Die ungenutzte Macht der Worte
Babel“Babel” stammt aus der Feder von Rebecca F. Kuang. Ich habe es als Hörbuch, gesprochen von Moritz Pliquet, auf audible gehört. Beworben wird das Werk als epische Fantasy, verglichen mit Harry Potter, gelobt ...
“Babel” stammt aus der Feder von Rebecca F. Kuang. Ich habe es als Hörbuch, gesprochen von Moritz Pliquet, auf audible gehört. Beworben wird das Werk als epische Fantasy, verglichen mit Harry Potter, gelobt für seine vielfältige und scharfe Gesellschafts- und Kolonialismuskritik, ausgezeichnet mit diversen renommierten Preisen. Die Erwartungen waren hoch. Die eigene Leseerfahrung fiel zwiegespalten und etwas ernüchternd aus.
Die Geschichte spielt in den 1830er Jahren, grösstenteils in England, speziell in Oxford. In Kuangs Version der Geschichte existiert aber das Silberwerken - eine Form von Magie, die mit einer Kombination von Sprache und Silber funktioniert. Erzählt wird die Geschichte von Robin Swift, einem Jungen aus Kanton, der seine Familie an die Cholera verloren hat und von einem englischen Professor nach England eingeladen wird. Dort erhält er die nötige Bildung, um anschliessend in oxfordschen Babel, dem Sprachinstitut der Krone des Empires, seine Ausbildung anzutreten. Als Ausländer und somit chinesischer Muttersprachler ist er, genau wie seine Jahrgangsfreunde, sowohl besonders wertvoll, als auch eine Kuriosität im Herzen der Kolonialmacht. Und schon bald gerät Robin in den Irrgarten sich widerstreitender Loyalitäten und Moralvorstellungen.
Eingehen möchte ich hier zuerst auf den Fantasy Aspekt - denn schon hier fangen meine gemischten Gefühle an. Einerseits hat Kuang es hier meiner Meinung nach geschafft, ein beeindruckendes Setting zu erschaffen. Geschickt verwebt sie echte Geschichte mit Fiktion und die Magie in Form des Silberwerkens fügt sich nahtlos und organisch in die wahren Begebenheiten ein. Dadurch schafft sie eine prägnante Ausgangslage, welche die tatsächlichen Wirkmechanismen des Kolonialismus und das Machtmonopol des Empires noch prägnanter hervortreten lassen. Dieses Magiesystem ist ausserdem nicht nur für Sprachinteressierte äusserst spannend - es bietet sehr viel kreatives Potenzial für die Handlung und die ProtagonistInnen. Theoretisch jedenfalls. Denn so stimmig und ausführlich die magische Theorie für das Setting ist, bleibt es für Handlung und Charaktere weitgehend ungenutzt. Die Anwendung dieser Magie bleibt in der Geschichte Randerscheinung und schöpft kaum aus den kreativen Möglichkeiten.
Persönlich brauche ich nicht immer schnelle, actionreiche Einstiege oder einen rasanten Plot. Babels gemächlicher Einstieg in die Geschichte war für mich aufgrund der gefühlvollen Einführung in das spannende Setting und die interessanten Thematiken durchaus fesselnd genug. Sprachlich und stilistisch äusserst ansprechend führt Kuang durch den Sumpf von offenem und verdecktem Rassismus und Sexismus, von impliziter und expliziter Gewalt und der Bigotterie kolonialer, weisser Machtstrukturen. Unterstützt und gewürzt wird dieses ausdrucksstark gezeichnete Bild von geschickt platzierten Exkursen in die Linguistik und Translationstheorie.
Und wieder folgt dieselbe Kehrseite der Medaille: So detailreich und kunstvoll das Setting, der Rahmen, ausgearbeitet wurde, so sehr werden Handlung und Charaktere vernachlässigt. Die Nebenfiguren erhalten wenig mehr als eine Charaktereigenschaft - diese erhält zwar mehrere Facetten - die teilweise oder in Ansätzen beleuchtet werden - wirkt aber auch extrem, sogar verbohrt. Sie scheinen ausserdem vor allem dazu zu dienen, pointiert die Ansichten der Autorin zu transportieren. Und bleiben daher für mich eher leblos. Der Protagonist Robin wurde mir im Verlauf ausserdem immer unsympathischer - denn er ist vor allem ein Fähnlein im Winde, der bis zum Schluss der eigenen reflektierten Meinungsbildung unfähig bleibt. Seine Motive wurden für mich stetig schwächer, intellektuell unausgegorener und moralisch wie philosophisch äusserst fragwürdig. Im Allgemeinen scheinen mir die meisten Akteure einigermassen einfältig und etwas karikiert - auf allen Seiten.
Die Handlung dümpelt so vor sich hin, trumpft zwar hier und da mit kleineren Plot Twists und Überraschungen, lässt aber einen übergeordneten Spannungsbogen und damit eine fesselnde dramaturgische Struktur vermissen. Der auktoriale Erzählstil nimmt ausserdem schon sehr früh die Spannung für einen der grösseren Twists und Chekhovs Gun wird mehr als einmal zuverlässig und erwartungsgemäss abgefeuert. Die Handlung wird dann gegen Ende immer dramatischer und vor allem brutaler. Einerseits mag dies den Erfordernissen der Geschichte entsprechen, welche die Autorin erzählen will. Einige Ereignisse erschienen mir aber auch wie absichtlich eingesetzte Schockelemente und wirken auf mich etwas platt.
Und dann gibt es da noch die Eigenart von Kuang, mir als Leserin mit dem mahnenden Zeigefinger vor der Nase herumzufuchteln und mit ausufernder Ausführlichkeit meine Gedankengänge vorzuschreiben. Es wäre nämlich falsch zu sagen, dass “Babel” Fragen aufwirft. Das tut es nicht. Es beantwortet Fragen und lässt keinen Raum für Alternativen oder Kontroversen. Die schwarz-weiss Darstellung von Sachverhalten, Wirkmechanismen und Charakteren nimmt zum Schluss des Buches hin stetig weiter zu, wird dogmatisch und driftet sogar bis ins Klischee ab. Gipfeln tut das Ganze dann im Beweis der These “the necessity of violence” - dem englischen Untertitel - die für mich moralisch, gesellschaftstheoretisch und (staats)philosophisch fragwürdig und historisch nicht zwingend ist - wie das Beispiel von Indiens gewaltlosem Unabhängigkeitskampf unter geistiger Führung von Mahatma Gandhi eindrücklich beweist.
Kuang beweist mit Babel ihre Qualitäten als Theoretikerin und Wissenschaftlerin, indem sie ein überzeugendes und wirkungsvolles Setting schafft und ihre Thesen argumentativ stichhaltig und sprachlich attraktiv darlegt. Mit der Dramaturgie, der Message und dem lehrmeisterhaften schwarz-weiss Zeichnen konnte mich Babel aber als literarisches Werk nicht wirklich begeistern. Viel mehr hatte ich den Eindruck, einen wirklich sehr langen und auf Dauer etwas ermüdenden Essay zu lesen.