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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 28.10.2023

Ein Blick in die Vergangenheit, literarisch ansprechend umgesetzt

Diamantnächte
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Haarausfall kann körperliche Ursachen, aber auch psychosomatische Ursachen haben und tritt auch nach größeren hormonellen Veränderungen auf, wie z.b. nach einer Geburt.
Agnete, einer Frau Ende 40, fallen ...

Haarausfall kann körperliche Ursachen, aber auch psychosomatische Ursachen haben und tritt auch nach größeren hormonellen Veränderungen auf, wie z.b. nach einer Geburt.
Agnete, einer Frau Ende 40, fallen plötzlich die Haare aus, und sie vermutet eine körperliche Reaktion auf verdrängte und vergrabene Erinnerungen. Sie geht in ihren Erinnerungen zurück in die Vergangenheit und auf die Suche nach den Ursachen.
Rød-Larson lässt ihre Ich-Erzählerin episodenhaft aus ihrem Leben und aus ihrer Vergangenheit erzählen. Gibt es etwas in ihrem Leben, dass sich in der Retroperspektive vielleicht anderes darstellt, als es tatsächlich passiert ist?
Die Erzählerin merkt, dass sie den Kern ihres Traumas nur umkreist, aber nicht wirklich fassen kann.
Ihre Selbstwahrnehmung und die Frau, die sie seit vielen Jahren zu seien glaubt, stehen ihr im Weg.

Sie muss sich erst erst als Beobachterin von außen betrachten um die wahren Ursachen ihrer Verdrängung zu erkennen.

Dieser Aufbau gefällt mir gut, auch wenn die sprunghafte Erzählweise der ersten Hälfte des Romans meinen Lesefluss öfter unterbricht. Mit der distanzierten Schreibweise und der kontrollierten Art der Erzählerin werde ich stellenweise nicht recht warm und es geht mir nicht nahe.
Literarisch zeichnet sich Rød-Larsens Text stellenweise immer wieder durch wunderbare Passagen aus, die nachklingen.
Inhaltlich werden viele aktuelle und für mich interessante Themen aufgegriffen, die ich allerdings in anderen Romanen schon in konzentrierterer und fesselnderer Art gelesen habe.

Zweifellos ist Rød-Larsen mit „Diamantnächte“ ein anspruchsvoller, tiefgründiger Roman gelungen, den ich gerne gelesen habe, mir aber vermutlich auf Grund seiner emotionalen Distanz und der immensen Vielfalt an angerissenen Themen nicht lange im Gedächtnis bleiben wird.

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Veröffentlicht am 24.10.2023

Bittersüße und zarte Liebesgeschichte

Wilde Minze
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»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre ...

»Wilde Minze ist zärtlich und innig, eine umwerfende, sinnliche Erkundung der kostbarsten Momente des Lebens. Ein Lesegenuss!« Charlotte McConaghy

Ein toller Blurb, oder?
Das kann ich nach der Lektüre einfach so stehen lassen, denn auch ich mochte das Buch trotz einiger kleinerer Kritikpunkte sehr gerne!

Ja, es ist diesmal eine unkonventionelle Liebesgeschichte, die sich ganz ungewohnt in meine Leseliste geschlichen hat.

Los Angeles: Für Sara und Emilia ist es Elektrizität auf den ersten Blick, als sie sich im Szenelokal Yerba Buena das erste Mal über den Weg laufen.
Beide Frauen haben einen sehr unterschiedlichen Background. Sara ist sehr prekär im provinziellen White Trash Milieu aufgewachsen und aus ihrem toxischen Umfeld als Teenagerin nach LA geflohen. In ihrer Vergangenheit liegt der schwere Verlust ihrer Mutter und ein Verbrechen, das sie noch lange verfolgen wird.
Emelie dagegen stammt aus einer liebevollen, gut situierten kreolischen Familie. Sie hat eine ältere Schwester, doch das Verhältnis ist äußerst schwierig, da sie seit Emelies Kindheit drogensüchtig ist und der Kampf gegen die Sucht die Beziehung stark belastet.

Nina Lacour (@nina_lacour) ist eigentlich eine in den USA sehr bekannte Autorin für Jugendbücher und hat mit „Wilde Minze“ ihren ersten Roman für Erwachsene veröffentlicht. Die Jungendbuchvergangenheit merke ich ihrer Geschichte an, aber in einem positiven Sinn. In ihrem Text schwingt eine wunderbare, fast naiv zu nennende Leichtigkeit mit, die aber durch ernsthaftere Töne wunderbar ausbalanciert wird.

Mir gefallen die zauberhaft sinnlichen Beschreibungen der Restaurants, der Cocktails, der Pflanzen und der Häuser.
Und natürlich der Menschen. Die beiden Protagonistinnen sind liebevoll skizziert, aber nicht idealisiert. Vor allem Sara ist vom Leben gezeichnet, aber nicht gebrochen.

Die Liebesgeschichte zwischen den beiden Frauen ist genauso wie die Cocktails, die in dem Roman so detailreich beschreiben werden: süß, aber mit einem Hauch von Bitterkeit.

Kleinere Abzüge muss ich leider beim Reality Check einiger Plot Lines machen. (Meines Wissens nach reichen ein paar bunte Tapeten und ein paar farbige Fließen - selbst in den USA, nicht aus, um vollständig verfallene Häuser wieder zu renovieren.)
Auch einige der anderen Rahmenbedingungen wirken zu sehr auf die gewünschte Handlung zugeschnitten und zu konstruiert.

Der Schluss versöhnt mich allerdings mit diesen kleineren Mängeln und macht den Roman ingesamt zu einer bittersüßen, sinnlich schönen und zarten Lektüre.

Ein Plädoyer dafür, die Liebe zu wagen!

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Veröffentlicht am 10.10.2023

The Revenant meets Stephen King „Das Mädchen“.

Die weite Wildnis
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Soeben beendet und ich bin noch immer ganz ergriffen. Lauren Groff ist für mich (und nicht nur für mich) wahrlich eine der großen aktuellen amerikanischen Erzählerinnen!

Groff wählt diesmal die Zeit der ...

Soeben beendet und ich bin noch immer ganz ergriffen. Lauren Groff ist für mich (und nicht nur für mich) wahrlich eine der großen aktuellen amerikanischen Erzählerinnen!

Groff wählt diesmal die Zeit der amerikanischen Besiedlung im 17. Jahrhundert, um ihre Protagonistin durch tiefgreifenden inneren wie äußeren Wandel zu schicken.

Es ist ein namenloses Dienstmädchen, das aus einem Siedlerfort vor Hunger, Krankheit und Unterdrückung in die Wildnis davonläuft.

In der Wildnis warten ebenfalls Hunger und Krankheit auf sie, aber sie ist frei.
Doch das sind nicht die einzigen Gefahren…

“Die Welt, das wusste das Mädchen, war noch schlimmer als wild, die Welt war gleichgültig.
Es kümmerte sie nicht, was mit ihr geschah, es konnte sie nicht kümmern, nicht im Geringsten.
Sie war ein Sandkorn, ein Sprenkel, ein Flugstaub im Spiel des Windes.”

The Revenant meets Stephen King „Das Mädchen“.

In alter amerikanischer Erzähltradition des klassischen Abenteuerromans bedient sich Groff bei den Regeln des Genres und schafft gleichzeitig etwas komplett neues. In den Weiten der Wildnis und völlig auf sich allein gestellt, sind die Gedanken des Mädchens keiner Konvention und gesellschaftlichen oder religiösen Regeln mehr unterworfen. Immer mehr Glaubenssätze werden abgeworfen und das Mädchen streift ihren alten monotheistischen Gottesglauben genauso ab wie die letzten Kleider, die ihr noch aus dem kleinen, alten Leben geblieben sind.

Groff kombiniert die spannende, klassische Survival Geschichte des Mädchens mit ihrer inneren Entwicklungsgeschichte. Wobei mich die letztendliche Kernbotschaft am Ende des Romans sehr überrascht und auch persönlich berührt hat.

War in „Matrix“ und in „Licht und Zorn“ noch ein gewisser Hang zur Weitschweifigkeit zu erkennen, hat Groff ihren Stil in „Die weite Wildnis“ noch einmal verdichtet und das tut dem Spannungsbogen in meinen Augen sehr gut.

„Die weite Wildnis“ war für mich eine begeisternde und den Mensch in seiner Essenz erkennende Erzählung, die mich komplett fesselte.

Sehr, sehr lesenswert!

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Veröffentlicht am 01.10.2023

Intensive und sehr lesenswerte Introspektion einer Mutter-Tochter Beziehung

Die Wahrheiten meiner Mutter
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Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft ...

Während dieser 400 Seiten wollte ich das Buch kaum aus der Hand legen. Das lag ebenso an der lockeren Textsetzung wie an dem Sog, den dieser Roman ausübt.

Eigentlich passiert nicht viel und doch läuft alles unaufhaltsam auf den einen Endpunkt zu.

Auf der äußeren Handlungsebene gibt es Johanna, die Ich-Erzählerin, eine ältere Künstlerin, die nach 30 Jahren in den USA in ihre norwegische Heimatstadt zurückgekehrt ist. Sie verließ damals zusammen mit einem anderen Mann ihre Ehe, ihre Familie und die Enge ihrer Herkunft um in den USA eine neues und anderes Leben zu beginnen. Mit ihrer Mutter verbindet sie seit der Kindheit ein sehr kompliziertes und schwieriges Verhältnis, das sie in ihrer Kunst in den USA verarbeitet. Das stößt beim Rest der Familie auf Unverständnis und Ablehnung und seitdem ist der Kontakt zur Mutter abgebrochen.

Auf der inneren Handlungsebene gibt es aber auch Johanna, in der, inzwischen selbst seit langem Mutter, noch immer das kleine verletzte Kind steckt, das sich nach der Nähe und der Liebe seiner Mutter sehnt.

Nach 30 Jahren wieder zurück in Norwegen drängen sich diese vergessen geglaubten Gefühle an die Oberfläche und die Erzählerin verstrickt sich zunehmend in Spekulationen über das Leben ihrer Mutter. Das obsessive Nachdenken über den Tagesablauf und die Beziehung der Mutter zu ihrer anderen Tochter Ruth nehmen sie immer mehr gefangen. Bald verfolgt, ja stalkt, sie ihre Mutter richtiggehend, ruft sie an, hofft auf eine zufällig Begegnung.

Doch die Mutter reagiert nicht und verweigert jede Kontaktaufnahme…

Vigdis Hjorth erforscht in ihrem introspektiven Roman dieses Verhältnis zwischen Mutter und Tochter. Gibt es ein Recht auf die Liebe einer Mutter?
Es rührt mich, wie diese lebenserfahrene Frau sich in ihrem Innersten noch immer nach der nie erreichten Liebe ihrer Mutter verzehrt. Wie sie an diesen nicht aufgearbeiteten Gefühlen leidet, ihr die Sicherheit entgleitet. Wie sie sich noch immer verletzten lässt.
Hjorth vermeidet dabei Pauschalisierungen und Schwarz-Weiß Malerei. Die Rolle der Bösen bleibt unbesetzt. Stattdessen zeigt sie die komplexen Ambivalenzen in dieser so wichtigen und usprünglichsten Verbindung zwischen Eltern und Kind.

Vor allem aber zeigt Hjorth, wieviel Macht diese Verbindung über uns haben kann, wenn wir es zulassen.

„Die Wahrheiten meiner Mutter“ war für mich ein großer, rauschhaft gelesener, intimer Roman, der für mich viele persönliche Berührungspunkte hatte. Hat mich bewegt und mir sehr gefallen!

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Veröffentlicht am 15.09.2023

Identitätssuche und ein Vater-Tochter Konflikt. Ein autobiografischer Debütroman

Terafik
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„Terafik“ ist der erste Roman von Nilfur Karkhiran Khozani und er ist autobiografisch.

Für mich ist er ein niederschwelliger Einblick in eine iranische Familie und in ein zerrissenes Land. Gleichzeitig ...

„Terafik“ ist der erste Roman von Nilfur Karkhiran Khozani und er ist autobiografisch.

Für mich ist er ein niederschwelliger Einblick in eine iranische Familie und in ein zerrissenes Land. Gleichzeitig ist er das berührende Porträt einer schwierigen Vater-Tochter Beziehung.

Nilufar ist in Deutschland geboren. Ihre Mutter ist Deutsche, ihr Vater Iraner, der jedoch die Familie früh verlassen hat, um wieder in Iran zu leben. Seitdem hat Nilufar wenig Kontakt zu ihm oder zu dem persischen Teil ihrer Identität.
Für andere ist Nilufar das „Ausländerkind“ und sie ist struktureller Diskriminierung ausgesetzt. Subtiler Rassismus ist Teil von Nilufars Alltags.
Obwohl sie sich eindeutig in Deutschland verortet, struggelt sie mit ihrer Zugehörigkeit und ihrer Identität.
Es wird Zeit für einen Besuch bei ihrem Vater in Iran und Zeit, diesen Teil ihrer Familie und ihrer Herkunft kennenzulernen.
Ich entdecke mit Nilufar ein Land der Gegensätze, voller Geschichte und Kultur, voller Gastfreundschaft und Familiensinn, aber auch voller Einschränkungen und großer Fremdbestimmung, vor allem für Frauen.
Ich mag, wie Khozani in der Vater-Tochter Konstellation deutlich macht, wie beide trotz aller Unterschiede versuchen ein Verständnis füreinander zu entwickeln und eine Verbindung herzustellen.
In rückblickende Einschüben kann ich aus Khosrows Sicht lesen, warum er Deutschland und somit seine Tochter, damals verlassen hat.

Der rote Faden, der sich durch das Buch zieht, ist die stetige Ausgrenzung und das Gefühl der Nicht-Anerkennung, der Heimatlosigkeit, die sowohl Nilufar und ihren Vater in Deutschland zu spüren bekommen.

Die Erfahrungen der Erzählerin authentisch geschrieben und für mich besonders auf emotionaler Ebene nachvollziehbar.
Die Schilderungen und Einblicke in die Lebensrealität von Nilufars iranischer Familie bleiben sehr auf individuellem Niveau und geben mehr persönliche Eindrücke wieder, als dass sie politisch oder gesellschaftlich kritisieren.

Einige Passagen empfinde ich zudem als ungeschickt ausgearbeitet und in der Vielzahl der beschriebenen Familienmitgliedern und Geschichten geht leider die Wertigkeit der einzelnen für mich etwas verloren.

Ich bin dankbar für die Eindrücke aus diesem mir fremden Land und würde zwar „Terafik“ nicht als Highlight bezeichnen, aber als autobiografischen Roman, den ich gerne gelesen habe.

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