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Veröffentlicht am 13.09.2023

Für mich das Buch des Jahres!

Kleine Probleme
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Am Ende des Jahres sitzt Lars wieder einmal mit der Liste unerledigter Dinge da. Dabei hatte er sich so viel vorgenommen. Und dann ist seine Frau Johanna auch noch weg. Nicht mehr ausgehalten hat sie es ...

Am Ende des Jahres sitzt Lars wieder einmal mit der Liste unerledigter Dinge da. Dabei hatte er sich so viel vorgenommen. Und dann ist seine Frau Johanna auch noch weg. Nicht mehr ausgehalten hat sie es mit seinen unerfüllten Träumereien, Hoffnungen und dem immer wieder enttäuscht werden.
Doch heute soll alles anders werden. Er wird die Liste abarbeiten und endlich alles schaffen, was so liegen geblieben ist, Steuererklärung, Nudelsalat, Vater anrufen. Alles Dinge, die fast jeder so auf seiner Liste hat. Und wir begleiten ihn dabei: beim Anfangen, beim doch noch mal aufs Handy schauen, beim abgelenkt sein vom wichtigen Internetsurfen, beim wieder anfangen, fast aufgeben und sich doch nochmal aufraffen. Das alles ist wunderbar beschrieben. Lars Gedanken können so weit abschweifen. Und während er so vor sich hindenkt, bearbeitet er viele gesellschaftsrelevante Themen. So ganz nebenbei. Kein Wunder, dass er zu vielen praktischen Dingen gar nicht kommt.
Diese Gedankenspiele sind für mich die unglaubliche Stärke des Buches. Wenn er philosophiert, welche Merkmale ein Mann heute braucht, um wahrgenommen zu werden. Wenn er alltagsklug feststellt „Wenn es hart auf hart kommt, kann man alles schaffen, aber meistens kommt es weich auf weich, und da bleibt man besser liegen“. Wenn er über Inspiration und Kreativität nachdenkt („Kunst zu machen, in dieser durchalgorithmisierten Netflix- und Marvel- und Spotify-Epoche,…“). Das alles kann man schon zweimal lesen, so genau beobachtet Nele Pollatschek.
Am Ende geht den philosophischen Betrachtungen ein bisschen die Luft aus. Dennoch ist das Buch für mich grandios in seinen Betrachtungen der heutigen Gesellschaft und wie viel es braucht, darin mit all den kleinen Problemen nicht unterzugehen.

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Veröffentlicht am 07.09.2023

Berührend, beeindruckend und vielschichtig

Wellenkinder
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Was für ein berührendes Buch! Liv Marie Bahrow verknüpft gekonnt deutsch-deutsche Geschichte mit einer Familientragödie.
Erzählt wird dies alles aus der Perspektive von drei Hauptpersonen, deren Verbindung ...

Was für ein berührendes Buch! Liv Marie Bahrow verknüpft gekonnt deutsch-deutsche Geschichte mit einer Familientragödie.
Erzählt wird dies alles aus der Perspektive von drei Hauptpersonen, deren Verbindung sich erst nach und nach aufklärt.
Da ist Jan, irgendwie rastlos und abgekoppelt von seinen Empfindungen, Familienvater und derzeit getrennt lebend von seiner Frau. Da es nun Erkenntnisse zum frühen Tod seiner Mutter gibt, muss er in die alte Heimat. Da erwartet ihn nicht nur ein todkranker Vater, sondern er muss permanent Neues über seine Ursprungsfamilie verarbeiten.
Eine andere Perspektive gibt Margit. Kriegskind, Flüchtlingskind, in der DDR angekommen und dem Land stets dienend. Ihre Geschichte ist so typisch für die frühen Jahre des Aufbaus. Nicht fragen, anpacken, wo es nur geht, linientreu und die kleine Welt der Familie so heile wie möglich gestalten. Sehr beeindruckend ist die Sequenz, in der die Flucht ihrer Familie beschrieben wird.
Richtig erschütternd ist Odas Geschichte. Sie ist DDR-Bürgerin und versucht aus Liebe zu einem Mann und Sehnsucht zu ihrem im Westen lebenden Vater über die Ostsee in die BRD zu fliehen. Dies gelingt nicht und sie kommt in den gefürchteten Frauenknast Hohenschönhausen. Was sie hier erlebt, ist gar nicht ausführlich erzählt. Doch die kurzen Einblicke in Odas Gefühlswelt und das, was sie erleben muss, lässt einem wirklich das Blut in den Adern gefrieren.
Das Buch spricht ganz viele Ebenen an. Da sind die Einzelschicksale, an denen deutlich wird, wie sehr Kindheitserlebnisse das komplette Leben prägen können. Da ist das Leben in der DDR. Da ist die Flucht vor dem Krieg. Da ist der Kampf um die eigene Familie. Es geht um Freundschaften und Vertrauen. Und trotz all der Vielschichtigkeit ist das Buch nicht überladen, weil jeder Charakter genau die Geschichten zugeschrieben bekommt, die er für das Verstehen benötigt.
Für mich ein sehr beeindruckendes, nachhallendes Buch.

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Veröffentlicht am 27.08.2023

Ein wunderbares Buch über Vertrauen, Ankommen und starke Frauen

Tage im warmen Licht
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Selten hat mich ein Buch - obwohl im Grunde vorhersehbar - so abgeholt. Kristina Pfister beobachtet genau. Und das gilt nicht nur für ihre liebevoll gezeichneten Charaktere, sondern auch für Stimmungen. ...

Selten hat mich ein Buch - obwohl im Grunde vorhersehbar - so abgeholt. Kristina Pfister beobachtet genau. Und das gilt nicht nur für ihre liebevoll gezeichneten Charaktere, sondern auch für Stimmungen. Die Beschreibung des Heimatortes von Maria versetzt mich zurück in meine Kindheit. Beim Lesen habe ich das Gefühl, selbst mitten in der Geschichte zu stecken. Die Bilder in meinem Kopf sind ganz lebendig. Ich mag die Figuren, ihre Wut und Störrigkeit, ihre Weisheit und Gelassenheit.

Maria - mit ihrer Tochter notgedrungen weg gezogen von München - wird in ihrer alten Heimat mit ihrer Vergangenheit konfrontiert. Sie ist nicht grundlos vor 22 Jahren weggegangen und muss sich nun entscheiden, ob sie die Geschehnisse von damals abschließen kann. Sie muss herausfinden, ob sie vertrauen will, ob sie ankommen will in der alten Heimat.

Wir ahnen, was passiert ist, auch wenn die Wahrgheit nur stückweise ans Licht kommt. Ich leide mit Maria, die einfach nicht weiß, wie sie klar kommen soll mit all ihren Erinnerungen, wie sie um sich wütet, wie sie trauert. Zum Glück hat sie starke Frauen um sich herum. Die Oma - nicht mehr lebendig aber doch so nah -, vor allem aber Martha, die eine Stütze für viele Frauen des Ortes ist.

Das Eintauchen in die Gefühlswelten, das Begleiten der Entwicklung von Maria und ihrer Tochter ist für mich ein wahres Lesevergnügen.

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Veröffentlicht am 20.08.2023

Eine aberwitzige Geschichte – wunderbar umgesetzt

Kommissar Jennerwein darf nicht sterben
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Kommissar Jennerwein macht Urlaub. Die geheimnisvolle Gattin (wunderbar die versteckten Andeutungen im ganzen Buch!) hat ihn überzeugt, dass er eine Auszeit braucht. Doch er kann nicht aus seiner Haut. ...

Kommissar Jennerwein macht Urlaub. Die geheimnisvolle Gattin (wunderbar die versteckten Andeutungen im ganzen Buch!) hat ihn überzeugt, dass er eine Auszeit braucht. Doch er kann nicht aus seiner Haut. Schon am Frühstücksbuffet entdeckt er zwielichtige Gestalten: so fallen ihm professionelle Buffetschmarotzer und bedauernswerte Küchenspringer ins Auge. Diese wunderbar abstrusen Nebengeschichten machen das Buch so besonders. Feine Formulierungen, ausgewählte Adjektive zur Beschreibung von sonderbaren Situationen – das alles ist ein köstliches Lesevergnügen.
Natürlich wird Jennerwein nicht in Ruhe urlauben. Ein Mann ist verschwunden und nur Jennerwein scheint in der Lage, ihm hinterher zu spüren. Und so taucht er ein in die Fabrik der Zukunft. KI, virtuelle Welten, sprechende Roboter, echte Menschen(?). In dieser unbekannten Welt lauert überall Gefahr für Jennerwein.
Aber auch in der realen Welt droht Ungemach. Mehrere Parteien trachten Jennerwein nach dem Leben. Warum? Die vielfältigen Gründe sind wunderbar unterhaltsam beschrieben. Und falls man selbst mal in so eine Situation gerät? Jörg Maurer hat zum Glück einen Praxistipp parat: „Nehmen Sie sich beim nächsten Einkauf die Zeit und drehen Sie sich in der Warteschlange um. Der Schlaks, der gerade ungeschickt seine Milchtüten aufs Band legt, ist in den meisten Fällen ein Auftragsmörder. Sprechen Sie ihn ruhig darauf an. Streitet er es ab, beweist das ja gerade, das er einer ist. Wechseln Sie in diesem Fall sofort den Wohnort.“
Mit einem Schmunzeln liest man sich durch den Fall, der sehr amüsant und voller erstaunlicher Geschichten ist. Für mich ist es ein deutlich besseres Buch als der letzte Jennerwein Fall, wenngleich ich das gesamte Team im Buch schon ein bisschen vermisse.

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Veröffentlicht am 14.05.2023

Wann beginnt (Mit)Schuld?

Komplizin
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Sarah ist Cineastin durch und durch. Und sie ist überglücklich, als sie in einer kleinen Film-Produktionsfirma als Assistentin anfangen kann. Bald ist sie dort unentbehrlich. Fleißig, hochprofessionell, ...

Sarah ist Cineastin durch und durch. Und sie ist überglücklich, als sie in einer kleinen Film-Produktionsfirma als Assistentin anfangen kann. Bald ist sie dort unentbehrlich. Fleißig, hochprofessionell, unsichtbar. Sie fühlt sich wohl in dieser Welt und ist fasziniert vom Filmbusiness. In dieses steigt sie noch tiefer ein, als Hugo, ein super reicher Engländer, in die Firma investiert. Er verkörpert den Typ „was kostet die Welt“, schmeißt Partys und ist überzeugt, dass er mit seinem Geld alles bekommen kann, was er will. Und er will Macht. Macht über die Frauen in seiner Umgebung, Macht über den Film, Macht über die Firma.
Winnie M Li nimmt die Leser mit in die Welt hinter die Kulissen des Filmschaffens. Wir erfahren, wie viel Organsiation zu einem Dreh gehört, wie viele Menschen einen (unsichtbaren) Beitrag leisten und wie viel Zeit und Geld notwendig sind, um einen Film zu drehen. Das allein ist schon fast ein Buch wert.
Doch dies alles ist nur Mittel zum Zweck. Denn es geht um #metoo, es geht darum, was NEIN bedeutet, es geht um die typischen männlichen Spielchen um Macht, Überlegenheit und Stärke.
In Rückblenden erzählt Sarah ihre Geschichte und quält sich mit vielen Fragen. Was hätte sie als zuständige Verantwortliche am Set bemerken müssen? (Wann) hätte sie eingreifen müssen? Wann ist das Ganze eigentlich gekippt? Und (wie) hätte sie sich selbst schützen können?
Winnie M Lis Schreibstil ist dabei fast sachlich. Auch wenn Sarah ihre Geschichte in der Ich-Perspektive erzählt, bleibt sie eher dokumentarisch. Und trotzdem sind ihre Verzweiflung und Enttäuschung, ja fast Ohnmacht, überdeutlich spürbar.
Das Buch berührt, weil es ehrlich und selbstkritisch ist. Die Filmindustrie ist ganz fein und in vielen Nuancen beleuchtet – das macht alles sehr glaubwürdig.

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