Intensive Familiengeschichte, die unter die Haut geht
Das Haus in der Claremont Street* "Meine Mama", flüsterte er, als er endlich jemanden in der Leitung hatte. Genau in diesem Moment ertönte von unten ein lauter Knall. "Bitte", sagte er. "Blut", fügte er hinzu, aber seine Stimme klang ...
* "Meine Mama", flüsterte er, als er endlich jemanden in der Leitung hatte. Genau in diesem Moment ertönte von unten ein lauter Knall. "Bitte", sagte er. "Blut", fügte er hinzu, aber seine Stimme klang hohl und seine Worte ergaben keinen Sinn. *
Schonmal gleich vorweg, wer einen Wohlfühlroman mit tragischer Familiengeschichte erwartet, der ist hier falsch. Auf die Geschichte von Wiebke von Carolsfeld muss man sich einlassen. Sie ist emotional, unheimlich intensiv und geht unter die Haut.
Nachdem Tom miterleben musste, wie der Vater die Mutter erschlägt und sich dann selbst erschießt, leidet er unter selektivem Mutismus; er spricht nicht mehr. Sonya, Rose und Will, die drei Geschwister seiner Mutter, nehmen sich seiner an - doch die überkorrekte Sonya, die sich ihr Leben lang ein Kind gewünscht hat, ist schnell überfordert. Und so wird er weitergereicht an Rose, die mit Will und ihrem halbwüchsigen Sohn zusammen wohnt. Hier ist alles ganz anders, chaotisch, vom ewig verstopften Abfluss bis hin zur überall vorherrschenden Unordnung. Von außen betrachtet scheint es nicht die beste Umgebung für ihn zu sein, aber vielleicht findet er dort genau die Art von Geborgenheit und Zuwendung, die er jetzt braucht.
Die Autorin erzählt ihre Geschichte aus mehreren Perspektiven, sehr emotional und ganz gemächlich. Darauf muss man sich einlassen. Es dreht sich fast alles um Gefühle. Jeder geht mit seiner Trauer und den Schuldgefühlen anders um. Was man aber in jeder einzelnen Zeile spürt und was dem Buch auch diese unheimliche Intensität verleiht, ist, das Authentische - alles ist so greifbar, so nachvollziehbar. Ob es die Flucht vor den Gefühlen ist, das Betäuben oder auch die kleine Affäre. Ja, selbst die Reaktion eines trotzigen Teenagers, dem plötzlich ein stummer 9-Jähriger vor die Nase gesetzt wird. Doch am Meisten gehen einem die Gedanken von Tom unter die Haut. Und das sehr, sehr lange.
"Das Haus in der Claremont Street" ist eine Familiengeschichte, die von tiefer Trauer und Schuldgefühlen bestimmt wird und deren so unterschiedliche Charaktere die langsame Art und Erzählweise durchaus tragen. Wiebke von Carolsfeld hat unheimlich liebenswerte, authentische Personen geschaffen, mit all ihren Stärken, Schwächen und allzu menschlichen Fehlern, die man nur gernhaben kann. Und sie lässt den Leser tief in deren Seele blicken.
Ein Buch, das man nur Stück für Stück liest und das noch lange nachhallen wird. Ich habe Tom und seine Verwandtschaft sehr gerne auf ihrem Weg der Trauerbewältigung und Heilung begleitet.