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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 07.06.2024

Faszinierend und tiefgründig

Das Verschwinden
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Nach „Die Schattenmacherin“ von Lilliy Gollackner war das für mich bereits der zweite Roman in kurzer Zeit, in dem eine Welt beschrieben wird, in dem die Männer komplett verschwunden sind.
Ein Szenario, ...

Nach „Die Schattenmacherin“ von Lilliy Gollackner war das für mich bereits der zweite Roman in kurzer Zeit, in dem eine Welt beschrieben wird, in dem die Männer komplett verschwunden sind.
Ein Szenario, dass ich unglaublich spannend finde und das großes Potential für aufregende Literatur bietet.
Und während der dystopische Roman von Gollackner mich nicht so wirklich abgeholt hat, fand ich „Das Verschwinden“ sehr, sehr faszinierend und tiefgründig.

Sandra Newman, von der letztes Jahr der dystopische Roman „Julia“ erschienen ist, verlässt auch in „Das Verschwinden“ den Boden der Realität.
Von einem Moment auf den anderen verschwinden alle Männer auf der ganzen Welt. Damit sind alle Menschen mit einem Y-Chromosom gemeint, denn auch kleine Jungen, und sogar männliche Ungeborene und Transfrauen verschwinden einfach so spurlos und ohne Erklärung.

Newman nutzt mehrere Protagonistinnen, anhand deren Geschichten sie den Moment des Verschwinden der Männer und die verwirrende Zeit danach beschreibt. Ich würde sagen, die meiste Screentime hat Jane, die Ich-Erzählerin. Sie ist gerade mit ihrem Mann und ihrem kleinen Sohn zelten, als beide verschwinden und sie allmählich realisiert, dass sich die Welt komplett verändert hat.

Ich lese in dystopischen Romanen eigentlich total gerne welche Auswirkungen das jeweilige Setting auf das Zusammenleben, die Infrastruktur und das Leben der Einzelnen hat. Gerade als Bauingenieurin würde es mich natürlich interessieren, wie die Infrastuktur und Versorgung der Menschen weiter aufrecht erhalten wird. Aber mir ist natürlich schon klar, dass das für die meisten Leserinnen nicht das spannende Thema ist.
Wahrscheinlich entscheiden sich deswegen auch die meisten Autor
innen gegen ein breites Auswalzen von pragmatischen Details.
So auch Newman. Sie konzentriert sich ganz auf die Geschichten ihre Figuren und wie sie in ihrer Vergangenheit von Männern geprägt und beeinflusst wurden.

Das finde ich sehr stark und ich liebe den feministischen Ansatz daran. Richtig Spannung kommt im Roman auf, als im Internet verstörende und mysteriöse Videos von gequälten Männer und Jungen auftauchen, in denen viele ihre verschwundenen Verwandten und Bekannte erkennen. Ein Fake?

Ich bin etwas beunruhigt, als ich feststelle, dass ich nur noch wenige Seiten zu lesen habe, aber die Geschichte keine Anzeichen einer Auflösung zeigt. Aber Newman führt den Plot sehr souverän und zu meiner vollen Zufriedenheit zu einem gleichermaßen unerwarteten wie vieldeutigen Ende!

Ich finde den Schluss sehr gelungen, dennoch reicht es bei mir nicht ganz für ein Lesehighlight. Es sind mir zwischenzeitlich zuviele Figuren und zuviele inhaltliche und erzähltechnische Ansätze, die mich gedanklich zerfransen.

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Veröffentlicht am 31.03.2024

Philosophisch komplexer und literarisch ansprechender Pageturner

Das andere Tal
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Wie findest du Romane übers Zeitreisen?

Ich liebe solche Geschichten und „Das andere Tal“ war für mich ein absolutes Highlight dieses Genres!
Aber bevor jetzt Missverständnisse aufkommen: ich rede hier ...

Wie findest du Romane übers Zeitreisen?

Ich liebe solche Geschichten und „Das andere Tal“ war für mich ein absolutes Highlight dieses Genres!
Aber bevor jetzt Missverständnisse aufkommen: ich rede hier natürlich nicht von Sci-Fi Ware von der Stange, wie es beim Diogenes Verlag wohl auch kaum zu erwarten wäre. Nein, wenn ich von einem Highlight des Zeitreise-Genres spreche meine ich hier literarische, philosophische und spannende Unterhaltung auf allerhöchstem Niveau.
Ich bin schlichtweg begeistert.

Howards Idee ist nicht ganz neu, er verbindet örtliches Reisen mit zeitlichem Reisen. Seine Figuren leben in einem abschlossenen Tal und wenn sie Richtung Osten ins nächste Tal reisen, gelangen sie 20 Jahre in die Zukunft und in Richtung Westen gelangen sie ins gleiche Tal, aber um 20 Jahre zurück in die Vergangenheit.

Damit potentielle Reisende nicht permanent Zeitreise-Paradoxien auslösen, sind die Talübergänge strengstens überwacht und die Reisen in die benachbarte Täler strengstens reglementiert. Nur in seltenen Ausnahmefällen, wenn jemand eine mittlerweile verstorbene Person in der Vergangenheit noch ein letztes Mal sehen will, genehmigt ein Kremium, das Conseil, den Antrag für einen Besuch.
Aber auch dann sind diese Besuche strengstens überwacht um eine Veränderung der Vergangenheit oder gar Begegnungen mit der jüngeren Version von bekannten Personen zu vermeiden.
Ein Platz im Conseil ist die höchste Würde im Tal und nur den moralisch einwandfreisten und geschultesten Personen zugänglich.
Um einen solchen Platz bewirbt sich die 16-jährige Odile, auf Drängen ihrer Mutter hin, die sich eine solche Karriere für ihre Tochter wünscht.
Odile ist von diesem Ehrgeiz überfordert, sie verbringt viel lieber Zeit mit Freund*innen. Nach einer Weile findet sie allerdings Gefallen an den Beispielfällen und den Lektionen des Kurses und sie stürzt sich großer Ernsthaftigkeit in die Vorbereitungen für das Auswahlverfahren…

Die Komplexität und Stimmigkeit, mit der Howard sowohl die Atmosphäre des Tal und seines streng reglementierten Lebens schildert, als auch die psychologische Ausarbeitung seiner Figuren und ihrer Beziehungen, ist wirklich bemerkenswert.
Ich kann die fortschreitenden Desillusionierung und Abwendung vom System eines Mädchens und später einer Frau verfolgen. Ich kann ihre Persönlichkeitsentwicklung nachvollziehen.
Über seinen Roman und über das Thema Zeit legt Howard einen melancholischen, manchmal nostalgischen Filter, der mir ausgesprochen gut gefällt.
Freundschaft, Verrat und Schuld sind der Grundtenor seines ungemein spannenden und hoch entwickelten Plots.
Howard gelingt mit seinem Debüt einen ungeheuer spannenden, aber auch philosophisch komplexen und literarisch ansprechenden Pageturner!

„Das andere Tal“ war für mich ein absoluter Volltreffer und ein glänzendes Highlight in meinem doch recht hohen Verschleiß an literarischen Romanen.

Dringende Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Kurz aber gehaltvoll!

Der ehrliche Finder
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Ich LIEBE die Romane von Lize Spit! Ich liebte die krasse und unglaublich abgefahrene Geschichte von „Und es schmilzt“ und ich liebte die Spannung und die psychologische Tiefe von „Ich bin nicht da“. ...

Ich LIEBE die Romane von Lize Spit! Ich liebte die krasse und unglaublich abgefahrene Geschichte von „Und es schmilzt“ und ich liebte die Spannung und die psychologische Tiefe von „Ich bin nicht da“. Jetzt waren diese beiden Roman dicke Wälzer, die sich für den Plotaufbau und die Figurentwicklung viel Zeit nahmen.
Als ich die Seitenzahl von „Der ehrliche Finder“ sah, war ich kurz skeptisch, ob auf dieser Kurzstrecke die Erzählkraft von Spit zur Entfaltung kommt.

Aber jetzt, nachdem ich den Schluss mit Gänsehaut gelesen habe, weiß ich, dass es funktioniert hat.

Als Protagonisten hat sich Spit diesmal einen vorpubertären Außenseiterjungen ausgesucht: Jimmy, der seine Freizeit gerne mit dem Sammeln von Flippo Chips und dem Ausdenken von Fantasiegeschichten verbringt. Dann kommt Tristan in seine Klasse, ein Flüchtlingskind aus dem Kosovo, das neben Jimmy gesetzt wird. Auf den wenigen Seiten skizziert Spit die Kindheit der beiden Außenseiter und die Geschichte einer Freundschaft, die beide über ihre Einsamkeit und Ausgrenzung hinweghilft.

Mir gefällt es sehr, wie unglaublich subtil Spit unterschwelligen Fremdenhass themasiert und wie nuanciert sie die nicht ganz immer reine Gedankenwelt Jimmy beschreibt.
Natürlich braut sich ein Unheil über der Freundschaft zusammen, denn der großen Familie von Tristan droht die Abschiebung…

„Der ehrliche Finder“ ist nicht krass und abgefahren, dennoch gelingt es Spit wieder mit kleinen, eigentlich unspektakulären Alltagsereignissen eine Spannkraft zu erzeugen, die mich immer auf die großen Knall warten lässt, der unweigerlich kommen muss.

Falls du noch kein Buch dieser belgischen Autorin gelesen hast, eignet sich „Der ehrliche Finder“ optimal als Einstieg, denn es lässt sich super in einem Rutsch durchlesen und schließt mit einem intensiven Abgang!

Ich freue mich bereits auf weiteren Stoff von Spit, aber dann hoffentlich wieder in größerer und länger anhaltender Seitenzahl.

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Veröffentlicht am 20.03.2024

Tiefgründig, philosophisch und komplex

Tremor
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Ich muss „Tremor“ erst eine Weile wirken lasen, bevor ich mir eine Meinung bilden kann. Das ist ungewöhnlich für mich, normalerweise weiß ich sofort, ob ich den Roman mochte oder eben nicht.
Ich weiß, ...

Ich muss „Tremor“ erst eine Weile wirken lasen, bevor ich mir eine Meinung bilden kann. Das ist ungewöhnlich für mich, normalerweise weiß ich sofort, ob ich den Roman mochte oder eben nicht.
Ich weiß, ich mochte „Tremor“, aber ich habe das nicht so angenehme Gefühl, ich habe nur an der Oberfläche dieses vielschichtigen Romans gekratzt.

Denn wie die Spiralen auf dem Cover andeuten, ist die Konstruktion des Textes in sich verschlungen, zieht Schleifen, um am Ende nach einem Streifzug durch die Themen unserer Gegenwart und unseres Menschseins wieder am Ausgangspunkt anzukommen.

Ich bin am Anfang und am Ende des Romans bei Tunde, einem aus Lagos stammenden Intellektuellen, der an einer amerikanischen Universität Fotografie unterrichtet. Gleich in der Eingangsquenze landen Tundes Gedanken immer wieder bei dem fest in der amerikanischen Kultur verankerten Rassismus. Dabei thematisiert Cole nicht nur den aktuellen Rassismus der Modernen sondern greift auch den historischen Rassismus der Einwanderer während der Unterwerfung und Vertreibung der indigenen Völker zurück, der in der amerikanischen Geschichtsschreibung ganz aus der Perspektive der Weißen überliefert ist.
Coles Ausführungen zu dem Thema sind äußerst differenziert, niemals vereinfachend und nehmen mich als Lesende ernst.

„Es gibt jene, die andere versklaven, und es gibt jene, die von anderen versklavt werden. Aber es gibt keine Person, deren Wesen oder wahre Beschreibung Sklave ist.
Menschen können versklavt werden, in dem lebendigen Tod der Sklaverei gefangen sein. Doch das beschreibt nicht, wer sie sind. Es ist etwas Unerträgliches, das ihnen widerfährt oder widerfuhr.”


Im Mittelteil des Romans verlagert sich der Blickwinkel nach Lagos, Nigeria. Hier verliert sich die bereits lose Handlung im einem Multi-perspektivischen Ansatz und Cole zeigt ein Mosaik der nigerianischen Lebensrealität.

Cole zieht ein weiter Schlaufe und weitet seine philosophischen Reflektionen auf das Menschsein im Universellen aus.
Ich kann seinen Ausschweifungen über Film, Kunst und vor allem Musik und deren tieferen kulturellen und politischen Zusammenhänge mangels Kenntnis nicht immer folgen und so ziehen sich einige Passagen für mich in die Länge.

Beim letztendlichen Zirkelschluss über die Relation von menschlichem Leid und die Unberechenbarkeit unseres Daseins kann ich mich wieder einklinken und schließe mich seinen philosophischen Gedankengänge gerne an.

“Das Leben ist nicht nur schrecklicher, als wir ahnen, es ist auch schrecklicher, als wir es ahnen können. Wäre uns wirklich bewusst, wie viele Schiffswracks am Meeresgrund liegen, wir würden niemals wieder unsere Boote besteigen und hinausfahren.”

„Tremor“ war für mich ein äußerst tiefgründiger und exquisit konstruierter Roman, von dessen emotionaler und philosophischer Qualität ich eine kleine Ahnung bekommen habe, die mir in seiner Gänze aber nicht vollkommen greifbar war.

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Veröffentlicht am 16.03.2024

Spannende Unterhaltung in ungewöhnlichem Sound

Tiere
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Ich habe die letzten Wochen auffallend viele Romane aus dem Niederländischen gelesen. Ob das mit dem diesjährigen Gastland der Buchmesse Leipzig zu tun hat? Viel wahrscheinlicher handelt es sich aber einfach ...

Ich habe die letzten Wochen auffallend viele Romane aus dem Niederländischen gelesen. Ob das mit dem diesjährigen Gastland der Buchmesse Leipzig zu tun hat? Viel wahrscheinlicher handelt es sich aber einfach um gute Literatur, denn die meisten dieser Romane haben mir auffallend gut gefallen!

Auch „Tiere“, der Debütromans des niederländischen Autors, Musikers und Podcasters Gijs Wilbrink, fand ich äußerst ungewöhnlich und ansprechend. Gerade habe ich den Roman nach einem absolut fulminanten und aufregenden Showdown beendet.

Wenn du ländlich wohnst, oder gewohnt hast, kennst du vielleicht auch diese Familien. Diese berüchtigten Familien, die immer am Rand stehen und über die zahlreiche Gerüchte im Umlauf sind. Die haben doch Dreck am Stecken und war da nicht was mit Drogen?
Eine solche Familie, oder besser ein solcher Clan, sind die Kellers, die auf einem abgelegenen Bauernhof im Achterhoek leben. Landwirtschaft wird in dem infrastrukturell schwachen Landstrich schon lange nicht mehr betrieben, in den Scheunen hält Scharrel (= Charles) Keller Nerze in nicht ganz so artgerechter Haltung.
Was sonst noch auf dem Hof getrieben wird, will keiner so genau wissen.

Die junge Protagonistin Isa (= Bella, Isabella) hat leidlich den Absprung geschafft und studiert leidlich in der nahegelegenen Großstadt und hat neue Freund*innen gefunden. Aber ihr Leben hat sie nicht im Griff, sie kifft permanent und ihre Studienleistungen sind nicht leidlich sondern….unterdurchschnittlich. Ob es daran liegt, dass ihre Mutter in der Schwangerschaft mit ihr morphiumsüchtig war?

Isa erfährt von ihrer Mutter, dass ihr Vater seit Tagen vermisst wird und notgedrungen kehrt sie in ihr kleines Heimatdorf zurück. Die Suche verläuft natürlich äußerst planlos und mündet in einer Spurensuche in der Vergangenheit.

“Es ist alles so sinnlos, Mama, oder? Wie machen das die Leute im Fernsehen, die immer genau wissen, was zu tun ist?«

Das könnte jetzt alles ziemlich düster und nihilistisch sein, ist aber nicht. Wilbrink beschreibt das Millieu drastisch und ungeschönt, aber immer mit Blick versöhnliche und menschliche Elemente, die es trotz der Härte und Verlorenheit in dieser Familie gibt.

Anfangs brauchte ich eine Weile um in den etwas ungewohnten, aber sehr reizvollen Erzählstils Wilbrinks einzutauchen und die Verwandschaftsverhältnisse aufzudröseln (zu spät entdeckt: ganz hinten ist ein Stammbaum), aber die Mühe hat sich für mich gelohnt. Wilbrink lässt die Stimmung dieser verlorenen und aufgegebenen Menschen und Landstriche lebendig werden. Er erzählt von dem schweren Erbe, das schwierige und prekäre Familienverhältnisse jungen Menschen unverschuldet aufbürdet. Von Schwestern, die durch Gewalt und Schweigen entzweit wurden und von Eltern und Kindern, die die Vergangenheit hinter sich lassen müssen, um sich wieder anzunähern.

Wenn dich vereinzelte explizite Schilderungen von Tierquälerei nicht abschrecken und die Lust auf niederländische Literatur hast, ist „Tiere“ auf jeden Fall ein spannender Tipp für dich!

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