"Die Schlange von Essex" von Sarah Perry ist ein Roman, der im viktorianischen England spielt und das Leben einer Frau und ihrer Bekannten nachzeichnet.
----- Vorsicht, entgegen meiner normalen Art, spoilert diese Rezension ein wenig, einfach, weil es für mich so schwer war, mir eine Meinung zu bilden. -----
Cora Seaborne lebt mit ihrem Mann, einem deutlich älteren Anwalt und Politiker, ihrem Sohn Francis und der Haushälterin Martha in London. Als ihr Mann stirbt ist sie nicht sehr traurig, denn die Ehe, in die sie sich sehr jung und verliebt gestüzt hatte, war für sie die Hölle. Nun hat die junge Witwe endlich die Freiheit erlangt, die sie braucht um sich selbst zu verwirklichen und glücklich werden zu können.
Sie zieht aufs Land um im Boden zu graben und Fossilien zu suchen. Ihrem Freund, dem junge Arzt Luke Garrett, gefällt das gar nicht, hatte er doch gehofft sie nach dem Tod ihres Mannes, den er behandelt hatte, für sich zu gewinnen. So bald es geht reist er mit seinem wohlhabenden Freund Spencer hinterher um sie erneut zu erobern. Cora ist sich seiner Liebe bewusst, behandelt ihn aber wie einen normalen Freund, war Luke zunehmend frustriert. Cora hat in der Zwischenzeit auf dem Land den Dorfpfarrer William kennen- und schätzen gelernt. Dessen Frau Stella missfällt deren Freundschaft nicht, sie fördert sie auch noch. Vielleicht fühlt sie am Anfang nicht, dass die beiden mehr wollen als eine Freundschaft. Stella wird im Laufe der Zeit immer kränker und weiß auch ohne ärztlichen Beistand genau was ihr fehlt und dass es zu Ende gehen wird. Von da an, als sie das erkennt, fördert sie die Freundschaft zwischen William und Cora noch mehr, wohl weil sie hofft, dass Cora ihn nach ihrem Tod trösten wird. Die Geschichte wird immer verstrickter, es wechselt zwischen London und Essex hin und her, Martha kann ihre sozialistischen Bestrebungen ausleben und findet Unterstützer, die ihr helfen wollen, die Wohnungsproblematik in London zu verbessern. Cora und William kommen sich immer näher und streiten sich aber auch immer heftiger. Luke wird endgültig zurückgewiesen und wird immer deprimierter.
Am Ende werden wir mit einem vagen Gefühl zurückgelassen, dass sich an der ganzen Situation wenig geändert hat und dass die Probleme keine Auflösung gefunden haben.
Insgesamt hielt der Roman in keinster Weise das, was der Klappentext und die Leseprobe, oder die eigenen Erwartungen daraus versprachen. Die angedeutete unglückliche Ehe Coras wird nie näher erklärt, ihre Traumata weder genau beschrieben noch geheilt. Ihre Fossiliensuche war nur Grund aufs Land zu ziehen, wird jedoch kaum mehr thematisiert, sie findet auch nichts besonderes. Doch das interessiert sie auch nicht mehr. Cora emanzipiert sich zwar, ermutigt durch ihr Witwendasein, ihre finanziellen Mittel und ihre Freiheit. Doch sie wird dadurch eher zunehmend selbstsüchtig und verletzt die Gefühle ihrer Freunde, sie spielt grausam mit ihnen, sei es ohne es zu merken oder weil es ihr egal ist. Es sind verschiedene Figuren in Cora verliebt, sie selbst liebt nur William und will ihn, teilweise ohne an dessen schwerkranke Frau Stella zu denken. Stella wird immer kränker, körperlich und geistig, doch selbst als Ärzte Heilungsmethoden vorschlagen wird sie nicht behandelt. Martha liebt Cora, die sich dessen aber wahrscheinlich nicht bewusst ist, trotzdem geht sie am Ende eine Partnerschaft mit einem Mann ein. Francis, Coras autistisch veranlagter Sohn, wird beinahe sich selbst überlassen, obwohl er noch ein Kind ist. Niemand versucht ihm zu helfen, keiner nimmt sich seiner an. Cora versucht zwar ihn zu lieben, unternimmt aber keinen Versuch, seine andersartige Denkweise und Gefühlswelt zu verstehen. Die Schlange von Essex, die durch den Titel zentrales Thema wird, wird gefunden, dann doch wieder nicht und ist eher psychisch in allen Gehirnen der Dörfler und Besucher zu suchen.
----- Spoiler Ende -----
Ich hatte etwas ganz anderes erwartet. Für mich war "Die Schlange von Essex" letzten Endes nur ein historischer Liebesroman, der noch dazu, für mein Empfinden, eher unbefriedigend endet. Ich fand die Schilderung der Personen, die Sprache und Erzählweise und den abwechselnden Stil mit normaler Erzählung und Briefen und Tagebucheinträgen sehr gut. Aber inhaltlich hätte ich mir am Ende mehr Veränderung, mehr Aufklärung und mehr Positives gewünscht.
Ich streite noch mit mir selbst, wie viele Punkte ich vergeben will. Sprachlich und stilistisch liegt der Roman für mich bei 4 bis 5 Sternen. Inhaltlich haben die Personen für mich am Ende noch zu viele Probleme, die nicht bewältigt wurden, außerdem standen während der ganzen Handlung nur die Personen und ihre Gefühlswelt und keine sachlichen, wissenschaftlichen oder philosophischen Themen im Mittelpunkt, wie ich es gehofft hätte, deswegen eher 3 Sterne. Aber das Buch hat mich während des Lesens bewegt und mich wirklich mitfühlen und mitleiden lassen. Deswegen werden es insgesamt doch noch 4 Sterne.
Letztes Fazit: Wer keine Scheu hat, einen Roman zu lesen, der im innersten eigentlich nur Liebesroman ist und wer auch keine Angst vor halbgaren und eher unglücklichen Enden hat, für den ist "Die Schlange von Essex" perfekt.