Das Waisenheim und die temperamentvolle Sally
Lieber FeindDas John-Grier-Heim benötigt eine neue Heimleiterin. Und Judy, die ehemalige Bewohnern des Hauses und nun Angetraute von einem der Treuhänder ("Lieber Daddy Long-Legs") könnte sich niemanden besser vor ...
Das John-Grier-Heim benötigt eine neue Heimleiterin. Und Judy, die ehemalige Bewohnern des Hauses und nun Angetraute von einem der Treuhänder ("Lieber Daddy Long-Legs") könnte sich niemanden besser vor stellen als ihre Freundin Sally McBride. Das diese nicht gerade freudestrahlend aus ihrem "leichten" Leben austreten und Verantwortung übernehmen möchte, zeigt sich schon auf den ersten Seiten. Umschwärmt von einem Politiker könnte sie einen einfachen Haushalt führen und sich dem widmen, was man als Leben im Wohlstand des beginnenden 20. Jahrhunderts bezeichnen würde. Allen Zweifeln zum Trotz nimmt sie die Herausforderung an und begibt sich auf ein Jahr der Weiterentwicklung ihres eigenen Wesens.
Sally wird mit Problemen konfrontiert, die typisch für Waisenhäuser dieser Zeit war. Mit Aufgaben, die sie sich im Traum nicht hätte vor stellen können und mit Personal, das sie in den Wahnsinn treiben würde, wäre nicht genau dies ein Thema, das oft zur Diskussion steht. Denn der schottische Kinderarzt Robin MacRae, auch oft als "Lieber Feind" bezeichnet ist nicht nur ein hagerer, mürrischer Mann mit der Einstellung alles liefe nur gut, wenn er es in die Hand nähme. Er versucht der jungen Heimleitung auch noch Studien einzutrichtern. So kommt es, dass oft der geistige Zustand der Kinder besprochen wird und auch die Theorie "Geistesschwäche, Alkoholismus oder ähnliche Zustände" dieser Zeit, den Erbanlagen zu entnehmen wäre. Es ist wirklich kontrovers.
Wobei ich aber anmerken darf, dass Sally McBride eine ungeheuer gewitzte und intelligente Person ist und das ganze Buch, dass ja in Briefform an drei Personen verfasst ist, ein Talent für versteckten trockenen Humor hat und ich mich oft über ihre Erzählungen amüsiert habe. Ironie und Sarkasmus ist ihr definitiv geläufig.
Schade empfand ich dieses Mal die fehlende Tiefe der Charaktere. Sie sind sympathisch und authentisch, aber ich habe zu Sally nicht so den Zugang gefunden, wie zu Judy damals aus dem ersten Band. Auch was die zwischen den Zeilen gesponnene Verbindung zu Robin MacRae angeht, tat ich mich etwas schwer. Wenn man genau hin sieht, fällt es auf, aber es war mir doch zu wenig für das Ende.
Dafür ging mir das Herz auf, wenn Sally über ihre Kinder sprach, über die Eigenarten, die schönen wie auch die schlimmen Momente. Man spürt, wie der jungen Frau das Heim ans Herz wächst und ich wollte natürlich erfahren, wie das ganze nach einem schockierenden Ereignis ausging. Die junge Frau entwickelt sich zu einer Größe, die man vorher nicht voraus gesehen hat. Es ist beeindruckend, wie sie temperamentvoll die Zügel in die Hand nimmt und alles gibt, was sie hat.
"Lieber Freund" ist ein zurückhaltendes, etwas trockenes Buch. Man muss sich drauf einlassen und die Botschaften zwischen den Zeilen finden. Dann ist die Geschichte sehr interessant. Mich hat die Schreibweise abgeholt und meistens auch ziemlich gefesselt, aber mit fehlt etwas die Leichtigkeit im Schreibfluss.
Fans von "Lieber Daddy Long-Legs" empfehle ich es trotzdem zu lesen. Ich hatte ein paar unterhaltsame Lesestunden.