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Veröffentlicht am 23.10.2023

Eine großartige Auseinandersetzung mit der Vergangenheit

Maman
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Mamans Name war Renée Gagnieux. Soviel ist wahr. Sie war die Tochter von Cécile, die vielleicht eine Seidenspinnerin war und wurde in Lyon geboren. Die Autorin macht sich auf den Weg, in den Schuhen ihrer ...

Mamans Name war Renée Gagnieux. Soviel ist wahr. Sie war die Tochter von Cécile, die vielleicht eine Seidenspinnerin war und wurde in Lyon geboren. Die Autorin macht sich auf den Weg, in den Schuhen ihrer Mutter zu laufen, zu der sie keine intensive Bindung hatte.

Maman mochte alle ihre sechs Kinder, solange sie klein waren. Solange wir abhängig von ihr waren, zauberten wir ein Lächeln auf ihr Gesicht, dann fand sie Ruhe, sonst war ihr Leben Scham und Ausgrenzung. Sie ist eine stille Frau, die mit ernstem Gesicht, leise mit sich selbst spricht. Den Vater hasst sie womöglich.

Renées eigene Maman musste sich prostituieren, weil sie von ihrem Hungerlohn und ohne Mann, keine fünf Kinder ernähren konnte. Nach Renées Geburt verblutete sie.

Renée kam in ein Pflegeheim, gefolgt von einer Pflegefamilie, einem Bauernehepaar, das sich mit einem Pflegekind ein Zubrot verdienten. Als Renée dann sprach- und verwahrlost zu einer anderen Pflegefamilie kam, war ihr soviel Unglück widerfahren, dass sie schon ganz verkorkst war.

Das, was Maman dann später an ihre Mädchen weitergab war Verachtung und Selbstverachtung, eine obskure Angst vor Männern, vor der Liebe, vor der Schande.

Alle Männer sind Schweine, dem Mann haftet die Geilheit an. Die Männer bumsten und zahlten, die Frauen entbanden und starben. S.126

Erst in Hochzeitsnacht erinnert sich Renée an den Bauern, der sie damals Bastard nannte und sich anschließend an ihr verging. Ein Umstand, der ihr nachträglich die eigene Sexualität vermieste und sie einzig den ehelichen Pflichten nachkommen ließ.

Fazit: Ich mochte diese Ich-Erzählung sehr, die ganz klar den Anspruch erhebt, aufzuzeigen, wie schwer Frauen das Leben gemacht wurde. Entweder sie waren schmückendes Beiwerk, wertlose Anhängsel, oder Huren. Die Geschichte der Autorin macht gut verständlich, wie Mütter ihre Traumen an die nächsten Generationen weitergegeben haben und macht fassbar, welche Schwierigkeiten das weibliche Geschlecht bis in meine Generation mit ihrem Selbst-Wert hat. Ein wirklich wichtiges Buch, mit einer großartigen Klangfarbe. Ungeschönt, ehrlich und auch berechtigterweise wütend. Es ist völlig zurecht auf der Shortlist des deutschen Buchpreises zu finden.

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Veröffentlicht am 23.10.2023

Ein so lehrreiches Buch, dass es an europäischen Schulen Einzug halten sollte.

Rezitativ
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Twylas Mutter Mary tanzt die ganze Nacht, Robertas Mutter ist krank. Das ist der Grund warum sich die beiden Mädchen in einem Heim begegnen. Obwohl sie äußerlich unterschiedlich scheinen, eint sie die ...

Twylas Mutter Mary tanzt die ganze Nacht, Robertas Mutter ist krank. Das ist der Grund warum sich die beiden Mädchen in einem Heim begegnen. Obwohl sie äußerlich unterschiedlich scheinen, eint sie die Erfahrung vernachlässigt, nicht gesehen oder gehört zu werden. Dank einem tiefen Verständnis füreinander freunden sich die beiden an. Die großen Mädchen, Gar-Girls machen den beiden Angst, sie quälen die Jüngeren, stellen Beine, rufen Ausdrücke hinterher. Das Küchenmädchen Maggie wurde auch schon von ihnen zu Fall gebracht und sie kann nicht einmal Schreien. Maggie wird für Twyla die Stellvertreterin ihrer tanzenden Mutter, taub und stumm. Kein Mensch dadrinnen, der hörte, wenn man nachts weinte.

Diese außergewöhnliche Kurzerzählung, die einzige, die Toni Morrison schrieb, hat es in sich. Nicht nur des Themas wegen, sondern weil die Autorin die Geschichte einer weißen und einer schwarzen Frau erzählt, jedoch an keiner Stelle preisgibt, wer welche Hautfarbe hat. Sie überlässt die Auseinandersetzung den Leser:innen. Rezitativ war als literarisches Experiment gedacht. Und bei mir hat es wunderbar funktioniert. Während des Lesens habe ich ständig versucht, anhand irgendwelcher Attribute einzuschätzen, wer die “Weiße” ist und welche die “Schwarze”.

Ist Twyla die Schwarze, weil sie die Hauptprotagonistin einer schwarzen Ich-Erzählerin ist? S. 51

Das sie sich nie die Haare waschen und komisch riechen. Wie Roberta, also sie roch wirklich komisch. S. 53

Die Geschichte endet auf Seite 43 und dann beginnt das Nachwort, ein Essay von Zadie Smith. (Britische Schriftstellerin) Sie analysiert die Geschichte und findet ganz großartige Worte, die nicht belehren wollen, sondern mit großer Toleranz für beide Seiten einer Schwarz-Weiß-Konstruktion, Lösungen sucht.

Geschichte wird nie vollständig wiedergegeben, viele wollen vergessen, dass die Geschichte des afrikanischen Kontinents, eben auch eine Geschichte über die lange, blutige, verworrene Begegnung mit der europäischen Bevölkerung ist.

Wenn in der Präsentation eines alten englischen Herrenhauses nicht nur berichtet wird, woher die schönen Gemälde stammen, sondern auch woher das Geld kam, mit dem sie erworben wurden – wer wie und warum leiden musste und ums Leben kam, um dieses Geld zu beschaffen, dann wird Geschichte vollständig erzählt.

Wir leben seit vielen hundert Jahren in bewusst rassifizierten, menschengemachten Strukturen – mit anderen Worten, in gesellschaftlich verankerten und mitunter gesetzlich verpflichtenden Fiktionen, die sich als unfähig erweisen, Unterschiede und Gleichberechtigung nebeneinander anzuerkennen.

Wie können wir das schmutzige Badewasser “Rassismus” jetzt plötzlich ausschütten, wo wir das Kind race jahrhundertelang so fest ans Herz gedrückt und – selbst wenn wir das ganze Grauen mitrechnen – auch so viel schönes aus ihm erschaffen haben?

Fazit: Ein wohltuendes Buch, das mich meinen eigenen Hang zu Vorurteilen erkennen lässt, ohne mich dafür zu verurteilen. Ein Buch, das an europäischen Schulen Einzug halten sollte und Schüler darüber nachdenken lassen könnte, warum wir uns in diesem System zwangsläufig an anderen bereichern, denen es schlechter geht, je besser es uns geht.

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