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Veröffentlicht am 01.11.2023

Morally gray is my favorite color ...

Starling Nights 1
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Wenn auf einem Buchcover der Name von Merit Niemeitz steht, brauche ich eigentlich keine weiteren Gründe, um die Geschichte unbedingt kennenlernen zu wollen. Denn Merit hat einen feinfühligen, ehrlichen ...

Wenn auf einem Buchcover der Name von Merit Niemeitz steht, brauche ich eigentlich keine weiteren Gründe, um die Geschichte unbedingt kennenlernen zu wollen. Denn Merit hat einen feinfühligen, ehrlichen und so klugen Schreibstil, dass sie mich allein durch ihre Worte absolut zu verzaubern weiß. Auch im Auftaktband der “Starling Nights”-Dilogie gab es unzählige Zitate und Textpassagen, die ich mir nicht nur markieren, sondern am liebsten gleich fest in meine Erinnerungen tätowieren lassen wollte.

“Dark Academia” ist mittlerweile zu einem Schlagwort geworden, das auf nahezu jede Geschichte gestempelt wird, die an elitären Universitäten spielt. In “Starling Nights” sind die Dark-Academia-Vibes aber von der ersten bis zur letzten Seite wahrhaftig: Man spürt die Kälte der Steinmauern der Trinity Hall an den eigenen Fingerkuppen und das mysteriöse, fast geisterhafte Flüstern in den Gängen in den Ohren. “Starling Nights” ist atmosphärisch so stark, dass man sich ganz und gar in die Geschichte fallen lassen kann.

Mabel und Cliff unterstützen diese Stimmung mit ihren Persönlichkeiten perfekt. Wissbegierig, nachdenklich und in sich gekehrt, mit einer gesunden Portion Skepsis und einem leichten Hang zur Melancholie: Die Beiden haben sich in Windeseile in mein Herz geschlichen. Cliff, der von Mabel nicht umsonst den Spitznamen Heathcliff bekommt, war dabei mein persönliches Highlight. Wer eine Vorliebe für morally gray Charaktere hat, die eine gewisse Ähnlichkeit zu tragischen Helden englischer Klassiker aufweisen: Ich versprech’s euch, ihr werdet Cliff lieben.

Der Fantasy-Part in “Starling Nights” ist schaurig-schön, ebenso mysteriös wie düster und dabei trotzdem so realistisch in die Geschichte eingewoben, dass es sich fast gar nicht übernatürlich angefühlt hat. Ich habe lange im Dunkeln getappt, was der Bund der Stare wohl zu verheimlichen versucht, und hatte unheimlich viel Spaß dabei, den geheimnisvollen Spuren zu folgen. Dass die Charaktere hier durchaus auch bereit sind, für ihre Prinzipien und Ziele gnadenlose Opfer zu bringen, macht die Geschichte für mich ebenso bittersüß wie authentisch. Aber Achtung: Die Triggerwarnung sollte unbedingt beachtet werden.

Die Geschichte von Mabel und Cliff ist mit diesem Band zwar abgeschlossen, doch die düsteren Geheimnisse um den Bund der Stare lassen nach der letzten Seite so manche Fragen offen. Und auch einzelne Charaktere haben nach den nervenaufreibenden Ereignissen des Finales noch eine eigene Geschichte zu erzählen … Mit “Im Glanz der Ewigkeit” geht es also zurück nach Cambridge - mit einem spannenden Pärchen, alten Bekannten und neuen Mysterien.

  • Einzelne Kategorien
  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 12.03.2023

Giftig-glückliche Lesestunden voller Twists und Geheimnisse

Silver & Poison, Band 1: Das Elixier der Lügen (SPIEGEL-Bestseller)
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Ein magisches New York, mysteriöse Todesfälle und zwielichtige Charaktere: Das sind die perfekten Zutaten für den spannungsgeladenen Romantasy-Cocktail, den uns Anne Lück mit ihrer „Silver & Poison“-Dilogie ...

Ein magisches New York, mysteriöse Todesfälle und zwielichtige Charaktere: Das sind die perfekten Zutaten für den spannungsgeladenen Romantasy-Cocktail, den uns Anne Lück mit ihrer „Silver & Poison“-Dilogie kreiert hat. Und eines direkt vorweg: Wer nur einmal „ein Schlückchen probieren“ aka reinlesen möchte, hat keine Chance. Der Auftaktband ist ein großartiger Pageturner, den man gar nicht zur Seite legen möchte.

Gleich mit der ersten Seite wirft uns die Autorin mitten ins Geschehen: Auf dem Weg zu ihrem Job als Barkeeperin entdeckt Protagonistin Avery einen Tatort. Da sie selbst zu den magischen Menschen in New York gehört, erkennt sie anhand des Geruchs vom alten Papier, dass es sich bei dem Opfer ebenfalls um eine magische Person handelt. Und ausgerechnet Adam Hayes, ihr Schwarm aus Teenager-Zeiten, ist als Detective an dem Fall dran. Für Avery ist das allerdings alles andere als ein Grund zur Beruhigung. Denn sie selbst ist in zwielichtige Machenschaften verwickelt, die niemals auffliegen dürfen …

Was „Silver & Poison“ für mich so spannend gemacht hat, ist die tolle Mixtur aus unterschiedlichen Genre-Elementen. Während die aufregenden Crime-Elemente dafür sorgen, dass unser Herz ins Stolpern gerät, lässt es das gelungene Magie-System wieder höherschlagen. „Silver & Poison“ liest sich herrlich frisch, bietet eine einzigartige Geschichte, die mit neuen Ideen und innovativen Interpretationen überzeugt.

Aber auch die Charaktere und die Storyentwicklung haben mir sehr gut gefallen. Avery als Protagonistin, die sich selbst alles andere als vorbildlich verhält und mit ihrem eigenen moralischen Kompass hadert, macht es sicherlich nicht allen Leser:innen leicht, ich persönlich mochte sie aber genau deshalb so gern, dass ich mich gerne mal auf einen Cocktail mit ihr verabreden würde. Die Geschichte hat außerdem so viele Facetten und noch mehr Geheimnisse zu bieten, sodass es zwischen den Buchdeckeln niemals langweilig wird – und man nach der letzten Seite umso gieriger auf den Folgeband stiert ...

Was im ersten Band noch nicht ganz für mich funktioniert hat, war der romantische Part der Geschichte. Die Beziehung zwischen Avery und Hayes und ihre Gefühle füreinander waren wenig greifbar. Das Knistern fehlte mir sogar so sehr, dass ich es eher zwischen Avery und einem anderen Charakter wahrgenommen habe. Aber da der Auftakt auch ohne die großen Gefühle mehr als genug zu bieten hat, lasse ich mich hier auch gerne erst im zweiten Band überzeugen.

Fazit:
Wer in der breiten Masse der Neuerscheinungen nach einer Geschichte sucht, die einen spannenden Genre-Mix bietet: Here you go! Untermalt wird „Silver & Poison“ von mitreißenden Twists, zwielichtigen Charakteren und einem Schreibstil, der einen durch die Seiten fliegen lässt. Mich hat der Auftakt der Dilogie absolut überzeugt und ich freue mich schon sehr auf die Fortsetzung.

Veröffentlicht am 26.02.2023

»If I can make it there, I'll make it anywhere ... It's up to you, New York! ❤️

Let's be wild
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Willkommen bei Greenwood & Steele! In "Let's be wild", dem ersten Band eines Gemeinschaftsprojekts von Anabelle Stehl und Nicole Böhm, ist die angesagteste Influencer-Agentur New Yorks der Dreh- und Angelpunkt ...

Willkommen bei Greenwood & Steele! In "Let's be wild", dem ersten Band eines Gemeinschaftsprojekts von Anabelle Stehl und Nicole Böhm, ist die angesagteste Influencer-Agentur New Yorks der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte - nicht nur für uns Leser:innen, sondern auch für die vier Protagonist:innen, die wir auf ihren ganz persönlichen New-York-Abenteuern begleiten dürfen.

Wir treffen auf Shae, die in der Agentur ihres verstorbenen Onkels und Mentors Fuß fassen und sich einen eigenen Namen machen möchte. Begleitet wird sie von ihrem besten Freund Tyler, der alle Zelte abgebrochen hat, um Shae mit nach New York und in die Agentur begleiten zu können. Beruflich schon fest im Leben, aber dafür mit ganz privaten Päckchen beladen ist Ariana, die trotz ihres jungen Alters längst nicht mehr aus den Agentur wegzudenken ist. Und dann ist da noch Evie, die begabte Fotografin aus Deutschland, die möglicherweise etwas zu unbedacht in den Tag hinein lebt.

Alle vier Charaktere haben eines gemein: Sie suchen in New York ihr eigenes, ganz persönliches Glück. Dass das mit all den Stolpersteinen, die das Leben zu bieten hat, nicht sonderlich leicht wird, ist schnell klar. Doch tatsächlich sind es bei den vier Protagonist:innen nicht bloß Steinchen, sondern ganze Gebirgsbrocken, die bewältigt werden müssen. Die Geschichte fokussiert sich auf sehr reflektierte Weise auf die Entwicklungen der einzelnen Figuren und thematisiert dabei zeitkritische und relevante Themen, die auch mich – fernab von New York – in meinem Alltag beschäftigen. Dadurch bin ich geradezu durch die Seiten geflogen und hätte mich nicht selten mit auf die Couch der vier Freund:innen gewünscht, um mit ihnen gemeinsam auf (Miss-)Erfolge anzustoßen. Die Freundschaft ist der Kern von „Let's be wild“ und hat mir ein sehr wohliges, schönes Lesegefühl geschenkt.

Im Nachwort machen es Anabelle und Nicole ganz deutlich: Sie wollten eine Geschichte mit dem Vibe der Serie "The Bold Type" schreiben - und das ist ihnen in meinen Augen absolut gelungen. Auch wenn die Serie mich persönlich noch ein kleines bisschen mehr abholen konnte, bietet "Let's be wild" alles, was man sich für einen Serienmarathon in Buchform wünschen kann: ein atmosphärisches Setting, abwechslungsreiche Figuren, starke Freundschaften und genau die Portion Drama, die fesselt, ohne "too much" zu sein. An einigen Stellen hätte ich mir zwar durchaus einen tiefgreifenderen Blick gewünscht, dafür steht uns aber ja mindestens noch ein weiterer Band bevor.

Durch das Alter der Charaktere fällt "Let's be wild" zwar nicht mehr in die klassische New-Adult-Kategorisierung, dennoch war ich sehr verwundert darüber, in dem Dilogie-Auftakt keinerlei Trigger-Warnung vorzufinden. Dabei wäre sie aufgrund der Erlebnisse und Traumata, von denen die Protagonist:innen im Verlauf mehr und mehr erzählen, in meinen Augen durchaus angebracht gewesen. Die Autorinnen gehen vorsichtig mit den einzelnen Themen um und behandeln sie teilweise bloß sehr oberflächlich, trotzdem bleibt die Bitte: Wer sich von Themen wie Verlust, Trauer, Belästigung und auch Anxiety getriggert fühlen könnte, sollte sich beim Verlag am besten vorab genauere Infos einholen.

Fazit:
Wer so wie ich nach „The Bold Type“ verzweifelt nach Nachschub gesucht hat, der starke Figuren, starke Themen und ein ebenso starkes Setting verknüpft: „Let's be wild“ ist die Geschichte, die ihr braucht!

Veröffentlicht am 20.12.2022

Borka, das Löwenmädchen - authentisch, eindringlich und mitreißend

Lioness
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Inhalt:
Aufgewachsen im Dickicht des Waldes und erzogen von zwei Löwen, lebt die 18-jährige Borka ein vermeintlich friedliches Leben - bis eines Tages die Töter auftauchen. Menschen, die es auf die Tiere ...

Inhalt:
Aufgewachsen im Dickicht des Waldes und erzogen von zwei Löwen, lebt die 18-jährige Borka ein vermeintlich friedliches Leben - bis eines Tages die Töter auftauchen. Menschen, die es auf die Tiere des Waldes abgesehen haben. Borka kann das Unglück nicht aufhalten und muss dabei zusehen, wie ihrer Familie Grausamkeiten angetan werden. die sie niemals vergessen wird. Wild entschlossen, ihre Löweneltern aus den Fängen der Töter zu befreien, wagt sich Borka in die Welt der Menschen - und findet ihre Eltern in einer Arena, in der sie gegen den Thronfolger Fjodor um ihr Leben kämpfen müssen. In letzter Sekunde kann Borka das schlimmste verhindern – und den König so von sich überzeugen, dass er ihr einen Deal anbietet: Wenn Borka seinen Sohn, den Prinzen, auf einer Reise beschützt, wird er ihre Eltern und sie freilassen. Widerwillig lässt sich Borka auf den Handel ein, ohne zu ahnen, was sie auf dieser Reise erwarten wird...

Meine Meinung:
Ein Menschenkind, das von Tieren aufgezogen wird und die Wälder sein Zuhause nennt. Eine Hauptfigur, die sich nach Antworten bezüglich ihrer Herkunft sehnt. Menschen, die den friedlichen Raum der Tiere stören und keinen Respekt vor wildem Leben haben. Ein Abenteuer, das die Balance wiederherstellen muss, um den Frieden zu wahren. Gleich zu Beginn der Geschichte hat mich eine Atmosphäre gepackt, die mich an „Tarzan“ erinnert hat, auch wenn „Lioness“ – zumindest im direkten Vergleich zur Disneyverfilmung – noch mehr Opfer von den Charakteren fordert.

Aber machen wir noch einen Schritt zurück: „Lioness – Wohin dein Herz dich führt“ ist das erste Buch, zu dem ich nach einer langen Lesepause gegriffen habe – und es war die richtige Entscheidung! Die Geschichte beginnt so rasant, so aufwühlend, so dramatisch, dass ich mich der Welt des Löwenmädchens ab der ersten Seite nicht entziehen konnte und sie unbedingt auf ihrem Abenteuer begleiten wollte. Ich war allerdings sehr überrascht davon, wie heftig „Lioness“ schon in den ersten Kapiteln beginnt – und auch bis zum Schluss immer wieder wird. Kathy Tailor schreckt nicht vor deutlichen Beschreibungen zurück und mutet ihrer Protagonistin Borka viel zu.

Im Klappentext wird „Lioness“ als Romantasy beschrieben, wodurch meine Erwartungen an die gesamte Geschichte eine andere waren. Es gibt zwar eine Liebesgeschichte mit einer wichtigen Rolle in Borkas Abenteuer, diese nimmt insgesamt jedoch einen sehr kleinen Part im gesamten Roman ein. Für mich ist „Lioness“ viel mehr ein YA-Fantasy-Roman, der die Bedeutung von Familie thematisiert, ganz unabhängig von einer Blutsverwandtschaft. Der auf einer besonderen Beziehung zwischen Mensch, Tier und auch Natur aufbaut. Der ein aufregendes Abenteuer voller Intrigen in die Köpfe der Leser:innen zu malen vermag. Und vor allem: Der von der Suche nach sich selbst und der eigenen Akzeptanz erzählt. „Lioness“ hat mir großartige Lesestunden geboten – aber Romantasy-Vibes hatte ich kaum.

In „Lioness“ gibt es eine Fülle an Charakteren, doch der Fokus liegt ganz eindeutig auf Protagonistin Borka, die die Leser:innen auch mit ihren Augen durch die Geschichte führt. Obwohl sie viel Ballast mit sich trägt – die Fragen zu ihrer wahren Herkunft, die Schatten ihrer traumatischen Erlebnisse vor der Reise mit dem Prinzen und all die Probleme, denen sie sich erst dort stellen muss –, ist sie eine wahre Löwin. Sie gibt niemals auf, macht aller Wunden zum Trotz Mut und behält ihre Ziele fest im Blick. Borka macht es einem leicht, sie in das eigene Herz zu schließen, und war für mich eine Protagonistin mit Ecken und Kanten, die ich gerne noch länger begleitet hätte.

Aber nicht nur mit Borka hätte ich gerne mehr Zeit verbracht. Kathy Tailor hat in ihrem Roman eine Welt aufgebaut, die ich gerne noch genauer kennengelernt hätte. Dank ihres bildhaften und atmosphärischen Schreibstils konnte man sich wunderbar in die Schauplätze des Geschehens hineinfühlen. Gerne hätte ich die Gemäuer der Städte noch genauer ausgekundschaftet, wäre mit Borka tiefer durch die Wälder gestromert – sollte sich dazu irgendwann noch einmal die Gelegenheit ergeben, lasse ich mir diese Chance definitiv nicht entgehen!

Da sich die Geschichte an eine jugendliche Zielgruppe richtet, hätte ich bei der Fülle an schwer verdaulichen Themen zwischen den Buchdeckeln eine Triggerwarnung erwartet.

Fazit:
„Lioness – Wohin dein Herz dich führt“ hat mir wundervolle Lesestunden beschert. Gemeinsam mit Borka, die mich mit ihrem aufrichtigen Löwenherz ganz und gar für sich gewinnen konnte, hätte ich am liebsten noch viel mehr Kathy Tailors Fantasy-Welt entdecken wollen. Dass die Geschichte so viele heftige und dramatische Szenen enthalten würde, hatte ich zwar nicht erwartet, doch alle Szenen haben Borkas Abenteuer zu dem gemacht, was es ist: Authentisch, eindringlich und mitreißend. Eine klare Empfehlung für alle YA-Fantasy-Fans, die sich zwischen den Seiten eine Liebesgeschichte wünschen, die nicht zu stark in den Vordergrund tritt.

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Veröffentlicht am 29.11.2017

Bewegend, fordernd, eindringlich

Alles, was wir geben mussten
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„Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro ist ein Roman, der mich bewegt und nachdenklich gestimmt hat. Ein Roman, über den ich reden und diskutieren, den ich weiterempfehlen will! Doch das ist ...

„Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro ist ein Roman, der mich bewegt und nachdenklich gestimmt hat. Ein Roman, über den ich reden und diskutieren, den ich weiterempfehlen will! Doch das ist gar nicht so leicht, ohne den Dreh- und Angelpunkt der Geschichte zu verraten, der für all das unbeschreibliche Entsetzen verantwortlich ist, das einen während des Lesens beschleicht.

Kurzum: „Alles, was wir geben mussten“ ist eine Dystopie. Keine der leichten, unterhaltsamen Sorte, sondern eine anspruchsvolle, fordernde, die ihrem Leser nicht einfach ein paar vergnügsame Lesestunden beschweren will. Kazuo Ishiguro erzählt eine Geschichte, die sich mit (scheinbar) dystopischen Elementen beschäftigt, allerdings in der Vergangenheit angesiedelt ist und in den 70er Jahren beginnt. Die Handlung zieht sich durch die Jahrzehnte bis in die Gegenwart, was für ein ganz ungutes Gefühl sorgt: Könnte das, was Kazuo Ishiguro beschreibt, in unserer Zeit, unserer Welt tatsächlich geschehen?

Erzählt wird die Geschichte von Protagonistin Kathy, die mit ihren 31 Jahren als Betreuerin arbeitet. Sie berichtet in Rückblenden von ihrem Leben: ihrer Kindheit und Jugend in dem wohlsituierten und angesehenem Halisham, in dem besonders viel Wert auf die Kollegialität und die Kreativität der Schüler gelegt wird, und ihrer Zeit danach als junge und freie Erwachsene, bis Kathy schließlich von ihrem beruflichen Werdegang und ihren Erfahrungen erzählt. Passend dazu ist der Roman in drei Abschnitte unterteilt.

Schon nach wenigen Seiten wird einem klar: Irgendetwas geht hier nicht mit rechten Dingen zu. Obwohl man die Einzelheiten, wie zum Beispiel der sonderliche Umgang, die Andeutungen Kathys und die Unterhaltungen zwischen den Kollegiaten, ohne den Blick über das große Ganze nicht versteht, spürt man den grausig-schaurigen Unterton der Geschichte deutlich. Je weiter man in der Handlung voranschreitet, desto deutlicher wird, worum es in „Alles, was wir geben mussten“ tatsächlich geht. Dass Kazuo Ishiguro Themen behandelt, die man lange geahnt, aber nicht wahrhaben wollte. Und dennoch trifft es einen mitten in der Magengrube, wenn die Wahrheit im zweiten Teil des Romans endlich ausgesprochen wird.

Was Kazuo Ishiguros Geschichte so besonders, so speziell und vor allem einzigartig macht, ist die stille und harmlose Atmosphäre, die zwischen den Buchdeckeln extrem präsent ist. Sie steht im starken Kontrast zur Handlung und sorgt damit für ein Gänsehaut-Feeling, das es in sich hat. Vor allem Kathy will mit ihrer ruhigen Art nicht in die Geschichte passen – oder besser: Man möchte es als Leser selbst nicht, dass sie es tut. Sie sollte schreien, weinen, um sich schlagen! Stattdessen prügelt sie mit ihrer perfekt passenden Art, ihrem Realitätsbezug, der einem selbst beinahe verloren geht, den Lesern ein Gefühl unter die Haut, das einen noch lange beschäftigt. Kombiniert mit Ishiguros emotionslosem Schreibstil verschlägt einem „Alles, was wir geben mussten“ wahrlich die Sprache.

Fazit:
„Alles, was wir geben mussten“ ist eine Dystopie, die nicht einfach unterhalten, sondern zum Nachdenken bewegen, fordern, aufwühlen will. Kazuo Ishiguro hat einen bedrückenden und eindringlichen Roman geschrieben, der mich in jeglicher Hinsicht begeistert hat. Schon während des Lesens wollte ich über die Geschichte diskutieren, in sie abtauchen und schreien, die Charaktere an den Schultern rütteln! Doch Ishiguros eiskalter Schreibstil und seine einzigartige Art, eine schrecklich realistische Geschichte auf brutal ehrliche Weise zu erzählen, hat mich immer wieder erstarren lassen und mich sprachlos gemacht. „Alles, was wir geben mussten“ von Kazuo Ishiguro ist mehr als lesenswert. Eine Dystopie mit Anspruch, die genau deshalb nachdenklich stimmt, weil sie nicht völlig abwegig ist.