walter" erzählt werden, treffsicher und können Kindern, die von Mobbing durch Kinder und Jugendliche und Abneigung/Ablehnung Erwachsener betroffen sind, helfen, mehr Selbstvertrauen zu geben. Die Geschichte ist scharfsinnig und kritisch und zeigt die Welt als einen Ort, an dem viel Ungerechtigkeit herrscht, die aber überwunden werden kann. Es kann Lesende dazu anregen, über die Welt und das System, in dem wir leben (allen voran dem Kapitalismus und seine gesellschaftliche Ausprägung) zu hinterfragen. Was mir persönlich aber ehrlich gesagt nicht so gut gefällt, ist, dass Lisas Eltern ob ihrer Arbeitslosigkeit vollkommener Lethargie ausgeliefert sind. Das bedient m.E. ein Klischee, das für viele arbeitslose Menschen nicht zutrifft - vor allem nicht, wenn sie, wie in dieser Geschichte, noch nicht allzu lange ohne Arbeit sind. Bei der Lehrerin sagt Walter, dass diese Lisa nicht mag, weil sie klug und stark ist und lernt ihr, sie zufriedenzustellen, indem sie ihr recht gibt. Ich würde dies meinem Kind nicht beibringen wollen, denn ich finde, es legitimiert das ungute Verhalten der Lehrperson. Deshalb gibt es für mich einen Stern Abzug.

Mein Fazit: Walter ist ein grandios gezeichneter Kinder-Comic, der einem gepeinigten Mädchen zeigt, wie sie sich selbst behaupten kann. Ob die Ratschläge an die Protagonistin für alle Eltern stimmig sind, sollte vorab geprüft werden. Wie auch immer - für Erwachsene ist es jedenfalls eine kurzweilige Lesefreude.

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Veröffentlicht am 13.03.2024

Über eine Identität zwischen Land und Stadt

Mühlensommer
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Maria, Mutter zweier pubertierender Töchter, ist mittlerweile ein echter Stadt-Mensch geworden. Als ihr Vater einen schweren Unfall hat, kehrt sie zurück auf den Hof ihrer Familie, um ihre Mutter zu unterstützen. ...

Maria, Mutter zweier pubertierender Töchter, ist mittlerweile ein echter Stadt-Mensch geworden. Als ihr Vater einen schweren Unfall hat, kehrt sie zurück auf den Hof ihrer Familie, um ihre Mutter zu unterstützen. Viele Erinnerungen an ihre Kindheit keimen auf - trotzdem sie viel auf der "Mühle" mitarbeiten musste, war es zum größten Teil eine unbeschwerte Zeit, wenn auch mit einigen Entbehrungen. Doch das Verhältnis zur ihrer Familie, speziell zu ihrem Bruder Thomas, ist angespannt, viel Groll bleibt unausgesprochen. Die Sorge um ihren Vater jedoch ordnet die Familienverhältnisse neu...

Martina Bogdahn nimmt uns in "Mühlensommer" mit auf eine Reise in Marias Erinnerungswelten über ihre Kindheit am Land. Die gegenwärtigen Episoden, die geprägt sind von der Sorge um den Vater, Konflikten mit dem Bruder, der Demenzerkrankung der Großmutter und der Verzweiflung der Mutter, wechseln sich ab mit den Blicken in die Vergangenheit. Marias Kindheit scheint eine schöne gewesen zu sein, allerdings begleitet von einer gewissen Rohheit der älteren Generation und dem Selbstverständnis, dass Kinder am Hof mitzuarbeiten haben. Andererseits besticht das Großwerden in der Peripherie durch eine tiefe Verbundenheit zur Natur und zum Wechsel der Jahreszeiten. Irgendwann in der Pubertät fühlte sich die Protagonistin dann eingeengt in diesen konservativen Verhältnissen und trat die Flucht in die Stadt an - dieses Entwicklungsstadium wird allerdings nur angedeutet, der Fokus der Erinnerungen liegt auf ihrer Grundschulzeit. Trotzdem deutete sich schon früh an, dass Maria danach strebt, ihren Horizont zu erweitern, die Einfachheit des Landlebens und die Einschränkungen am Bauernhof setzte ihr zunehmend zu. Auch heute bleibt eine Art von Hassliebe zum Landleben und dem Verhältnis zu den Menschen dort bestehen, doch im Laufe der Geschichte keimt immer mehr die Sehnsucht nach einer einfacheren Lebensweise auf. Die Zerrissenheit Marias, ihre zwei Seiten, die ländliche und die urbane, scheinen im ganzen Roman ein Zwiegespräch zu führen. Und letztendlich entscheidet ein Konsens, den ihre Mutter vorschlägt, für welche Seite sich die Protagonistin entscheidet.

Der Schreibstil Bogdahns ist einnehmend und sehr angenehm zu lesen. Die abwechselnden Episoden zwischen Gegenwart und Vergangenheit bringen eine besondere Abwechslung in die Geschichte. Die Schilderungen über Marias Kindheits-Ich sind durch eine kindliche Leichtigkeit, die Gegenwarts-Maria von einer gewissen Erschöpfung des Erwachsenseins gekennzeichnet und sind dadurch absolut nachvollziehbar. Zwischendurch hatte der Text einige Längen, die es mir teilweise schwer machten, aufmerksam zu folgen. Einige Szenen, die den Umgang mit Tieren sehr detailliert schildern, waren für mich eher grausam zu lesen, da ich sie als sehr roh und unempathisch den Tieren gegenüber empfand - ich kann mir allerdings gut vorstellen, dass diese die bäuerliche Realität widerspiegeln. Ich glaube auch, dass diese von der Autorin bewusst so detailliert (und realitätsnah?) geschildert wurden, nehmen sie doch in der Erzählung relativ viel Raum ein. Trotzdem die Härte des bäuerlichen Lebens umfangreich beschrieben wird, konnte ich doch eine gewisse Verklärung des Landlebens erkennen. Besonders gelungen ist es der Autorin meines Erachtens die Zerrissenheit darzustellen, die Maria zwischen der urbanen und der ländlichen Welt hin und her schleudert - ihre Gedankengänge, die sich diesbezüglich im Laufe der Geschichte erst peu á peu herauskristallisieren, waren für mich wirklich absolut nachvollziehbar und ließen mich tief mit der Figur verbunden fühlen.

Mein Fazit: Mühlensommer ist ein mitunter philosophischer Roman über das Für und Wieder des Landlebens, über innerfamiliäre Konflikte und das Aussöhnen mit den eigenen Gegebenheiten. Trotzdem die thematisierte konservative Rohheit ab und an schwer zu ertragen ist und der Texte sich teilweise in die Länge zieht, ist Martina Bogdahn ein absolut lesenswertes Buch gelungen!

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