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Veröffentlicht am 07.05.2024

Was für eine fesselnde Geschichte

Jeanie und Julius
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Jeanie war sechzehn als sie die Schule ohne Abschluss verließ. Das rheumatische Fieber hatte sie erwischt und die Bakterien ihr Herz nachhaltig geschädigt. Ihre Mum Dot berschwor sie immer wieder, sich ...

Jeanie war sechzehn als sie die Schule ohne Abschluss verließ. Das rheumatische Fieber hatte sie erwischt und die Bakterien ihr Herz nachhaltig geschädigt. Ihre Mum Dot berschwor sie immer wieder, sich zu schonen und so häuften sich die Fehlzeiten. Sie hatte sich von Dot zeigen lassen, wie man den Garten bewirtschaftet. Ein paar Hühner wurden angeschafft, und dank den Gelegenheitsarbeiten ihres Bruders Julius hielten sie sich gerade so über Wasser. Doch dann fand Jeanie Dot auf dem Küchenfußboden, tot. Die Geschwister haben kein Geld, um Dot zu beerdigen. Derweil bahren sie sie auf einer Holztüre im Wohnzimmer auf, um eine Lösung zu finden.

Am nächsten Tag steht Rawsons Frau vor der Tür. Rawson gehört das heruntergekommene Cottage in dem sie schon so lange wohnen und Jeanie hasst ihn. Jetzt will seine Frau zweitausend Pfund Mietrückstände eintreiben. Jeanie weiß jedoch, dass sie mietfrei wohnen, weil Rawson ihren Vater auf dem Gewissen hat. Zumindest war das die Version, die Dot ihnen erzählt hat. Ihr Bruder hätte die Rawson sicher hinhalten können, doch der ist in den Ort hinuntergeradelt, um den Arzt zu rufen, damit er den Totenschein ausstellt.

Dots beste Freundin Bridget ist eine der Arzthelferinnen und erfährt so vom Tod ihrer Freundin. Sie bietet Jeanie an, sie in die Stadt zu fahren, um weitere Papiere zu beantragen. Auf der Fahrt erfährt die verzweifelte Jeanie, dass Dot sich von Bridgets Mann Geld geliehen hat. Die nächsten Tage allerdings, werden Jeanies Herz erst richtig auf die Probe stellen.

Fazit: Was für eine fesselnder Ideenreichtum. Was für ein Drama. Die Autorin erzählt diese Geschichte, die immer schlimmer wird völlig unprätentiös. Sie reiht verschiedene Szenen aneinander, bis ein angemessen glaubhaftes Elend fassbar wird. Sie lässt Bilder entstehen und führt mich mitten hinein, in dieses Leben, die marode Wohnsituation, die feindlich gesinnten Menschen, Armut, Verlust und Verzweiflung. Ich leide mit Jeanie und Julius mit, frage mich, wann der Albtraum endlich aufhört, hoffe, bange und zürne. Die letzten 50 Seiten beschenkt mich die Autorin dann mit einer Kehrtwende, die so viel Leichtigkeit und Lebensfreude mit sich bringt, dass sie imstande ist, meine Traurigkeit aufzulösen. Danke für dieses emotionale Feuerwerk.

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Veröffentlicht am 03.05.2024

Eine verrückte kleine Parabel

Die Unordentlichen
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Als die siebzehnjährige Virginia mit ihrem Vater auf Sonya trifft, scheint diese, jede Art von Nähe als Zumutung zu empfinden. Körperkontakt oder auch nur ein Blick scheint in ihr hochgradiges Unwohlsein ...

Als die siebzehnjährige Virginia mit ihrem Vater auf Sonya trifft, scheint diese, jede Art von Nähe als Zumutung zu empfinden. Körperkontakt oder auch nur ein Blick scheint in ihr hochgradiges Unwohlsein zu erzeugen. Virginia bewundert Sonyas diszipliniertes Auftreten, wie die Wahl ihrer Kleidung, fühlt sich jedoch in der Nähe, der unterkühlten Künstlergattin unwohl.

Bis dahin hatte ich Sonyas Feindseligkeit – als reifer Ernst, senile Ungerührtheit verkleidet – nur bei einigen Männern erlebt. S.8

So gern Virginia auch mit ihrem Vater verreist, so unglücklich gestalten sich die Morgenstunden. Ihr Vater, der ohne eine Überdosis Lorazepam nicht schlafen kann, kommt nach dem Erwachen nur schwer auf die Beine. So auch an dem Morgen, als sich der Unfall ereignet, den sie, zuerst aufgeschreckt durch die Sirenen, vom Fenster aus beobachtet. In dem Tumult sieht sie Sonyas Gestalt, sie trägt einen Morgenmantel und hat Virginia den Rücken zugewandt. Ihr Gesicht richtet sich auf einen unglücklichen Tropf, der wild gestikuliert und schreit, wohl weil er von der Hüfte abwärts zwischen zwei Fahrzeugen eingeklemmt ist. Von Virginias Fenster aus, wirkt die Szenerie nicht so dramatisch, als dass sich das Geschrei erklären ließe. Doch als sie dann Sonyas erschüttertes Gesicht sieht, beschließt sie, sich das ganze aus der Nähe anzusehen.

Fazit: Xita Rubert hat ein Potpourris wilder Ereignisse zusammengestellt und sinnvoll aneinandergereiht. Die Geschichte wird aus Sicht der Ich-erzählenden Protagonistin Virginia dargestellt. Der Klang ist zeitlos und klassisch. Das Künstlerpaar scheint ihr Leben durch einige frivole Dekadenzen bereichern zu wollen, um der alltäglichen Langeweile zu entgehen. Die Besonderheit ihrer Stellung in der Gesellschaft scheint ihnen das Recht dazu zu geben. Virginias Vater versucht seiner Alltagstristesse zu entgehen, indem er mehr Zeit mit seiner Tochter verbringt, als mit seiner Frau. Die junge Virginia ist in diesem Trio, die einzige, die mit größeren Charakterzügen gesegnet ist. Die Autorin hat das skurrile Bild einer Elite gezeichnet, die sich, weil zur Upper Class gehörend, mehr erlauben kann, als der Rest der Gesellschaft. Die Geschichte ist verrückt, liest sich spannend und bekommt meine Lesempfehlung.

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Veröffentlicht am 29.04.2024

Wie hält eine Freundschaft Depression und Krankheit stand

Weltalltage
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Weltalltage, das sind die Tage, an denen ihr Schwindel ihr das Gefühl gibt, Zeit und Raum zu verlassen, um sich einer Schwerelosigkeit hinzugeben, die sie als Betroffene bedrohlicher erlebt, als ihre Mitmenschen. ...

Weltalltage, das sind die Tage, an denen ihr Schwindel ihr das Gefühl gibt, Zeit und Raum zu verlassen, um sich einer Schwerelosigkeit hinzugeben, die sie als Betroffene bedrohlicher erlebt, als ihre Mitmenschen. Sie kennt Max seit einer gefühlten Ewigkeit. Beide im Osten Deutschlands aufgewachsen, beide Kinder alleinerziehender Mütter. Max‘ Mutter Ingenieurin, ihre Textilpflegerin. Max und sie waren sich einig, wenn sie auf Westkinder hinabsahen.

Ihr erfandet die Beleidigung Gummistiefelkinder für alle, die behüteter aufwuchsen als ihr und nie nasse Füße hatten. Eure Freundschaft fußt darauf, dass ihr keine Gummistiefelkinder wart und die Löcher in euren Turnschuhen zum symbolischen Beweis eurer Lebenserfahrung erhobt. S.25

Sie halfen sich gegenseitig, so gut sie konnten. Max schrieb bei ihrem Lexikonwissen ab und sie schaute sich von ihm die Selbstverständlichkeit seines Seins in dieser Welt, seinen Duktus ab, sobal ihre Redeangst sie lähmte, machte sich zunutze wie er in seinem Stuhl saß, frei von jeder Erwartung oder Bewertung. Lag sie mit heftigsten Unterleibschmerzen zuhause, kochte Max ihr etwas zu essen. Und als Ärzte ihr das geliebte Radfahren verboten, baute Max ihr einen Hänger und brachte sie überall hin.

Als Max Onkel, der vorletzte Mann seiner Familie, freiwillig aus dem Leben scheidet, entsteht ein Ruck in ihm, der ihn nachhaltig erschüttert. Nun glaubt er, dass ein Fluch über der Familie hängt, der alle Männer frühzeitig dahinrafft und nach dieser Logik, konsequenterweise bald auch ihn holen wird. Max trifft zunehmend Entscheidungen, die ihr nicht gefallen. Dann geht er in ein Krankenhaus und verbietet ihr jede Kontaktaufnahme zu ihm, was sie alles infrage stellen lässt. Ihre Freundschaft. Ihre Krankheit. Ihr Selbstbild.

Fazit: Ich mochte die Sprache von Paula Fürstenberg. Sie hat viele kluge und auch kreativ ausgearbeitete Sätze in dieses Buch gebracht. Der thematische Schwerpunkt liegt auf Freunschaft, Krankheit, Depression, Suizid und was diese Lebensereignisse mit einem selbst und mit anderen machen. Wie finden wir unseren Wert in einer Gesellschaft, die voller Erwartungen an uns ist, die wir nicht erfüllen können? Stellenweise wird ein wenig feministisches Gedankengut eingestreut, was ich nie verkehrt finde. Grundsätzlich hat die Autorin wichtige und interessante Fragen aufgeworfen, von denen ich mich gerne habe inspirieren lassen. Die Perspektive fand ich gewöhnungsbedürftig, weil die Autorin ihre Aufarbeitung mit sich selbst führt und im Du erzählt, also quasi eine Du-Erzählung. Was mir weniger gut gefallen hat, ist die Bezeichnung des Verlages, das Buch als Roman zu deklarieren. Deswegen hatte ich einen Roman erwartet aber es gibt keine durchgehende Geschichte. Allerdings fällt es mir auch schwer, den Text einzuordnen. Vielleicht trifft Essay das Geschrieben eher. Und so hat meine Herangehensweise an das Buch mein Leseglück ein wenig getrübt.

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Veröffentlicht am 26.04.2024

Eine sehr gelungene Satire

Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht
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Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. ...

Im Hof vom Gratschbacher Hof, dem Gasthaus ihrer Eltern, der Heimat der elfjährigen steht also nun der LKW, der all ihr Hab und Gut in seinem großen Inneren aufnehmen und sie von hier fort bringen wird. Fort von der schönen Luca, die ihr den Rücken zugedreht hat und in ihrer eigenen Landessprache langsam rückwärts zählt. Die Beine der Mutter schreiten großschrittig an ihrem Versteck vorbei, um hier und da einzugreifen, zu korrigieren, sich aber auch auf die Stufen zu setzen und zu stöhnen.

Sie erinnert ein Klassenfoto von neunzehnhundertneunundachtzig, da war der Franzi noch dabei. Zuerst hatte sie ihm eine gepatscht, weil er was blödes zu ihr gesagt hatte. Dann war ihr schlechtes Gewissen so groß, dass sie ihn zum Waldhaus eingeladen hatte. Dort hatte er sich bereit erklärt, sich Kopfüber in den Brunnen zu wagen, während die anderen Kinder ihn abseilten. Dann kam das Seil ohne den Franzi wieder nach oben und sie mussten die Feuerwehr rufen.

Sie hört Luca immer noch zählen und sieht jetzt außerdem, aus ihrer Position, die krampfadrigen Beine der Stubenhofoma das Gatter passieren. Man sieht ihr die schlechte Laune gleich am Gangbild an und da schimpft sie auch schon auf die Mutter und ihre Geldgier, weil sie den Hof verkauft hat.

Die Stubenhofoma, heute zu alt um die Tochter zu watschen, ist mit ihrem fahlen Gesichtsausdruck, die Wurzel der Aversion ihrer Enkelin. S. 36

Im Religionsunterricht hatte sie erfahren, dass das Rotkehlchen ja deswegen die rote Brust habe, weil es bei dem Herrn Jesus am Kreuze verweilt hatte und ein Blutstropfen, der sich, wegen der Dornenkrone von dessen Stirn gelöst hatte, das Rotkehlchen traf.

Fazit: Diese Scharade auf ein Dorf in Österreich hat mir so gut gefallen. Julia Jost macht sich Luft, lässt alles raus. Sie erzählt über die menschlichen Abgründe, die sich in einem Dorf nicht so gut verheimlichen lassen, wie in der Anonymität einer Stadt. Pädophilie in der katholischen Kirche, Homophobie der Dorfbewohner, Bigotterie und Faschismus. Und in all diesen Untiefen, findet ein junges Mädchen, das viel lieber ein Junge wäre, ihren Sinn des Lebens. Die Geschichte ist so lustig und bissig erzählt, dass ich sie als Satiere verstehe. Ein wirklich gut gelungenes Debüt.

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Veröffentlicht am 24.04.2024

Große Erzählkunst

Prima facie
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Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind ...

Tony durchschaut das Gesetz der Straße, hier im Gerichtssaal jedoch, erkennt er keinerlei Zeichen. Er hat Angst. Seine Furcht lässt diesen großen, gewalttätigen Jungen zu ihr aufschauen, seine Sinne sind geschärft. Seine Tatoos hat er, wie empfohlen unter einer Schicht Polyester von Primark verborgen. Er ist gerade fünfundzwanzig Jahre geworden.

Tess steht da, Rücken gerade, guter Stand, kalkuliert und berechnend. Der Richter beobachtet wie sie heranpirscht. Mögen die Spiele beginnen. Tess wiegt den einzigen Zeugen, der glaubt gesehen zu haben, dass Tony zuerst zugeschlagen hat, in Sicherheit, wickelt ihn ein, stellt sich ein wenig ungeschickt an. Er fühlt sich überlegen, wird Wachs in ihren Händen, formbar, unvorsichtig. Und schon verwickelt er sich in Widersprüche.

Tess ist Anwältin, hat sich auf Strafrecht spezialisiert. Sie ist zugleich gefürchtet und geachtet, erlaubt sich einfach keine Fehler. Der Weg hierher war hart. Mit einem Stipendium ehrte man ihre vorherigen Leistungen. Die meisten hielten das für Glück. Sie lässt sich ihre Herkunft nicht anmerken. Den prügelnden Vater, der verschwand, bevor Tess alt genug war, um die Hand auch gegen sie zu erheben. Ihr Bruder Johnny wurde mit siebzehn verurteilt, hatte nicht das Glück, würdig vertreten zu werden. Ihre Ma putzt seit Tess denken kann. Sie hat sie selten ohne Uniform und Namensschild gesehen. Johnny und Ma haben sie nach Cambridge gebracht, damit sie sich einrichten konnte. Da saßen sie zu dritt auf ihrem Bett und schauten zu Boden. Es war eine tiefe Liebe zwischen ihnen, das konnte Tess spüren, nur zeigen konnte sie keiner.

Wärend der ersten Vorlesung sitzt sie zwischen Mia und einem verwegen gutaussehenden Typen. Die Professorin erklärt ihnen, dass jeder dritte im Saal, das Jurastudium vorzeitig abbrechen wird, jeder dritte. Das wird nicht Tess sein, nicht in dieser Sache, aber in einer anderen. Tess wird die eine von jeder dritten sein.

Fazit: Was für ein Debüt. Suzie Miller entführt mich in die Welt der augenscheinlichen Gerechtigkeit. Die Protagonistin ihrer Ich-Erzählung, ist so brilliant, wie perfektionistisch, glaubt alles in ihrem Leben unterliege ihrer Kontrolle und gewinnt daraus eine Sicherheit, die sie in ihrer Herkunftsfamilie nicht hatte. Ihr Ehrgeiz beflügelt sie zu enormen Erfolgen, die ihren Selbstwert heben. Es könnte nicht besser laufen, doch dann erlebt sie einen Kontrollverlust, der alles infrage stellt, ihr Leben, sie selbst, ihre Arbeit, ihr Glaube an Gerechtigkeit. Ich habe ihr die Geschichte in vollem Umfang abgekauft, genau das passiert jeder dritten Frau. Suzie Miller hat intensive Gefühle in mir ausgelöst, mich miterleben lassen, wie sich das Schreckliche anfühlt und was es mit eine*m macht, das ist große Schreibkunst. Eine riesige Leseempfehlung für diesen feministischen Roman.

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