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Veröffentlicht am 25.09.2024

Ein tiefgründiges Buch!

Sing, wilder Vogel, sing
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SING, WILDER VOGEL, SING
Jacqueline O’Mahony

Doolough, Irland 1849:
Honora war von Geburt an an das Gefühl des Ausgeschlossenseins gewöhnt. Ihr Leben begann unter einem düsteren Vorzeichen – ein Rotkehlchen ...

SING, WILDER VOGEL, SING
Jacqueline O’Mahony

Doolough, Irland 1849:
Honora war von Geburt an an das Gefühl des Ausgeschlossenseins gewöhnt. Ihr Leben begann unter einem düsteren Vorzeichen – ein Rotkehlchen flog in das Zimmer ihrer Mutter, ein Zeichen des Unglücks. Tragischerweise folgte das Unheil sogleich: Ihre Mutter verstarb bei ihrer Geburt. Von ihrem Vater abgelehnt, wuchs Honora in einer Welt auf, die sie nicht willkommen hieß, von den anderen Kindern übersehen und verachtet.

Später heiratete sie William, doch auch diese Verbindung stand unter keinem glücklichen Stern. Die Hütte, die sie bewohnten, mussten sie aufgeben. Zu dieser Zeit wurde Irland von England verwaltet, und wiederkehrende Missernten führten zu der schlimmsten Hungersnot, die Irland je erlebt hatte.

Ende März sollten britische Beamte in Louisburg mit den betroffenen Iren zusammentreffen, um Hilfe zu leisten. Doch die Bewohner von Honoras Dorf machten sich wegen des starken Regens zu spät auf den langen Weg dorthin. Für die Alten und die bereits ausgehungerten Kinder war die Reise, auf der es stürmte und schneite, unerträglich. Als sie schließlich in Louisburg ankamen, erfuhren sie, dass sich die Beamten bereits ins zehn Meilen entfernte Jagdschloss zurückgezogen hatten. Um die erhoffte Unterstützung zu erhalten, mussten die Dorfleute die beschwerliche Nachtwanderung antreten. Doch die ersehnte Hilfe blieb aus. Fast das gesamte Dorf – 400 Menschen – starb. Keiner von ihnen kehrte je zurück.

Honora überlebte als Einzige. Um vor dem Hungertod zu fliehen, beschloss sie auszuwandern und die gefährliche Reise nach Amerika anzutreten, in der Hoffnung, dort Nahrung und Freiheit zu finden. Doch auch in New York war das Schicksal ihr nicht gnädig. Als Dienstmädchen ausgebeutet und nicht bezahlt, träumte sie von einem Neuanfang im Westen, in der weiten Prärie. Ob sie jedoch den Fluch des Rotkehlchens abschütteln kann, müsst ihr selber herausfinden.

Eindrucksvoll und tiefgründig verwebt O'Mahony die historische Tragödie von Doolough mit der fiktiven, aber kraftvollen Figur der Honora. Ihre Darstellung des großen Hungers, der Irland in jener Zeit heimsuchte, ist erschütternd und authentisch. Besonders beeindruckend ist die Verbindung zur Geschichte der indigenen Völker Amerikas:

Ein Dialog zwischen Joseph, einem indigenen Amerikaner, und der irischen Honora:
„Warum habt ihr nichts zu essen in eurem Land?“„Es kamen fremde Menschen aus einem anderen Land, sie nahmen uns das gute Land weg, und der Rest war kein gutes Land. Es gab Missernten, es gab nichts zu essen, und dann hungerten wir.“ Die Dinge hörten sich so leicht an, wenn man sie in Worte fasste. Joseph wandte den Blick von ihr ab in die dunkle Nacht. „Diese Menschen behaupten, wir seien Tiere, Wilde, nicht einmal Menschen, fuhr sie fort. (S. 327)
Im letzten Drittel der Geschichte gab es für mich eine kleine Länge, und der Plot konnte mich nicht vollends überzeugen. Dennoch schmälert dies nicht die Bedeutung und Dringlichkeit der Erzählung. Die Tragödie von Doolough muss erzählt werden, alleine schon, weil die britischen Beamten für ihre Inkompetenz nie zur Verantwortung gezogen wurden.

Fazit:
Ein großartiges, tiefgründiges Buch, das ich euch gerne empfehlen möchte.
4/½ / 5

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Veröffentlicht am 24.09.2024

Gutes Buch!

Zwei Leben
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ZWEI LEBEN
Ewald Arenz

1971:

Die junge Roberta kehrt nach ihrer Ausbildung als Schneiderin zurück auf den elterlichen Hof im kleinen Dorf Salach. Eigentlich träumte sie davon, als Schneiderin zu arbeiten, ...

ZWEI LEBEN
Ewald Arenz

1971:

Die junge Roberta kehrt nach ihrer Ausbildung als Schneiderin zurück auf den elterlichen Hof im kleinen Dorf Salach. Eigentlich träumte sie davon, als Schneiderin zu arbeiten, doch in der Fabrik, wo täglich nur Kittel und immer gleiche Schnitte gefertigt wurden, konnte sie sich nicht weiterentwickeln. Zudem ist sie das einzige Kind ihrer Eltern und fühlt sich verpflichtet, den Hof eines Tages zu übernehmen. Dass sie überhaupt eine Lehre machen durfte, war schon ein großes Zugeständnis ihres Vaters.

Zurück auf dem Hof begegnet sie Wilhelm, dem Sohn des Pfarrers, wieder. Seit ihrer Kindheit sind sie befreundet, und gemeinsam mit Wolfgang haben sie viele Nachmittage verbracht. Doch irgendetwas hat sich verändert. Es knistert zwischen ihnen, und die Schmetterlinge in ihrem Bauch lassen sie nicht zur Ruhe kommen. Schließlich verlieben sich die beiden ineinander.

Gertrud, die Frau des Pfarrers, fühlt sich schon lange fremd im Dorf Salach. Ihr Sohn steht kurz vor dem Erwachsenenalter und wird nach seinem Zivildienst studieren. Ihr Mann hatte ihr damals versprochen, nur für ein paar Jahre die Pfarrei in dem kleinen Dorf zu leiten. Danach wollten sie in die Stadt ziehen, doch aus den Jahren wurde gefühlt ein ganzes Leben. Während er in seiner eigenen Welt lebt und das Dorf genießt, bleibt ihr Unglück unbemerkt. Als sie die Chance erhält, ihren Bruder auf einer zweimonatigen Tagungsreise durch Europa zu begleiten, nutzt sie die Gelegenheit, um dem Dorf endlich zu entfliehen.

Wie diese beiden Schicksale miteinander verwoben sind und wie es weitergeht, müsst ihr allerdings selbst herausfinden.

Alle Bücher von Ewald Arenz kenne ich, und „Alte Sorten“ war für mich ein absolutes Highlight. Als ich hörte, dass auch dieses Buch wieder einen Hof als Schauplatz hat, war ich völlig begeistert. Dann wurde es mir sogar als sein bestes Werk angekündigt, und meine Erwartungen waren entsprechend hoch – vielleicht zu hoch. Denn die ersten zwei Drittel plätscherten für mich nur so dahin. Die Naturbeschreibungen sind zwar wunderschön und authentisch, aber nichts wirklich Neues. Erst das letzte Drittel konnte mich richtig fesseln. Es war so berührend, tiefgründig und intensiv, dass ich das Buch (und die Taschentücher) nicht mehr aus der Hand legen konnte.

Zusammenfassend würde ich sagen, dass es ein gutes Buch ist. Das Ende hat mich versöhnt, der Schreibstil ist – wie immer bei Arenz – authentisch und lebendig. Er schafft es, einem das Gefühl zu geben, einen langen, heißen Sommer inmitten der schönsten Natur erlebt zu haben. Außerdem gab es kleine Flashbacks, die mich daran erinnerten, dass die Zeit vergeht. Wer von euch erinnert sich noch an die alte Ariel-Trommel, in der man früher Dinge aufbewahrte?
4-/ 5

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  • Cover
  • Erzählstil
  • Handlung
  • Charaktere
Veröffentlicht am 20.09.2024

Gut

Tabu
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TABU
Ferdinand von Schirach
In "Tabu" nimmt Ferdinand von Schirach die Leser auf eine Reise in die tiefen Bereiche der menschlichen Psyche und Gesellschaft. Das Buch erzählt die Geschichte von Sebastian ...

TABU
Ferdinand von Schirach
In "Tabu" nimmt Ferdinand von Schirach die Leser auf eine Reise in die tiefen Bereiche der menschlichen Psyche und Gesellschaft. Das Buch erzählt die Geschichte von Sebastian von Eschburg, einem Künstler und Außenseiter, der in seiner Kindheit ein traumatisches Erlebnis durchmacht. Seitdem sieht er die Welt anders als die meisten Menschen.

Sebastian wird in einer kalten und einsamen aristokratischen Familie geboren. Schon früh verliert er den Kontakt zu traditionellen Werten und entwickelt eine abstrakte Sicht auf die Welt. Er wird Künstler und widmet sein Leben der Frage nach Wahrheit und der Bedeutung von Bildern. Doch plötzlich wird er eines Mordes verdächtigt und gerät in die Fänge der Justiz.

Hier kommt der erfahrene Anwalt Konrad Biegler ins Spiel. Er kämpft nicht nur um Sebastians Freiheit, sondern auch gegen ein Rechtssystem, das auf festen Überzeugungen und gesellschaftlichen Regeln basiert.

Von Schirachs Sprache ist knapp, kühl und distanziert, was gut zum Thema des Romans passt. Mit wenigen Worten schafft er starke Bilder und lässt die Leser in die Gedanken der Figuren eintauchen. Das Thema der Wahrnehmung und Wahrheit durchzieht das ganze Buch. Als Strafverteidiger bringt von Schirach dem Justizteil des Romans eine besondere Authentizität.

"Tabu" stellt Fragen zur Realität, Wahrnehmung und Kunst. Es regt zum Nachdenken über unser Rechtssystem und die menschliche Natur an.

Fazit:
Ein spannender und nachdenklicher Roman, ideal für Leser, die philosophische Justizromane schätzen.
4/5

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Veröffentlicht am 18.09.2024

Ein wichtiges Stück Geschichte

Junge aus West-Berlin
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DER JUNGE AUS WEST-BERLIN
Maxim Leo,
wunderschön Illustriert von Kat Menschik (Band 18 der Lieblingsbuchreihe)

Marc, ein Junge aus Süddeutschland, fühlt sich unsichtbar. Er ist ein schlaksiger Teenager, ...

DER JUNGE AUS WEST-BERLIN
Maxim Leo,
wunderschön Illustriert von Kat Menschik (Band 18 der Lieblingsbuchreihe)

Marc, ein Junge aus Süddeutschland, fühlt sich unsichtbar. Er ist ein schlaksiger Teenager, den die Mädchen weder anschauen noch wahrnehmen.
Alles änderte sich auf einer Klassenfahrt nach Ostberlin: Er verlor seine Gruppe und stand plötzlich allein auf dem belebten Alexanderplatz. Da sprach ihn ein Mädchen an und fragte, ob sie ihm helfen könne … Er konnte es kaum fassen – zum ersten Mal fühlte er sich gesehen. Und das auch noch von einem Mädchen!
Jahre später, nach dem Ende seiner Schulzeit, zieht Marc nach Westberlin und beginnt dort ein Studium. Doch seine wahre Leidenschaft entfaltet sich an den Wochenenden, wenn er nach Ostberlin reist, neue Freunde findet, auf Partys geht und das erste Mal das Gefühl hat, irgendwo wirklich dazu zu gehören. Sein abgebrochenes Studium und seinen Job als Stuhltransporteur verschweigt er jedoch. Stattdessen erfindet er eine glanzvolle Karriere in der Medienbranche und versorgt seine Freunde mit begehrten Westwaren wie Kassetten, Schallplatten und Büchern.

Als er Nele begegnet, steht sein Leben Kopf. Sie verlieben sich, streifen über die Dächer Ostberlins und verbringen magische Stunden in einem verlassenen Schloss. Doch Marc wird von der Lüge über seinen Job immer mehr eingeholt. Nele hält ihn für einen erfolgreichen Medienmogul, und der Moment, ihr die Wahrheit zu sagen, verstreicht immer weiter. Mit den wachsenden politischen Unruhen und den Demonstrationen im Sommer 1989 scheint Marc der Einzige zu sein, der den Mauerfall nicht herbeisehnt…

Was für eine großartige Geschichte! Maxim Leo und Kat Menschik, beide in Ostberlin aufgewachsen, weben hier eine Coming-of-Age-Erzählung, die zutiefst berührt. Obwohl sie damals nur wenige Straßen voneinander entfernt lebten und ihre Freundeskreise sich teils überschnitten, sind sich die beiden Autoren nie begegnet – eine faszinierende Parallele zur Handlung des Buches.

Dies ist bereits mein drittes Buch von Maxim Leo, und erneut bin ich von seinem Talent begeistert. Diese wichtige Geschichte, die mir am Ende das Herz gebrochen hat, gehört als Klassensatz in die Oberstufe und als Schmuckstück in jedes Bücherregal. Die wunderschöne Aufmachung mit dem pinken Farbschnitt macht es zu einem echten Hingucker.

Herzlichen Dank für die vielen kleinen Flashbacks.
5/5

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Veröffentlicht am 16.09.2024

Toll!

Ein letztes Geschenk
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EIN LETZTES GESCHENK
Calla Henkel
Die Künstlerin und Buchbinderin Esther Ray könnte nicht glücklicher sein: an ihrer Seite hat sie eine wunderbare Partnerin, sie leben in einem traumhaften Haus am See ...

EIN LETZTES GESCHENK
Calla Henkel
Die Künstlerin und Buchbinderin Esther Ray könnte nicht glücklicher sein: an ihrer Seite hat sie eine wunderbare Partnerin, sie leben in einem traumhaften Haus am See mit einer umgebauten Scheune, die sie als Atelier nutzen. Gemeinsam haben sie entschieden, sich ihren Wunsch von einem Baby in einer Kinderwunschklinik zu erfüllen – und das kurzfristig.

Am Tag des Besuches einer Vernissage, begegnet sie Naomi Duncan. Diese bietet ihr an, ein umfangreiches Familienalbum als Geburtstagsgeschenk für ihren Mann zu gestalten. Esther lehnt höflich ab, doch als sie später nach Hause kommt und erfährt, dass ihr Leben nicht wie geplant verlaufen wird, sieht sie sich gezwungen, das Angebot aus finanziellen Gründen wiedererwartend anzunehmen.

Schon bald trifft eine Lieferung von über 200 Kisten bei ihr ein, gefüllt mit Fotos, Erinnerungsstücken, Quittungen und Kontoauszügen. Der Umfang des Auftrags wird ihr plötzlich bewusst. Zudem muss sie eine Geheimhaltungsvereinbarung unterschreiben und darf Naomi nur über ein spezielles Handy kontaktieren.

Als Esther mit der Arbeit beginnt und Buchseite um Buchseite klebt, fällt es ihr zunehmend schwer, Distanz zu den Duncans zu wahren. Als einige Unstimmigkeiten auftauchen, steigert sich ihre Neugier, und sie ist überzeugt, einem Geheimnis auf der Spur zu sein. Als Naomi bei einem Skiunfall tödlich verunglückt, wird Esthers Besessenheit noch größer ...

Was für ein großartiges Buch! Schon auf den ersten Seiten hat mich die lebendige Geschichte in ihren Bann gezogen. Es war so spannend, dass ich nicht aufhören konnte zu lesen. Endlich mal wieder etwas völlig anderes, erfrischend und verrückt zugleich. Das Ende hatte ein paar Längen, doch das mindert keineswegs die Qualität der Story. Der Schreibstil ist locker, humorvoll und gibt der Inszenierung den letzten Schliff. Gerne empfehle ich dieses Buch weiter.
5/ 5

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