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Veröffentlicht am 07.03.2024

Was bedeutet Neurodiversität

Die Autistinnen
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Die Autorin beginnt ihren Essay mit einem kurzen persönlichen Blick auf ihren eigenen Autismus. Ich erfahre, dass ihr Sätze im Kopf hängen bleiben und sich wiederholen. Sie bewegt sich unsicher in der ...

Die Autorin beginnt ihren Essay mit einem kurzen persönlichen Blick auf ihren eigenen Autismus. Ich erfahre, dass ihr Sätze im Kopf hängen bleiben und sich wiederholen. Sie bewegt sich unsicher in der Welt, weil ihr nicht klar ist, welche Erwartungen ihre Umwelt an sie richtet. Ihre empfundene Unzulänglichkeit, lässt sie permanent angespannt sein. Sie ist von einer tiefen Trauer erfüllt, die sie nicht greifen kann. Nachts wird sie von Alpträumen heimgesucht.. Seit ihrem achtzehnten Lebensjahr befindet sie sich in Therapie. Jetzt als sie uns an ihrem “Sosein” teilhaben lässt, ist sie gerade aus der Psychiatrie entlassen worden und bei einem kompetenten Neurologen, der sie erstmalig, mit Erfolg, auf eine Autismus – Spektrum – Störung testet.

Die Autorin begibt sich mit ihrem hochfunktionalen Autismus in die Öffentlichkeit, weil sie glaubt, dass diese Beeinträchtigung gerade bei jungen Mädchen und Frauen zu selten diagnostiziert wird. Introvertierte anpassungsfähige Mädchen werden als normal erachtet und fallen aus dem Raster, weil sie keine Probleme machen.

Eine autistische Frau, die eine Doktorarbeit in theoretischer Philosophie schreiben kann, aber immer wieder neu überlegen muss, wie man eigentlich eine Scheibe Brot abschneidet, ist dagagen eine seltene Figur im kollektiven Bewusstsein. S. 19

Die Autorin zeigt welche sieben Kriterien erfüllt sein müssen, damit man von einer autistischen Spektrumstörung sprechen kann. Sie hat tief in der Geschichte berühmter Frauen recherchiert, die von ihrem Umfeld als eigenbrötlerisch, unsozial, menschenfeindlich und zurückgezogen beschrieben wurden, die, so vermutet die Autorin, einfach nur neurodivers waren.

Fazit: Das war jetzt gar nicht meins. Die melancholische Stimmung, die sich durch das gesamte Buch zog, hat es mir nicht leicht gemacht bis zum Ende zu lesen. Diese Melancholie ist mir bei skandinavischen Schriftstellerinnen schon häufiger begegnet. Die Mutmaßungen über autistische Künstlerinnen waren mir zu abstrakt. Es entspricht nicht meiner Erfahrung, dass Neurodiversität noch immer stiefmütterlich behandelt würde. Wenn ich das Internet öffne begenen mir viele Seitenhinweise zum Thema, darunter auch einige Selbsttests, die erste Hinweise auf die Möglichkeit einer Neurodiversität geben. Das einzige was ich dem Buch und der Intention der Autorin Zugute halten mag ist, dass es in der belletristischen Literatur (nahezu) keine Geschichten über neurodiverse Frauen gibt.

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Veröffentlicht am 04.03.2024

Ein außergewöhnliches Buch

wir sind pioniere
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Bruckner wacht verkatert in einem Hotel in Graz auf, weil jemand im Flur ununterbrochen “hoaskeeping” ruft. Gestern war er mit den Start Up Leuten noch um die Häuser gezogen, heute wird er sie im Rahmen ...

Bruckner wacht verkatert in einem Hotel in Graz auf, weil jemand im Flur ununterbrochen “hoaskeeping” ruft. Gestern war er mit den Start Up Leuten noch um die Häuser gezogen, heute wird er sie im Rahmen des ESC interviewen. Gerade erfährt er per Whats App, dass Vero schwanger ist. Bruckner freut sich wie Bolle, aber nur ganz kurz, denn dann trift ihn der Kater im Kopf volle Breitseite.

Auf dem Weg zum ESC grübelt er über den Namen nach “Kuno, Bruno, Juno”. Dann fragt er sich, wie er auf der Flucht vor dem Dispo im Rücken eine Familie finanzieren soll. Jetzt mit 33 ist er beruflich noch nicht so gefestigt, wie er das gerne wäre.

Veros Affäre, der Amphetaminjunky Keno weilt in Mannheim, wo er seit dem Studium festhängt, aber damit ist jetzt Schluss. Bruckner und Vero waren sich einig, dass, sobald sie eine Familie gründen ist Ende mit Keno, denkt Bruckner.

Währendessen folgt Vero ihren ganz eigenen Gedanken. Nachdem sie das mit Keno via Skype zuendegebracht und gesehen hat, dass der da gar nicht mit klar kommt, macht sie sich auf den Weg nach Mannheim. Allerdings kennt sie ja die Abmachung mit Bruckner und die macht es ihr jetzt nicht ganz so leicht.

…die probleme formen eine schlange und wollen eins nach dem anderen durchgedacht werden eine problemschlange und wenn ich mit einem fertig bin stellt es sich wieder hinten an und so geht das immer weiter.

Fazit: Ein wirklich außergewöhnliches Buch. Kaleb Erdmann hat sich entschieden jedes Wort klein zu schreiben und ganz auf Interpunktion zu verzichten und es liest sich überraschend leicht. Ich mag die vielen Eindrücke der unterschiedlichen Städte, das verspielte Graz, das kommerzielle München, das hässliche Mannheim, das nur aus Betonklötzen zu bestehen scheint. Und ich liebe seinen Humor. Kaleb Erdmann erfasst Situationskomik und schafft es, sie slapstikmäßig zu transportieren. Und so durfte ich mich Passagenlang fast totlachen. Die Geschichte an sich handelt von Freiheit, Eifersucht, Sicherheit und Wut, auf dem Boden einer Frindship with benefits-Beziehung, versus romantischer Beziehung. Ich empfehle dieses locker geschriebene Debüt gerne weiter.

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Veröffentlicht am 01.03.2024

Eine Inszenierung, wie sie das Leben geschrieben haben könnte.

Sie sagt. Er sagt.
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Zur Einführung werde ich in einen Gerichtssaal an einem Landgericht versetzt. Der Autor stellt mir die Vorsitzende Richterin vor, die Staatsanwaltschaft, Verteidiger, den Referendar und die Schöffen, die ...

Zur Einführung werde ich in einen Gerichtssaal an einem Landgericht versetzt. Der Autor stellt mir die Vorsitzende Richterin vor, die Staatsanwaltschaft, Verteidiger, den Referendar und die Schöffen, die Nebenklägerin wird sich verspäten.

Der Prozess beginnt mit der Gerichtsmedizinerin Laux-Frohnau. Sie hatte die Klägerin Katharina Schlüter am 17. August, auf deren Wunsch hin, untersucht. Frau Schlüter gab an drei Tage zuvor vergewaltigt worden zu sein, sich jedoch gleich danach ausgiebig geduscht und sogar eine Scheidenspülung vorgenommen zu haben.

Im weiteren Verlauf des Verfahrens erfahre ich, dass die Nebenklägerin und der Angeklagte, Christian Thiede, seit Jahren ein Verhältnis hatten. Katharina Schlüter wirft Christian Thiede vor, sie am letzten Tag ihrer Übereinkunft vergewaltigt zu haben. Tatsächlich seien sie zu dem Zeitpunkt schon getrennt gewesen und hätten sich zufällig auf der Straße getroffen. Sie ging mit ihm in seine Wohnung, folgte ihm ins Schlafzimmer, ließ sich von ihm ausziehen, auf das Bett und ihn auf sich legen. Nachdem er begann sie zu penetrieren, kam ihr der Gedanke, dass das was sie da taten falsch war. Sie bat ihn aufzuhören, aber er machte weiter.

Als die Psychologische Sachverständige Pia Altstedt aufgerufen wird, soll sie Licht ins Dunkel bringen und das macht sie. Kenntnisreich und informativ erklärt sie dem Gericht, dass es im Verhalten von Vergewaltigungsopfern keine Normen gibt. Manche wären gefasst und unterkühlt, andere dagegen kurz vor dem Nervenzusammenbruch. Sie liefert etliche Beispiele, die auch historisch bedingt sind, warum den weiblichen Opfern seltener geglaubt wird als den Tätern und welche unserer Vorurteile dazu führten.

Fazit: Eine Inszenierung, wie sie das Leben geschrieben haben könnte. Die Verhandlung erinnert mich an den “Kachelmann Prozess”. Ebenso an die

metoo Debatte, die von der kontroversen Bewegung

notmee malträtiert wurde. Über den gesamten Verhandlungsverlauf bringt Von Schirach immer wieder gekonnt neue Indizien und Zeugen ins Spiel, die mich mal glauben lassen, die Nebenklägerin habe recht, dann wieder kommen mir Zweifel, weil sie zuvor die Beziehung als innig und verständnisvoll geschildert hat. Warum also sollte er das tun? Wollte sie ihm schaden? Aber es muss ihr klar gewesen sein, dass sie sich mit der Veröffentlichung selbst schadet. War sie rachsüchtig, weil er die Beziehung beendet hat? Warum setzt sie überhaupt alles aufs Spiel, sie hat doch seit Jahren mit ihm geschlafen? Fragen über Fragen und eine überraschende Auseinandersetzung mit mir und meinen eigenen Glaubenssätzen. Lesenswert!

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Veröffentlicht am 29.02.2024

Ole Liebl hat definitiv meinen Horizont erweitert

Freunde lieben. Die Revolte in unseren engsten Beziehungen
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Zunächst einmal führt Ole Liebl mich in die sexuellen Begrifflichkeiten ein, was mir hilft zu differenzieren und dem folgenden Text zu folgen. Dafür bin ich dankbar, denn ich merke, dass ich eingerostet ...

Zunächst einmal führt Ole Liebl mich in die sexuellen Begrifflichkeiten ein, was mir hilft zu differenzieren und dem folgenden Text zu folgen. Dafür bin ich dankbar, denn ich merke, dass ich eingerostet bin. Die Autorin unterscheidet die F+ Beziehung, also Frindship with benefits, oder Freundschaft+ Erotik, von Hookup, Fickbeziehung, One Night Stand, BootyCall, Fuck Buddys, Casual Sex (No Strings Attached) und von der Affäre.

Die Freundschaft+ ist im Gegensatz zu den anderen erwähnten Spielarten der Erotik eine Vereinigung mit mehr oder weniger großer Verbindlichkeit, wobei die Freundschaft an erster Stelle steht und nicht der Sex.

Ole Liebl hat aufwendig recherchiert und nimmt uns mit auf eine Reise in die Geschichte der Sexualität. Beleuchtet das Konstrukt der Ehe, mit all ihren Abhängigkeiten, Machtgefällen und Sicherheiten, beleuchtet die Aufgabe der katholischen Kirche und wie diese durch den Staat abgelöst wurde. Wie wichtig die kontrollierte Geburtenrate der Ehe zu Zeiten der Kriege wurden. Wie sehr Frauen aber auch Minderheiten begrenzt und beschnitten wurden/werden. Lange Zeit hatte man der Frau jegliche eigenständige Sexualität abgesprochen, sie zum passiven, empfangenden Weibchen erkoren, frei von Rückgrat, geschwätzig und zu Hysterie neigend. Ole zeigt, wie sehr wir diese Rollenbilder bis ins Heute interniert haben, was uns das “freiwillige” unentgeltliche Kümmern von Frauen in der Care Arbeit (Pflege von Angehörigen, Kindererziehung, Hausarbeit) zeigt.

Ich mochte diesen Exkurs sehr, weil ich viele Informationen bekommen habe, die ich nicht kannte. Besonders gelungen fand ich das Kapitel, Liebe, Sex und Kapital: 150 Jahre sexuelle Kommerzialisierung. Sex sells, wie sich durch Werbung Geschlechteridentität und sexuelle Orientierung kristallisiert hat.

Um sexuell begehrenswert zu sein, so verspricht die kapitalistische Gegenwart, muss also konsumiert werden. S. 61

Ein Dogma, dem sich immer noch die Mehrheit der weiblichen Bevölkerung beugt.

Ole Liebl propagiert den verantwortlichen Umgang mit Sexualität im algemeinen und die Wichtigkeit eines gemeinsamen Konsens, damit niemand verletzt wird, weder physisch noch emotional. Er glaubt, dass in der Intimität und dem Vertrauen, das Freundschaft mit sich bringt, die Chance liegt seine Wahlfamilie zu festigen und den sinnlichen Horizont, dessen was guttut, zu erweitern.

Während in romantischen Beziehungen oft hohe Erwartungen an ein “geschlechtergerechtes” Verhalten bestehen, die mit Performancedruck einhergehen, unterliegt die Freundschaft solcher gesellschaftlicher Normen kaum. S. 91

Fazit: Ein gut geschriebenes Buch, das mit seinen revolutionären Thesen, definitiv meinen Horizont erweitert hat.

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Veröffentlicht am 27.02.2024

Eine skurrile Geschichte mit schwungvollen Wendungen

Nicht aus der Welt
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Bing Hempel hat 26 Semester Irgendwas studiert. Seine Freundin Elfie ist Maskenbildnerin, die das Konzept Makeup, Nagellak und gepflegtes Äußeres leidenschaftlich pflegt. Im Vergleich zu ihr schneidet ...

Bing Hempel hat 26 Semester Irgendwas studiert. Seine Freundin Elfie ist Maskenbildnerin, die das Konzept Makeup, Nagellak und gepflegtes Äußeres leidenschaftlich pflegt. Im Vergleich zu ihr schneidet Hempel eher schlecht ab und so ist Elfie, das Beste, das ihm je passiert ist. Sie hat viel zu sagen, erzählt meist einfach so drauf los. Und so war das mit dem Wünschen passiert. Auf ihre Frage hin, was er sich am meisten wünsche, wollte er mit etwas aufwarten, das unmöglich zu erreichen ist, etwas Besonderes: “den Marathon in New York gewinnen”! Elfie klatschte begeistert in die Hände und verordnete ihm zuallererst dieses Lauftraining.

Friederike leidet unter Tagträumen, ihr Baby würde aus der vierten Etage stürzen, weil sie es losließe. Wie ein heranrasender Bus den Kinderwagen erfasst. Sie überwindet ihre schreiend schmerzenden Brustwarzen, weil ihr Mann Thomas sagt, es sei das Beste, was sie ihrem Kind jetzt geben könne. Außerdem beneide er sie um die berufliche Pause, der wichtige Chirurg. Friederike, die aus Sicht ihrer Umwelt ein Baby bespaßt, hat dem Herrn Doktor, der täglich Menschenleben rettet, nichts entgegenzusetzen. Im Licht der Werteskala haben sich ihre Rollen verschoben. Friederike hat das Leben, das mit der Geburt ihres schreienden Kindes endete, geliebt. Sie war beruflich erfolgreich, hatte als Dekanin die Fakultät geleitet, tingelte durch andere Großstädte und wurde regelmäßig in ihrem Kiez gesichtet. Dann war sie mit 43 schwanger geworden, weil die Kupferspirale versagt hatte. Jetzt findet sie Erfüllung, wenn sie einmal zehn Minuten allein im Bad ist. Sie sieht mitgenommen aus, mit ihren strähnigen Haaren, dem verkniffenen Mund und den Spuckflecken auf dem Shirt. Wenn sie nicht bald Schlaf findet wird sie jemanden umbringen.

Als der zwanghafte Valentin, Architekt und Geschäftsführer eines Hotels, das sich mitten in Berlin und doch im Verborgenen befindet, in ihr Leben tritt, verändert sich für Friederike alles.

Fazit: Was für eine skurrile Geschichte. Die Autorin hat einige lebensechte Charaktere zusammengebracht und sie, wie im wirklichen Leben, interagieren lassen. Der eine, zwanghaft und kontrollsüchtig, mit weitreichenden Ängsten davor sich anzustecken. Die andere als Spätgebärende, verständlicherweise völlig überfordert mit ihrem Säugling, der sie mit einem Schlag aus dem Leben gerissen hat. Zusätzlich gepeinigt durch Freundeskreis und Mann, die alles bagatellisieren und besser wissen. Ein junger Mann, der den Erwartungen seiner Mutter, von Kindheit an, nicht gerecht wird, diese Erwartungen auf seine Umwelt projiziert und sich dadurch in echte Schwierigkeiten manövriert. Das Ende ist ein schönes, aber bis dahin unterhält uns Anne Köhler mit viel Ironie, Sarkasmus und schwungvollen Wendungen. Eine spritzige Reise, die ich genossen habe.

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