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Veröffentlicht am 14.03.2024

Sehr eindringliche Aufarbeitung

Maifliegenzeit
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Katrin und Hans haben ihren Sohn, wenige Tage nach seiner Geburt, verloren. Jetzt liegt Katrin in ihrem Bett und weint. Die Suppe, die Hans ihr brachte, hat sie nicht angerührt, den Tee nicht getrunken. ...

Katrin und Hans haben ihren Sohn, wenige Tage nach seiner Geburt, verloren. Jetzt liegt Katrin in ihrem Bett und weint. Die Suppe, die Hans ihr brachte, hat sie nicht angerührt, den Tee nicht getrunken. Er weiß, dass er mit Katrin reden muss, ihr Trost schenken, sie festhalten, aber er verlässt das Haus, geht zügig runter zum Fluss.

Am siebten Mai 1978 begräbt Hans seinen Sohn. Der Feuerwehrmann, dessen Aufgabe das eigentlich war, ist in Urlaub. Der Einfall des Sonnenlichts setzt alles ihn Umgebende grell in Szene. Die weißen Blüten des Apfelbaums, die pastelgelbe Kirche, den roten Traktor. Nachdem er auf die Erde eingehackt hat, mit der ganzen Kraft des fünfundzwanzigjährigen, bricht er zusammen und weint.

Der Tod eines Neugeborenen gehört zu den Dingen, die am äußersten Rand unserer Vorstellungskraft liegen. Er widerspricht dem natürlichen Ablauf des Lebens auf so ungeheuerliche Weise, dass mich auch heute noch, der leiseste Gedanke daran aus dem Gleichgewicht bringen kann. S. 22

Katrin wollte nicht wahrhaben, dass unser Sohn verstorben war. Sie hielt Monologe darüber, wie er laut geschrien hatte, als sie ihn von ihr fortbrachten, dass er nicht geklungen habe, wie ein Säugling mit schweren Herzproblemen. Der Arzt, der uns habe die Papiere unterschreiben lassen, habe ihr nicht in die Augen gesehen. Hans kann es nicht mehr hören, er schreit Katrin an, sie solle ihn endlich ruhen lassen und dann schüttelt er sie, wie man ein unwilliges Kind schütteln möchte. Danach ist Katrin weg, sie hat ihn verlassen.

Vierzig Jahre später bringt seine Lebensgefährtin Anna ihm einen Zettel.

Daniel hat angerufen, sagt sie, mit trockener und brüchiger Stimme. S. 15

Daniel, mein einziges Kind, das seit vierzig Jahren tot ist.

Fazit: Der Autor drückt sich sehr präzise aus. Er weiß genau, was er sagen will und das macht er, nicht mehr, nicht weniger und damit erzielt er die Essenz von Trauer, der Unfähigkeit zu Trösten, des Weglaufens, der Angst vor der eigenen Erschütterung und des Kontrollverlusts, wie sie Männern zuzutrauen ist. Seine Sprache ist eindringlich, durchzogen von Erinnerungen an den eigenen Vater, der als manisch-depressiver Mann, die Flucht nach vorn antrat, um seinen Dämonen zu entkommen. Er saß die meiste Zeit am Fluss, und angelte. Die Geschichte spricht über die Verletzlichkeit durch einen Verlust, der einen ein Leben lang begleitet. Wundervoll verbindend, eine solche Geschichte aus Sicht eines Mannes zu lesen. Und eine gelungene Aufarbeitung eines der dunkelsten Kapitel in der Vergangenheit Ostdeutschlands. So war die Geschichte von Karin S. aus Sachsen-Anhalt Grundlage für dieses Buch. Sie sucht noch heute nach ihrem Kind.

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Veröffentlicht am 14.03.2024

Die Protagonistin hat mich nicht überzeugt

Kosakenberg
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Kathleen reist aus London an, um ihre Eltern in Kosakenberg zu besuchen. Schon am Bahnhof holt sie dieses alte Gefühl ein, an einem Rand zu stehen, hier am Ende der Welt. Ihr wortkarger Vater, dessen Blaumann ...

Kathleen reist aus London an, um ihre Eltern in Kosakenberg zu besuchen. Schon am Bahnhof holt sie dieses alte Gefühl ein, an einem Rand zu stehen, hier am Ende der Welt. Ihr wortkarger Vater, dessen Blaumann über dem Bauch strammt, verspätet sich auch noch, was ganz untypisch für ihn ist. “Der Verkehr”, als sei er durch Berlin hierher gekommen. Im Auto sitzen sie schweigend nebeneinender. Wie immer fragt er sie nichts, stattdessen fährt er ziemlich schnell.

Ihrem Freund Octavio verschweigt sie ihre Herkunft, so sehr schämt sie sich für ihre Eltern, für das Dorf, ihr Elternhaus. Das Leben, das sie in London führt, hat keinerlei Ähnlichkeit mit ihrer Vergangenheit. Sie war nach dem Abitur nach Berlin gegangen, um Grafikdesign zu studieren. Ein Praktikum in Hannover, dann wieder Berlin, folgten. Alles war gut, aber sie war noch nicht weit genug von Zuhause weg, fand sie. Deshalb hatte sie ihren vorletzten Arbeitgeber gefragt, ob er sie nach Amerika versetzen könnte. Er bot ihr London an, sie sagte sofort zu und hat es keinen Tag bereut. Ihr Highlight war der Besuch bei der Queen, auf der Gartenparty im Buckingham Palace. Dort waren nur hochrangige Persönlichkeiten geladen. Sie schüttelte Camilla die Hand, die in Natura ganz anders aussah, als auf Fotos.

Jetzt ist sie wieder hier in dem Haus, das schon ihrer Großmutter gehört hat, ohne Heizung, mit dem Plumpsklo im Garten. Ihr Vater verlor schon 1990 seine Arbeit als die Fabrik geschlossen wurde, das Geld, das er mit seinen Nebenjobs verdient reicht gerade so.

Fazit: Die Autorin lässt ihre Protagonistin zurückblicken. Jedes Kapitel beschreibt eine Heimreise und was sie dort erlebt. Sie schwelgt in der Vergangenheit und lässt mich erfahren, wie sie aufgewachsen ist, dann blickt sie in die Gegenwart und beschreibt ihr Leben in England. Ich mochte die Interaktionen mit den Dorfbewohnern sehr, damit hat mich die Autorin in ihren Bann gezogen. Die Protagonistin mochte ich ebensowenig, wie ihre damalige Freundin Nadine. Müssen Protas immer sympathisch sein? Nein sicher nicht, aber es erleichtert die Identifikation mit ih*r und damit das Lesen ungemein. Was ich allerdings beanstande ist, dass die Autorin ziemlich dünn gezeichnet war. Ich hätte mir ein wenig mehr Charakterfestigkeit und klare Ansichten gewünscht und weniger Schuldzuweisungen.

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Veröffentlicht am 12.03.2024

Der Inhalt kann den Selbstwert stärken, Freude und ein wenig Frieden schenken

Die sieben Türen
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Das kleine Leuchten weiß noch nicht was es ist, als es die kleine Raupe, mit der großen Brille kennenlernt. Die kleine Raupe stellt sich als Jara vor und möchte das kleine Leuchten auf eine Reise mitnehmen, ...

Das kleine Leuchten weiß noch nicht was es ist, als es die kleine Raupe, mit der großen Brille kennenlernt. Die kleine Raupe stellt sich als Jara vor und möchte das kleine Leuchten auf eine Reise mitnehmen, an dessen Anfang, das kleine Leuchten selbst steht. Als dieses sich umdreht, schält sich aus dem Dunkel eine Reihe von Türen heraus, sieben an der Zahl. Hinter jede davon, wird es schauen dürfen. Hinter jeder wird es zwei Dinge finden, die gegensätzlich und doch untrennbar miteinander verbunden sind.

Die erste Tür, die sich öffnet, präsentiert Licht und Dunkelheit. In der tiefen Schwärze spürt das kleine Leuchten, das so schwach strahlt, dass es von der Dunkelheit nahezu absorbiert wird, große Angst. Doch die freundliche Stimme der Dunkelheit, macht es auf sein eigenes Strahlen aufmerksam. Bei dieser Übung lernt das kleine Leuchten, dass es besser ist, die Dunkelheit zu akzeptieren, statt sie zu verfluchen. Es lernt, dass wir meist erst durch das Dunkel ins Licht gelangen. Nachdem es das verinnerlicht hat, fühlt es sich nicht nur größer, sondern leuchtet auch schon ein wenig heller.

Hinter der zweiten Tür verbergen sich die Gegensätze Mut und Angst. Das kleine Leuchten betritt eine dunkle Stadt mit erleuchteten Fenstern und vielen Türen. Es erfährt, dass hinter jeder dieser Türen, eine, der Ängste des kleinen Leuchtens steht und sein Leben lang darauf wartet, dass es eine nach der anderen öffnet. So prophezeit es ihm eine raue Stimme, die Mut gehört. Lieber würde das kleine Leuchten keine dieser Türen öffnen, aber Mut hält das für keine gute Idee, weil dann immer mehr Türen dazu kämen.

Während das kleine Leuchten sich durch Zeit und Raum bewegt, um seine Erfahrungen zu machen, weicht die kleine Raupe ihm nicht von der Seite und beantwortet eine Vielzahl seiner Fragen. Bei manchen bittet sie um Aufschub, weil sie später selbsterklärend würden.

Am Ende seiner Reise, wird das kleine Leuchten, das dann schon deutlich heller strahlt, eine Entscheidung treffen müssen, die sein jetziges Dasein verändern wird.

Fazit: Was für eine kluge und liebevolle Geschichte, die ich jeder Familie mit Kindern zwischen drei und acht Lebensjahren empfehlen möchte aber ebenso allen jung gebliebenen Erwachsenen. Dieses zauberhaft und bildreich gestaltete Kleinod ist eine gelungene Geschenkidee. Es enthält soviel Weisheit, die mit wenigen Worten kinderleicht transportiert wird.

Achtung! Der Inhalt kann den Selbstwert stärken, Freude und ein wenig Frieden schenken.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

Sehr experimentell

Paare
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Die namenlose Protagonistin träumt, von mehreren Frauen verführt zu werden. Dann begegnet ihr in der Realität ihres Alltags eine Frau, die sie überaus reizvoll findet. Sie bittet ihren Freund ihr Sex mit ...

Die namenlose Protagonistin träumt, von mehreren Frauen verführt zu werden. Dann begegnet ihr in der Realität ihres Alltags eine Frau, die sie überaus reizvoll findet. Sie bittet ihren Freund ihr Sex mit Frauen zu “erlauben”. Schneller, als er antworten kann, lässt sie sich auf die reizvolle Frau ein und verbringt das Wochenende bei ihr.

Ihr Partner ist dem Verhältnis emotional nicht gewachsen und trennt sich von ihr.

In den nächsten Wochen hat sie obsessiven Sex und findet, wonach sie sich gesehnt hat. Endlich darf sie sich unterwerfen, sich hingeben und mit der Geliebten zu einer Einheit verschmelzen. Doch die sexuellen Begierden haben einen Preis, sie muss ihre Geliebte mit anderen Frauen teilen.

Für die Protagonistin wird diese Liebe, einer der primären Antriebe zur Selbsterkenntnis.

Fazit: Ich bin erstaunt darüber wieviel ich aus den wenigen Seiten herausholen konnte. Die teils verwirrenden Sprachgebilde dechiffriert habe. Mir war das Geschriebene zu experimentel. Tatsächlich begegneten mir im letzten Jahr eine ganze Reihe an Geschichten, die die Themen Bisexualität, Homosexualität, Queerness bis in die Tiefen beleuchteten und ich mag diese Geschichten ebenso, wie Geschichten über heterosexuelle Protagonist*innen. Für mich hat die Autorin auf wenigen Seiten etwas zu viel versucht. Es reicht meines Erachtens völlig aus eine, wie auch immer sexuell geartete Geschichte, mit Selbsterkenntnis zu verpaaren (sex sells). Ich hätte jedoch keine Sprachakrobatik gebraucht und fand sie eher hinderlich. Alte Besen kehren auch ganz gut. Das Cover ist wundervoll gestaltet. Die Zitate auf dem Buchrücken versprechen große Begeisterung, die ich nicht teile.

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Veröffentlicht am 11.03.2024

So eine feinsinnige Geschichte

Lehre mich zu leben
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Hermine bezieht ein kleines Zimmer im Anwesen ihrer Großtante Louise. Sie ist die Tochter ihres tschechischen Vaters und ihrer belgischen Mutter. Ihren Rufnamen hat sie von ihrer böhmischen Großmutter. ...

Hermine bezieht ein kleines Zimmer im Anwesen ihrer Großtante Louise. Sie ist die Tochter ihres tschechischen Vaters und ihrer belgischen Mutter. Ihren Rufnamen hat sie von ihrer böhmischen Großmutter. Ihr Vater wollte sie Slavka nennen, doch ihre Mutter hatte befürchtet, dass sie dann für alle “het slaafie” geheißen hätte, das Sklavenkind.

Hermine besucht seit wenigen Tagen die Universität in Gent, sie möchte Germanistik studieren. Am ersten Tag begegnete ihr im Hörsaal der hochgewachsene Dirk de Witte, den sie Didier nennen wird. Ihr Professor lädt die studierenden außerhalb der Vorlesungen zu sich nach Hause ein, um ihre Ansichten hinsichtlich diverser Dichter zu erfahren. Hermine fürchtet sich davor den Professor zu langweilen, daher stellt sie die Besuche zuerst einmal ein. Doch dann verliert sie ihren Vater

und begreift erst jetzt, wie unverzichtbar er ist. Nicht ein einziges Mal habe ich ihn gebeten, mir von seinem Heimweh nach Böhmen zu erzählen. Ich weiß fast nichts über sein Leben. S. 29

Sie spricht nicht einmal mit Y, ihrem Freund über die Farbe des Verlustes.

Dann ereilt die Botschaft “Marc habe sich eine Kugel in den Kopf geschossen”. Und dann findet man Maria tot in den Straßen von Gent und niemand weiß, wie und warum sie es gatan hat.

Beim Gedenkgottesdienst ist auch Professor Hermann sehr betroffen, weil er ihnen so viel über die Frühvollendeten Dichter erzählt hatte, denen es offenbar genügte 20 oder 30 Jahre zu lebem. S. 33

Hermine und Didier verlieren sich aus den Augen und treffensich erst fünfzehn Jahre später wieder, weil Hermine ihn auf einen Kongress begleiten soll.

Fazit: Die Autorin bewegt sich auf den Spuren Rilkes und Kafkas, dem eigenen Heimweh, ihrer Identität und Liebe. Ganz feinsinnig beschreibt sie die Charaktere, die ihr begegnen und die Ortschaften. Es ist, als sei ich selbst mit ihr und Didier in Wien gewesen. Sie teilt schöne Metaphern, darüber, wie Prag entstanden ist. Ihr Kopf ist eine Enzyklopädie, sie lässt diese Wissen einfließen ohne zu erschlagen. Die Geschichte an sich, ist keine typische Liebesgeschichte. Hermine versucht Didiers Schwermut durch ihre eigene Leichtigkeit aufzufangen, dadurch entsteht eine Abhängigkeit. Er ist ganz und gar mit sich selbst beschäftigt, offensichtlich depressiv und kaum alltagsfähig. Auf der Life-Event-Skala von 1-10 entgleitet ihm alles, seine Frau und dann Hermine, das führt in seinem Kopf zu der einzig möglichen Konsequenz, seinem sinnlosen Dasein ein Ende zu setzen. So brachial wie realistisch. Eine durch und durch lesenswerte Geschichte, die erstmals 1975 veröffentlicht und erst jetzt ins Deutsche übersetzt wurde.

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