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Lust_auf_literatur

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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 19.08.2024

Ein starker und verletzlicher Roman. Große Leseempfehlung!

Als wir Schwäne waren
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Es gibt Romancover, an denen komme ich nicht vorbei. Das Cover von „Als wir Schwäne waren“ gehört dazu. I mean…diese Farben, diese Federn?

Natürlich trug der Namen des Autoren auch zu meinem Impuls bei, ...

Es gibt Romancover, an denen komme ich nicht vorbei. Das Cover von „Als wir Schwäne waren“ gehört dazu. I mean…diese Farben, diese Federn?

Natürlich trug der Namen des Autoren auch zu meinem Impuls bei, den Roman lesen zu wollen. „Hund Wolf Schakal“ von Behzad Karim Khani fand ich auch schon ziemlich stark.

Aber tatsächlich hat mir „Als wir Schwäne waren“ noch besser gefallen. Es wirkt noch persönlicher, kraftvoller und gehaltvoller auf mich. Die Parallelen zu Khanis eigener Biografie sind offensichtlich und er lässt seinen Erzähler aus der Ich-Perspektive berichten.

Es ist die Geschichte eines Jungen, der mit seinen Eltern aus dem Iran nach Deutschland geflohen sind. Sie landen in Bochum, mitten im Ruhrgebiet. Seine Eltern sind gebildet und hatten im Iran gute Berufe. Der Vater liest Goethe, Nitzsche und Schiller, die Mutter Adorno, Habermas, Luhmann und Sonntag.
In Deutschland sind die Abschlüsse wertlos und in den Augen der deutschen Gesellschaft sind sie Bittsteller, von denen Dankbarkeit erwartet wird.

Der Junge sieht, wie der Stolz und die Würde seiner Eltern mit Füßen getreten wird, und er wird wütend. Wut ist für ihn das einzige Gefühl das einen Unterschied macht, und das ihm Macht verleiht. Der Junge wächst heran und mit ihm die Wut. Die Wut lässt wenig Platz für andere Gefühle und sie äußert sich in Gewalt.

„Dass ich in Wirklichkeit eine Gerechtigkeit herstellen wollte, in der nicht ich so heile bin wie alle anderen, sondern alle anderen so kaputt wie ich.“


Der Erzähler berichtet von den Veränderungen in seinem Viertel, von seinen verschiedenen Freunden, von denen viele irgendwann auf der Strecke bleiben.
Alle kämpfen um Anerkennung und das bißchen Würde, das die Lebensumstände ihnen lässt.

Behzad Karim Khani schreibt in Sätzen, die schneidend sind wie Messer und gleichzeitig liegt in ihnen eine große Verletzlichkeit. Auch sein Erzähler kämpft um seine Würde, die mit dem Stolz seines Vaters verknüpft ist. Erst später, als erwachsener Mann, wird er wieder Zugang zu seinen eigenen Gefühlen und zu seiner Vergangenheit finden.

Das Deutschland, das Behzad Karim Khani beschreibt, und in dem ich lebe, ist ein kaltes, unfreundliches Land.

„Wo man nicht aus Zucker ist. Keine Müdigkeit vorschützt, Nägel mit Köpfen macht und sich nicht zwei Mal bitten lässt. Wo man schließlich nicht blöd ist. Wo sicher sicher ist und Geiz geil. Wo »Du bist Gast hier!« eine Drohung ist. Wo ja jeder kommen kann. Wo man B sagen muss, weil man A gesagt hat, und ende es in Stalingrad.“

Das sind Sätze, die treffen. So wie der ganze Roman auf nur 192 Seiten.
Große Leseempfehlung!

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Veröffentlicht am 18.08.2024

Ruhige und poetische Dystopie aus Berlin

Hinter den Mauern der Ozean
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Heute habe ich wieder eine Empfehlung für meine Bookies mit einer Vorliebe für Dystopien. Und für alle Berlinerinnen. Aber da der Roman von Anna Reinecke nicht die dystopischen Elemente in den Vordergrund ...

Heute habe ich wieder eine Empfehlung für meine Bookies mit einer Vorliebe für Dystopien. Und für alle Berlinerinnen. Aber da der Roman von Anna Reinecke nicht die dystopischen Elemente in den Vordergrund stellt, ist der Roman natürlich für alle Leserinnen empfehlenswert, die Lust auf Literatur haben.

Wie schon in ihrem ersten Roman „Leinsee“ hat Reinecke auch diesmal wieder Berlin als Schauplatz des Geschehens gewählt. Kein Zufall, lebt die Autorin doch selbst seit längerem in der deutschen Hauptstadt.

In einer nicht näher benannten Zukunft ist die Welt in Wassermassen versunken, das trockene Berlin ist von einer hohen Mauer (!) umgeben und geschützt. In der leeren Stadt leben fünf Menschen:

„Wir sind fünf. Wir sind ewig. Wir sind sterblich.
Wir sind Friedrich, Wilhelm, Alexander, Else und Lola.
Ich bin Lola. Es gab mich vor mir, und es wird mich nach mir geben. Kein Anfang, kein Ende.“

Die Geschichte wird aus der Ich-Perspektive von Lola erzählt. Die Informationen, die sie über ihre Welt und die Geschichte hat, sind spärlich und so bleibt auch den Leserinnen vieles der Fantasie und der eigenen Interpretation überlassen. Es die Art von Dystopie, die als Tableau für Gedankenexperimente konstruiert ist, was Reinecke hier sehr stimmig und stimmungsvoll gelungen ist.

Jeden Sommer öffnen sich die Tore und es kommen Schiffe mit Fremden für ein obskures Sightseeing in Stadt. Für jeweils zwei Wochen bekommen einzelne Gruppen von Lola und den vier anderen Ewigen in ausgedehnten Stadtführungen die Berliner Sehenswürdigkeiten der Vergangenheit gezeigt. Im Winter sind die Fünf sich selbst überlassen und werden mit Lebensmittelpaketen versorgt. Wenn eine
r von ihnen zu alt ist, taucht eine Kinderversion auf, so dass es eine kurze Zeit zwei Versionen des gleichen Menschen in der Stadt gibt. In jung und in alt, bis die ältere Version dann verschwindet.

Durch die kleine Zahl an Individuen sind gesellschaftliche Konventionen wie Monogamie oder Heterosexualität längst aufgelöst.
Auch Lola hat einen Menschen, zu dem sich immer wieder hingezogen fühlt. Die Individualität der Menschen führt manchmal zu zwischenmenschlicher Reibung und Misstrauen.
Reinecke beschreibt, wie es selbst in einer so kleinen Gemeinschaft Geheimnisse und Zwist geben kann, aber auch viel Liebe und Fürsorge.

Lola ist bewusst, dass sie, obwohl wie Gött*innen verehrt und versorgt, eingesperrt und gefangen sind. Sie sind dem Wohlwollen anderer ausgeliefert.
Im Kern des Romans steckt die zentrale Frage: Was ist Freiheit und was sind Menschen bereit zu opfern, um sie zu erlangen.

Es ist bezeichnend, dass es die Stadt Berlin ist, um die (wieder) eine Mauer errichtet ist. Die überlieferten Geschichten von Grenzüberschreitungen, die die Fünf sich erzählen, klingen bekannt und vermischen sich mit der deutschen Vergangenheit. Aber auch mit unserer globalen Geschichte, denn Flucht, untergehende Welten und daraus resultierendes Leid gibt es überall und zu allen Zeiten.

„Hinter den Mauern der Ozean“ ist ein ruhig erzählter, poetischer Roman, der mir viel Raum für meine eigenen Gedanken lässt. Auch die Entfremdung der Schauplätze und Gegenstände, die ich aus Berlin kenne, finde ich sehr reizvoll. Eine toller Zuwachs in der neuen Diogenes Tapir Reihe, mit der der Verlag neues literarisches Terrain erkunden will.

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Veröffentlicht am 15.08.2024

Unterhaltsam, blieb aber für mich zu sehr an der Oberfläche

Glück
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Hmmm…ich bin nicht zufrieden mit dem Schluss von „Glück“. Das passiert bei mir nicht oft, vor allem nicht bei Romanen, die mir eigentlich gefallen haben.
But well, das Leben ist kein Wunschkonzert. Wo ...

Hmmm…ich bin nicht zufrieden mit dem Schluss von „Glück“. Das passiert bei mir nicht oft, vor allem nicht bei Romanen, die mir eigentlich gefallen haben.
But well, das Leben ist kein Wunschkonzert. Wo ich natürlich gleich beim Thema bin, denn im neuen Roman von Jackie Thomae geht es ganz viel um den Kinderwunsch.

Für mich persönlich, wie wahrscheinlich für viele andere Menschen, ein sehr sensibles und aufgeladenes Thema. Mittlerweile bin ich aber an einem Punkt, an dem ich darüber relativ unbelastet lesen kann. Und Thomae macht es mir mit ihrer lockeren, fast humorvollen Schreibweise leicht. Sie verpackt die Frage nach dem (Kinder?) Glück in einen leichten Sommerroman, den ich zwar feministisch nennen würden, der aber ohne wirklich Schärfe oder bittere Nuancen auskommt.
Das ist auf jeden Fall Geschmackssache, ich mag Gesellschaftsromane vermutlich aber dann doch lieber stärker gewürzt. 

Marie-Claire, genannt MC, ist eine bekannte Radio Moderatorin und Podcasterin und Ende 30, später dann Anfang 40 und hat das Gefühl eine wichtig Deadline im Leben verpasst zu haben. Sie hat noch kein Kind und ihr biologisches Zeitfenster beginnt sich zu schließen. Sollte sie eines bekommen? Was, wenn sie den entscheidenden Zeitpunkt verpasst und es dann irgendwann keine Option mehr ist? Praktischerweise hat sie eine liberale Frauenärztin, die ihrem „Glück“ mit modernster Medizin auf die Sprünge helfen will…

Anahita ist genauso alt und hat als Politikerin eine steile Karriere gemacht und sie hat noch weitere Ambitionen. Auch bei ihr stellen viele die Frage nach einem Kind, denn anders als bei Männer gilt nach wie vor das Leben einer Frau erst mit Kind und Familie als komplett und erfüllt. Doch Anahita ist sich unsicher, wie ein Kind in ihr Leben passen soll und ihre früheren Erfahrungen mit Kindern als Lehrerin waren alles andere als erfüllend…

Jackie Thomae greift mit ihren beiden Ich-Erzählerinnen viele Facetten eines Frauenlebens kurz vor der Torschlusspanik auf. Woher kommt der Wunsch nach einem Kind? Möchte ich mich wirklich die nächsten 15-20 Jahre oder gar für immer einem anderen Menschen verpflichten, den ich noch gar nicht kenne? Wer will eigentlich, dass ich Kinder will? Und was, wenn die biologische Uhr gar nicht ticken würde? Wenn ich genauso viel Zeit wie die Männer hätte, einen eventuellen Kinderwunsch zu erfüllen?

Das sind die Fragen, mit denen Thomae ihre Figuren hadern lässt. Sie stellt ihnen eine ganze Batterie an weiblichen Komparsinnen zur Seite, deren Geschichten jeweils verschiedene Aspekte dieser Fragen widerspiegeln.

Das ist eigentlich ganz unterhaltsam, zu tieferen Erkenntnisse führt das bei mir nicht, was daran liegen kann, dass ich diese Fragen schon zu Genüge innerlich bearbeitet habe und die Antworten für mich schon gefunden habe.
Ich bin auch etwas irritiert von dem Bild und der Machbarkeit, die Thomae, unabhängig vom fiktiven Anteil ihres Romans, von später Mutterschaft zeichnet. Schwangerschaften jenseits der 45 sind meines Wissens nach auch in Städten, wo der Zugang zu modernster Reproduktionsmedizin einfacher ist als auf dem Land, immer noch mehr die Ausnahme als die Regel. Zudem steht diese Option vermutlich nur einer gewissen gesellschaftlichen Schicht mit der nötigen Bildung und finanzieller Potenz zur Verfügung. 

„Glück“ ist mit Sicherheit ein unterhaltsames und leicht gesellschaftskritischer und relevanter Roman, der aber nur eben die Situation einer gebildete und erfolgreichen Frau abbildet und weniger die Lebensrealität des Großteiles der Frauen mit weit weniger Optionen und Reflektionsmöglichkeiten.
Da ich Thomaes Schreibstil ziemlich fresh und eingängig fand, hatte ich mit „Glück“ trotzdem eine ziemlich gute Lesezeit, auch wenn es vielleicht nicht so deep, wie ich es mir vielleicht erhofft hatte.

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Veröffentlicht am 05.08.2024

Komplex und unterhaltsam. Ein literarisches Highlight!

Kleine Monster
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Auf diesen Roman freue ich mich schon sehr lange. Seit ich „Mama“ von Jessica Lind gelesen hatte, wünsche ich mir neuen Lesestoff von dieser faszinierenden Autorin. Nach drei Jahren ist es jetzt soweit ...

Auf diesen Roman freue ich mich schon sehr lange. Seit ich „Mama“ von Jessica Lind gelesen hatte, wünsche ich mir neuen Lesestoff von dieser faszinierenden Autorin. Nach drei Jahren ist es jetzt soweit und ich halte „Kleine Monster“ in meinen Händen.

Und wieder beschreibt Lind die vielschichtigen, komplexen und widersprüchlichen Gefühle, die mit Mutterschaft verbunden sind, für mich gleichzeitig schmerzhaft und befreiend. Schmerzhaft, weil die Gefühle der Schuld und der Fehlbarkeit, die untrennbar mit Mutterschaft verbunden zu sein scheinen, in Linds Roman Ausdruck finden. Befreiend, weil ich mich in meiner eigenen Fehlbarkeit und in meinen Versuchen, meine Kinder bestmöglich zu lieben, gesehen fühle.

Linds Protagonsitin und Ich-Erzählerin Pia, ist Mutter von einem kleinen Jungen und war gleichzeitig auch ein Kind, das seine Schwester durch einen Unfall verloren hat.
Die Traumatisierung durch den Tod das kleinen Kindes hat Pia und ihre Familie sehr geprägt und beeinflusst jetzt auch ihre eigene Mutterschaft.

An der Schule von Pias Sohn Luca gibt es einen Vorfall, bei dem dem siebenjährigen Jungen vorgeworfen wird, übergriffig geworden zu sein. Für Lucas Vater Jakob, der seinen sensiblen Sohn zu kennen glaubt, nur eine unbegründete Verdächtigung und ein unbedeutender Zwischenfall, dem er keine weitere Bedeutung beimisst.
Pia glaubt ihren Sohn besser zu kennen und weiß genau, dass auch Kinder schon in der Lage sind, böse und gemein zu handeln.
Als sie dann später auch noch beobachtet, wie Luca emotionslos ein Tier quält und tötet, wird sie in ihrem Verdacht noch verstärkt…

In den Gedanken der Erzählerin vermischen sich immer mehr die Gefühle aus der Zeit nach dem Tod ihrer Schwester mit den Gefühlen für ihren Sohn. Damals beobachtete sie genau die Reaktion ihrer anderen Schwester und schon damals beschlich sie ein fruchtbarer Verdacht bezüglich des Unfallhergangs…

Ich mag die unglaublich komplexe Schilderung der Geschichte und der Gefühlswelt von Linds Erzählerin. Die ganze Ambivalenz von Mutterliebe steckt in diesem Roman

“Und doch beginnt die Geschichte mit Liebe. Ich bin mir jetzt ganz sicher, wo sie beginnt.”

“Und dann kommt das Leben.”


Grundsätzlich schreibt Lind auf sehr hohem literarischen Niveau. Ihr neuer Roman war für mich allerdings wesentlich leichter zugänglich als der etwas abstraktere Vorgänger und gefiel mir dadurch fast noch besser. Natürlich fällt mir auf, dass der Wald auch im neuen Roman von Lind wieder eine große Rollen spielt, wenn auch diesmal vielleicht als Nebenfigur und nicht als alles verschlingender Hauptdarsteller wie in „Mama“.

„Kleine Monster“ war für mich wieder ein packender, unterhaltsamer und äußerst komplexer Roman dieser großartigen Schriftstellerin, der auf jeden Fall in meinem ewigen Bücherregal neben „Mama“ bleiben wird!

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Veröffentlicht am 03.08.2024

Vielschichtiger Roman über Suchende

Taumeln
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Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. ...

Das ist mein erster Roman von Sina Scherzant. Ihr Debüt „Am Tag des Weltuntergangs verschlang der Wolf die Sonne“ hatte ich 2023 trotz des vielversprechenden Titels wegen akuter Leseüberlastung ausgelassen. Dafür habe ich jetzt bei ihrem zweiten Roman, verführt durch die interessante Kurzbeschreibung und die vielversprechende Leseprobe, zugegriffen.

Luisas Schwester Hannah ist seit mehr als zwei Jahren verschwunden. Niemand weiß, wo die junge Frau ist und Luisa vermutet, dass ihrer Schwester etwas zugestoßen ist. Doch als die polizeilichen Ermittlungen keinerlei Spuren ergeben, verlaufen die groß angelegten privaten Suchaktionen irgendwann im Sand. Nur ein kleiner, harter Kern von acht Menschen rund um Luisa trifft sich regelmäßig am Wochenende, um weitere Teilabschnitte des Waldes zu durchsuchen.
Nicht der rätselhafte Fall der verschwundenen Schwester, sondern diese Gruppe von Menschen und Luisa selbst steht im Zentrum von Scherzants neuem Roman.

Obwohl die meisten von ihnen Hannah nicht mal kannten, hat jede*r von ihnen seine eigene innere Motivation, an den Suchaktionen teilzunehmen.
Beispielsweise der mittelalte Junggeselle Frank. Er ist vereinsamt, fühlt sich im Leben gescheitert und ist auf der Suche nach sozialen Kontakten und nach einem Daseinszweck.

“Ihr Verlust hat ihm eine Art Hobby beschert und einen Grund, am Samstag aufzustehen, zu duschen, sich einen Kaffee zu machen, obwohl das Lämpchen schon blinkt, obwohl die Maschine entkalkt werden müsste, aber dafür hat er an den meisten Samstagen keine Zeit, denn er wird gebraucht, im Wald, da warten sie auf ihn.”

Die Suchenden wachsen zu einer kleinen Schicksalsgemeinschaft zusammen, die man fast Freundschaft nennen könnte. In Luisas eigenem Leben wurde durch das Verschwinden ihrer Schwester die Stoptaste gedrückt und die Familie schwer und nachhaltig erschüttert. Sie führen ein Leben wie in einem Wartezimmer.

Scherzant greift in ihrem Roman viele Themen auf. Manche wie Depressionen und die Konkurrenz unter Schwestern, werden nur angedeutet. Andere, wie das Thema Einsamkeit, werden stärker ausgearbeitet. Das gelingt ihr meiner Meinung nach gut, auch wenn eine klarere Fokussierung auf weniger Inhalte vielleicht noch stärker gewesen wäre.
Auch literarisch variiert Scherzant mit verschiedenen Stilmitteln, Tempi und Erzählformen, was sehr gut ihr schriftstellerisches Können zeigt, aber in meinen Augen vielleicht auch etwas zu beliebig verwendet wird.
Viele der von ihr verwendeten Bilder und die sprachliche Ausgestaltung finde ich richtig gut, wie beispielsweise der starke und interpretationsoffene Schluss.


Besonders gefällt mir, dass Scherzant zeigt, wie im Alltag viel von der Aufmerksamkeit, die wir unseren Mitmenschen und vor allem den Menschen die wir lieben, widmen sollten, verloren geht. Geht ein Mensch verloren, bekommen diese verschenkten Augenblicke neues Gewicht.

„Taumeln“ ist nicht die Geschichte, wie das Rätsel der verschwundenen Hannah gelöst wird. Es ist vielmehr die vielschichtig erzählte Geschichte von Menschen, die nicht nur im Wald, sondern im Leben auf der Suche sind.

Für mich vielleicht kein Highlight, aber ein interessanter und lesenswerter Roman einer vielversprechenden Autorin und Schriftstellerin.

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