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Veröffentlicht am 29.04.2022

Glaubwürdig, schockierend, kämpferisch

Nachtschwärmerin
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„Ich weiß nicht, ich hatte im Grunde keine andere Wahl. Ich bin da irgendwie reingerutscht, und dann gab es keinen Weg mehr raus, versteht du?“

Eine bewegende Geschichte über ein junges Mädchen auf der ...

„Ich weiß nicht, ich hatte im Grunde keine andere Wahl. Ich bin da irgendwie reingerutscht, und dann gab es keinen Weg mehr raus, versteht du?“

Eine bewegende Geschichte über ein junges Mädchen auf der Schwelle zum Erwachsenwerden, die zu viel Last auf ihren Schultern zu tragen hat und dann noch die Verantwortung für ein Kind übernimmt. In Ermangelung anderer Möglichkeiten, um die Miete und Essen zu bezahlen, ergibt sich die Chance, auf der Straße schnelles Geld zu verdienen. Und so gerät Kiara in ein Strudel aus Sex, Misshandlung und Erpressung von Männern, dessen Namen sie nicht kennt. Es sind nur Nummern oder markante Merkmale, die ihr in Erinnerung bleiben. Schonungslos, nüchtern und bildhaft erzählt Leila Mottley in ihrem Debüt Kiaras Geschichte. Der Fokus liegt ganz klar auf der Ich-Protagonistin und der Frage, wie es soweit kommen konnte, wie ihr Umfeld darauf reagiert und wie sie selbst damit umgeht - ob sie sich der Gefahr eigentlich bewusst ist. Die Ich-Perspektive bringt nur sparsam zum Ausdruck, was Kiara fühlt und denkt, denn hauptsächlich verdrängt sei vieles und erinnert sich an vergangene Tage mit der Familie. Kiara ist eine liebevolle Person, naiv, mal selbstbewusst, mal wortkarg, robust und doch verletzlich, als würden ihre vielen Facetten die Widersprüchlichkeit der Welt widerspiegeln. Ihre Familienverhältnisse und die wiederholenden Muster, aus fehlendem Rückhalt und schmerzhaften Enttäuschungen, spielen die Hauptrolle, neben den schrecklichen Konsequenzen.

Der Schluss hat mir gefallen, auch wenn ich mir noch ein paar Seiten mehr gewünscht hätte. Man kann sagen, auf den letzten dreißig Seiten passiert noch so einiges. Ein Abschluss, der die Ungerechtigkeit und das Versagen offenlegt und zeigt, wie wichtig Menschen im Leben sind, die uns unter- und beschützen. Dazu passen auch die abschließenden Anmerkungen der Autorin. Insgesamt hat es mir an Spannung gefehlt, da dem Prozess und der Prostitution nicht so viele Seiten gewidmet wurden, wie ich nach dem Klappentext angenommen hatte. Dafür hat mich Kiaras Schicksal berührt, das gesellschaftskritisch schmerzhafte Missstände aufzeigt. „Aber ganz gleich, wie viel Glück man hat, man muss immer noch tagein, tagaus schuften, um am Leben zu bleiben, während man mit ansieht, wie jemand anderes aus dem sozialen Netz fällt und die Asche in der Bucht verstreut wird.“ Ich möchte auch nicht unerwähnt lassen, dass mir das handliche Buchformat als Hardcover sehr gefallen hat.

Fazit: Ein lesenswertes Romandebüt über das Porträt einer Minderjährigen, die, auf sich allein gestellt, unerfahren und ausgebeutet, in einen Missbrauchsskandal der Polizei verwickelt wird und um Zusammenhalt in der Familie kämpft. 3,5 Sterne für diese schwere Kost.

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Veröffentlicht am 29.04.2022

Von den antiken Ursprüngen bis heute

Papyrus
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Das Buch „Papyrus“ konnte mich mit seinem schlichten und edlem Aussehen ebenso begeistern, wie die über siebenhundert Seiten Inhalt. Die spanische Autorin Irene Vallejo schildert die Reise der Bücher durch ...

Das Buch „Papyrus“ konnte mich mit seinem schlichten und edlem Aussehen ebenso begeistern, wie die über siebenhundert Seiten Inhalt. Die spanische Autorin Irene Vallejo schildert die Reise der Bücher durch die Menschheitsgeschichte, wie alles seinen Anfang nahm und was Bücher so unentbehrlich macht, weshalb sie mit großer Wahrscheinlichkeit nicht, wie befürchtet, durch technische Fortschritte überflüssig sein werden. Die Reise beginnt in Griechenland, erste schriftliche Aufzeichnungen, die immer andere Mittel und Wege finden, sich zu präsentieren: über Papyrusrollen bis zum eBook-Reader. Irene Vallejo schreibt von spannenden Begebenheiten, bezieht sich auch auf andere kulturelle Werke, die Geschichten präsentieren, und Orte besonderer Bedeutung, wie die berühmte Bibliothek von Alexandria oder der Palast der Papyri in Herculaneum.

Man merkt Irene Vallejo die große Leidenschaft und Faszination für Bücher und das Lesen (und Vorlesen) an, die sie nahtlos an ihre Leserschaft weitergibt. Es ist eine Freude ihren persönlichen Erfahrungen und Erinnerungen, Anregungen zum Weiterdenken, klugen Schlussfolgerungen, informativen Recherchen und Anekdoten zu folgen. Der Schreibstil ist wunderbar lebendig, abwechslungsreich, durchaus humorvoll und, trotz Komplexität, verständlich. Ich habe so einige schöne Zitate notiert, konnte viel mitnehmen, was ich noch nicht wusste und hatte eine herrlich entspannte Lesereise, während ich darüber lesen konnte, wie schön das Lesen ist.

Fazit: Ein Schatz für alle, die Bücher lieben. Große Empfehlung! Ganz besonders, wenn die Antike als Themenfeld die Neugier weckt.

Veröffentlicht am 29.04.2022

Malerisch, sinnlich, stimmungsvoll

Ein französischer Sommer
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Leah wird auf eine Anzeige im Stadtmagazin aufmerksam, in welcher der Schriftsteller Michael eine Assistentin sucht. Es geht darum, Michaels Tagebücher aus zwei Jahrzehnten zu sichten und zu übertragen. ...

Leah wird auf eine Anzeige im Stadtmagazin aufmerksam, in welcher der Schriftsteller Michael eine Assistentin sucht. Es geht darum, Michaels Tagebücher aus zwei Jahrzehnten zu sichten und zu übertragen. Sie hat gerade erst ihren Abschluss gemacht, ohne genau zu wissen, wie es weitergeht, aber die Anzeige macht sie neugierig. Doch erst über Umwege kommt es zu einem Treffen und die Dinge nehmen ihren Lauf.

Francesca Reece erzählt ihr Debüt aus zwei Ich-Perspektiven: mit Michael taucht man in seine 70er Jahre ein, während Leah im Hier und Jetzt bliebt. Michael wird ungeschönt als rücksichtslose Persönlichkeit dargestellt und seine Vergangenheit gibt interessante Rückschlüsse über sein Verhalten. Leah hingegen hat ein angenehmes Naturell. Mit ihrer Schwäche, den Bewertungen anderer hohe Bedeutung beizumessen, bildet sie einen starken Kontrast zu Michael, der es nicht darauf anlegt, sympathisch zu wirken. Der ausgeglichene Schreibstil verleiht dem Roman einen Flair von Sinnlichkeit und einen spürbaren französischen Esprit voller Klugheit und Charme. Das passt ausgesprochen gut zu der Vorstellung warmer Sommertage und bietet bildhafte Eindrücke französischer Kultur und Landschaftsbilder. Den auch sprachlich spürbaren Wechseln zwischen den Perspektiven, fand ich gelungen. Jugendliche Moderne trifft auf gekünstelte Stabilität. Mit Eingewöhnungszeit wurde der Roman nach zweihundert Seiten deutlich interessanter und ich durchlebte mit Leah aufregende Zeiten. In Hinblick auf das Ende, fehlte es mir an Nachvollziehbarkeit. Dadurch konnte mich die Handlung insgesamt weniger überzeugen, aber die sommerliche Stimmung, der französische Stil und Leah werden mir in guter Erinnerung bleiben. Eine gute Mischung aus anspruchsvollem Stil und federleichtem Sommer.

  • Einzelne Kategorien
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  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 16.04.2022

Mehr Fiktion als Tatsachenbericht über die Bootsfahrt

Der Flussregenpfeifer
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"Der Flussregenpfeifer" greift eine wahre Geschichte auf: 1932 beginnt der Abenteurer Oskar Speck seine unglaubliche siebenjährige Reise in einem Faltboot. Ein Roman über das Scheitern, ungebrochenen Ehrgeiz ...

"Der Flussregenpfeifer" greift eine wahre Geschichte auf: 1932 beginnt der Abenteurer Oskar Speck seine unglaubliche siebenjährige Reise in einem Faltboot. Ein Roman über das Scheitern, ungebrochenen Ehrgeiz und große Herausforderungen, der ein paar wahre Begebenheiten mit viel Fiktion vermischt. Zu Beginn erfahren wir auch, wie Oskar sich auf diese Tour vorbereitet, Eckdaten seiner Unternehmung festlegt und was ihn überhaupt dazu bewogen hat, sich dieser Herausforderung zu stellen. "Je weiter ich komme, desto weiter möchte ich.“ 
Die Gestaltung des Buch ist sehr ansprechend: handschriftlicher Tagebucheintrag, kunstvolle Illustrationen, Routenplan, Fotos und ein abenteuerliches Cover, das möglicherweise zu trügerische Vorannahmen verleitet. "Der Flussregenpfeifer“ ist kein Tatsachenbericht - wenn auch umfangreich recherchiert -, sondern eine Geschichte, die Oskar Specks Reise zwar aufgreift, aber zur Nebenhandlung degradiert, Geschichten darum herum spinnt und sich kreative Freiheiten nimmt. Dabei fordert Tobias Friedrich die volle Aufmerksamkeit seiner Leser*innen, denn mehrere Erzählstränge, teils wahre Nebenfiguren, Dialoge, Zeitsprünge und der ständige Ortswechsel vordern einem einiges ab, um nicht völlig verwirrt auf der Strecke zu bleiben. Der Schreibstil ist flüssig und die Schrift angenehm groß. Gut zu Wissen für alle, die bei dicken Wälzern eher abgeschreckt sind, sich aber durchaus für das Buch interessieren.
Wie man nun vermuten könnte, ist Oskar als Held der Geschichte zu oberflächlich geraten. Man erfährt einfach zu wenig über die Hauptfigur und seine Gefühlswelt. Ich hätte mir einen stärkeren Fokus auf die Bootsfahrt gewünscht, wie es Klappentext und Cover vermuten ließen, um seine Abenteuerlust und Faszination tiefgreifender nachvollziehen zu können. Mich hätte beispielsweise interessiert, wie er mit Herausforderungen umgegangen ist und sich unterwegs versorgen konnte. Spannende Fragen, die nicht aufgegriffen werden. Das Ende hatte seine Höhepunkte und auch im Verlauf der Geschichte gibt es spannende und inspirierende Textstellen, die mir gefallen haben.
Insgesamt ein durchschnittlicher Roman, beim dem man zwar seinen Fokus verschieben muss, um unvoreingenommen den Unterhaltungswert genießen zu können, der aber handwerklich und gestalterisch auch überzeugen kann.

Veröffentlicht am 16.04.2022

Zynische Zeitreise einer New Yorker Unikats

New York und der Rest der Welt
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Bei „New York und der Rest der Welt“ handelt es sich um eine ausgewählte Textsammlung von der mittlerweile 71-jährigen Fran Lebowitz, die überwiegend in den 70er Jahren entstanden sind. In dieser Zeit ...

Bei „New York und der Rest der Welt“ handelt es sich um eine ausgewählte Textsammlung von der mittlerweile 71-jährigen Fran Lebowitz, die überwiegend in den 70er Jahren entstanden sind. In dieser Zeit begann die Kreativität in New York zu florieren. In den 70er Jahren ging New York aber auch durch sehr turbulente Zeiten, vor allem wegen der Finanzkrise und des Wirtschaftsabschwungs. „New York City soll sich zum Teufel scheren!“, sagte Präsident Ford damals. Aber die Mieten waren günstig für Künstlerinnen, wie Fran Lebowitz, die in ihren Essays eine Vielzahl wahlloser Themen ihrer Karriere als Schriftstellerin verarbeitet, wie das New Yorker Großstadtleben, Kunst, Kommunismus, Mütter, Diäten, die katholische Kirche - ironisch, zynisch und mit wortgewandeter Arroganz. Sie sieht die Dinge auf eine neue Weise, erweitert den Horizont, macht auf die dunklen Ecken aufmerksam, die man bisher ignorieren konnte und macht dabei vor nichts halt. Es wirkt so voller Leichtigkeit und Biss, wenn man ihre Texte liest. Jedes Wort scheint zu sitzen, und was dazwischen steht auch. Man erhält Einblicke in ihr Leben, ihre Erinnerungen, ausgemalte Visionen und zahlreiche Listen. Was Fran Lebowitz beschließt, ist auch so. Ihr New York. Ihre Meinung über den Rest der Welt.

Fazit: Empfehlenswert für kleine, unterhaltsame Lesehappen, die man mit charmantem Zynismus füllen möchte. Für längere Lesestunden möglicherweise schwere Kost, aber ein einzigartiges Unikat, das vielleicht nicht immer zündet, manchmal ermüdet, aber meistens Schmunzeln lässt.