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Veröffentlicht am 01.08.2024

Eine Geschichte über zwei feine Charaktere

Leonard und Paul
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Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. ...

Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. Die Mutter, durch ihre Arbeit als Grundschullehrerin geprägt, las Leonard schon früh aus diversen Enzyklopädien vor und so wundert es kaum, dass Leonard später als Ghostwriter für Kinderlexika arbeitet. Als Leonards Mutter friedlich einschläft, ist es ein Schock für ihn. Tagelang schleicht er lethargisch durch das stille Haus. Nach einiger Zeit jedoch entsinnt er sich seines besten und einzigen Freundes Paul und besucht ihn zu einem ihrer Spieleabende.

Paul ist über dreißig und macht seit neustem Kampfsport. Eigentlich passt das gar nicht zu ihm, der die meisten Tage damit verbringt, darauf zu warten, dass das Hauptpostamt ihn als Vertretung für einen krank gewordenen Kollegen einzusetzen wünscht, was zwei – maximal dreimal pro Monat vorkommt. Paul hält die Welt für etwas Fantastisches und leiht sich Ausgaben des National Geografic aus der Bücherei, während Leonard, ganz Autodidakt, ein Abonnement des New Scientist besitzt.

In ihren Unterhaltungen vermischte sich das Yin von Leonards Leidenschaft für Faktenwissen mit dem Yang von Pauls Neugier. S. 26

Im Grunde könnten die Leben von Leonard und Paul in dieser ruhigen Weise, mit gelegentlichen Gesellschaftsspielen und inspirierenden Gesprächen weitergehen. Wenn nicht Pauls Schwester Grace mit ihrer Hochzeit neuen Schwung in den Alltag zaubern und in Leonard Veränderungswünsche wecken würde.

Fazit: Rónán Hession erzählt in seinem Debüt von zwei Männern, die in liebevollen Verhältnissen behütet aufgewachsen sind. Beide lieben die immer gleiche Struktur ihres Alltags. Paul findet im Gleichbleibenden die Sicherheit, die ihm den Gleichmut bewahrt. Leonard fehlt das Selbstbewusstsein, das ihm das Ausscheren aus dem Trott erleichtern würde. Zwei Sonderlinge, die im sozialen Miteinander ihren Seelenfrieden erhalten, sich aber in der Welt da Draußen voller Konventionen, Erwartungen und Missverständnisse verloren fühlen. Am Ende jedoch findet Leonard seinen Reiz in der Außenwelt und probiert sich aus und Paul lässt eine reife Tiefsinnigkeit erkennen, die ihm niemand zugetraut hätte. Eine wirklich charmante, humorvolle Geschichte über zwei feine Charaktere, die alles andere verkörpern, als die ständige Selbstoptimierung. Ein entspannender Roman.

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Veröffentlicht am 29.07.2024

Die ganze familiäre Tragik einer Essstörung

Mein einziges Zuhause
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Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen ...

Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen und hadert mit der Sicht der anderen.

Wenn jemand sich hier einen wärmeren Blick auf seine Person erhofft hätte, wäre es hilfreich gewesen, sich schon früher darüber Gedanken zu machen. S. 14

Hanna hatte erst kürzlich durch ihren Vater erfahren, dass ihre Mutter sie nicht mag und auch ihre Schwester, zu deren Lebzeiten nicht gemocht hatte. Hanna erinnere die Mutter an deren Schwiegermutter, die viel gelacht habe. Sie erinnere sie an Sexualität, an Leidenschaft, die der Mutter suspekt ist.

Hannas Mutter ist das Urbild von Zurückhaltung und Sittsamkeit. Sie hatte schon sehr früh damit begonnen, Scham und Schande in Hannas Wesen zu pflanzen.

Hannas Vater ist anders, bodenständig. Er folgt seinem Herzen und ist präsent, interessiert. Grenzen kann er keine setzen, das überlässt er der Mutter. Konflikte hält er nicht aus, redet nicht gerne über Gefühle.

Hanna hat mit ihrer Schwester um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert und am Ende hat die Schwester gewonnen. Das erste Anzeichen ihrer Krankheit war Freudlosigkeit, dann stand sie ständig vor dem Spiegel. Sie füllte ihre Kalorientabelle, buk ihr eigenes Knäckebrot und trieb viel Sport.

Unsere Küche war zum stillen Schauplatz des Kalten Krieges geworden, der nur dann aufflackerte, wenn meine Schwester einen Wutanfall bekam. S. 62

Die Magersucht verlieh ihrer Schwester Macht. Sie konnte alle Familienmitglieder in die Krankheit hineinziehen und niederstrecken.

Fazit: Hanna Brotherus macht sich auf den Weg, das Wurzelgeflecht, das das Leben in sie gepflanzt hat aus sich rauszuschreiben, um sich zurückzugewinnen. Sie seziert schonungslos ihre Familie und die Magersucht der Schwester. Fragt, wie ihnen das passieren konnte. Deckt die ganze Tragik der Anorexia nervosa auf, die Sucht, die Kontrolle und den Selbsthass. Wie sich das Grauen später durch ihre eigene Familie zieht, blickt zutiefst betroffen auf die Verwüstung, die sie mitzuverantworten hat. Damit nimmt sie ihrer Herkunftsfamilie und vor allem der Mutter, das Schreckliche. Am Ende findet sie nicht nur sich, sondern auch ihre Mutter, kann erkennen, wie sie zu dem lieblosen Menschen geworden ist. Versteht, dass die Mutter ihr nichts geben kann, was sie selbst nie erfahren hat. Und am Ende ist es eine Geschichte des Verzeihens und der Selbstliebe. Ich habe selten eine so ehrliche und intime Selbstoffenbarung gelesen. Dieses Buch tut gut.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Eine Geschichte des Verzeihens

Lass gehen, wen du liebst
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Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa ...

Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa Balavoine geht in die Retrospektive:

In der Nacht sind wir uns am nächsten. In der Nacht liebe ich dich am meisten. S. 22

Außer, wenn ein Mann kommt, dann schickst du mich aus deinem Bett in mein Zimmer und ich schmolle, bin wütend, ertrage es nicht, dass du ihm meinen Platz überlässt. Es sind schlaflose Nächte.

Morgens muss alles schnell gehen. Während Maman sich schminkt, sucht Lisa in der Küche nach essbarem, meistens findet sie eine Kleinigkeit. Maman raucht noch eine Zigarette, trinkt einen großen Café au Lait und schon geht Lisa in die Schule. Manchmal merkt sie erst dort, dass sie noch die Schlafanzughose trägt.

Am Abend tanzt Maman, dreht rauchend und trinkend Pirouetten durch die Wohnung und manchmal sitzt sie da und starrt ins Leere. Lisa legt ihren Kopf auf Mamans Beine und höre sie weinen. Wenn sie merkt, dass Maman der Boden unter den Füßen wegrutscht, sie das Gleichgewicht verliert, möchte sie alles dafür tun, dass Maman glücklich ist.

Einmal war Maman abends mit Lisa bei einem Kollegen aus der Klinik. Lisa kennt ihn nicht. Sie schläft auf dem Sofa ein und als sie am Morgen erwacht ist Maman fort.

Fazit: Lisa Balavoine erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie berichtet von steten Umbrüchen, Abstürzen und Unberechenbarkeit. Von der Liebe, die sie für ihre Mutter empfand, davon, wie sehr sie sie vergöttert hat. Sie bewertet nicht, das überlässt sie mir, schildert einfach nur, wie sie ihr damaliges Leben erlebt hat. Die Alkoholkrankheit führte die Mutter in die Depression. Wie viele Kinder, die in solchen Situationen leben, kompensiert Lisa ihre Co-Abhängigkeit mit angepasstem Verhalten und in ihrem Fall sogar mit guten Schulnoten. Daher fällt niemandem auf, wie es ihr wirklich geht. Die Geschichte schmerzt, die Art der Autorin zu schreiben, die Genauigkeit der Wortwahl macht dieses Buch zu einem, das man nicht mehr aus der Hand legen will. Sie erzählt aus der Ich-Sicht, als würde sie mit ihrer Mutter sprechen, das lässt eine intensive Nähe entstehen. Ich habe den Blick in diese schwierige Mutter-Tochter Beziehung besonders gemocht.

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Veröffentlicht am 26.07.2024

Eine mitreißende, leichte Urlaubslektüre

Paraiso
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Manon und Thomas sind auf dem Weg nach Südspanien. Nach einigen Paartherapeuten, die ihnen nicht helfen konnten, sehen sie diesen Versuch als ihre letzte Chance. Thomas‘ Eltern passen auf die Kinder auf. ...

Manon und Thomas sind auf dem Weg nach Südspanien. Nach einigen Paartherapeuten, die ihnen nicht helfen konnten, sehen sie diesen Versuch als ihre letzte Chance. Thomas‘ Eltern passen auf die Kinder auf. Im Hotel angekommen, treffen sie auf neun weitere Paare und Professor Blumberg, der sich in den nächsten Tagen ihrer Probleme annehmen wird. Während des Abendessens beobachten sie verstohlen die anderen Gäste.

Thomas größtes Problem ist Manons mangelnde körperliche Zuwendung. Seit ihrer Brustkrebserkrankung läuft gar nichts mehr. Manon fühlt sich bedrängt, sobald sie ihm Zuneigung zeigt wird Thomas zielstrebig. Manon ist mittlerweile eine anerkannte Künstlerin, die Fotoinstallationen erstellt. Auf dem Weg dorthin hat Thomas sie unterstützt, sich fast ausschließlich um die Kinder gekümmert und mit seiner Dozententätigkeit und seinem festen Job als Industriefotograf ihr Leben abgesichert. Jetzt verdient Manon deutlich mehr als er.

Thomas ist der kalkulierte Typ. In seiner Jugend war er Leistungsschwimmer. Er ist diesem Sport bis heute treu geblieben, wenn er die Zeit dazu findet. Den Kindern bringt er klare Regeln bei, wie auch sein Vater ihm damals. Er kontrolliert Hausaufgaben und dass die Computerzeiten eingehalten werden. Pünktlichkeit ist ihm wichtig und Verlässlichkeit. Manon dagegen ist ihm nicht konsequent genug. Ihr laissez-fairer Erziehungsstil hat ihn schon oft wütend gemacht. Manon fühlt sich von Thomas kontrolliert und bevormundet, so als wäre sie ein kleines Mädchen, das lebensunfähig ist.

Fazit: Florian Scheibe hat ein Ehepaar geschaffen, dass, wie so viele, an ihrer Verschiedenheit zu scheitern droht. Sie verletzen einander, tanzen umeinander herum und üben sich in Vermeidungsstrategien, um nicht über ihre Gefühle reden zu müssen. Die Protagonistin ist passiv und drückt ihren Mann in die Rolle sich zu kümmern, die Dinge in die Hand zu nehmen. Ihm hat diese Position einmal gut gepasst, weil er gerne den Ton angibt, doch jetzt fühlt er sich alleingelassen. Ich mag diese komplizierten Beziehungsmuster, in denen zu wenig über Gefühle gesprochen und zu viel in den anderen hineininterpretiert wird, die der Autor großartig zeigt. Die Geschichte ist spannend, weil um das Paar herum Merkwürdigkeiten und Fragen entstehen. Ich hätte die Klimakrise nicht gebraucht, das war mir etwas zu viel, auch die Verheißungen im Klappentext fand ich drüber, das gibt der Roman nicht her. Und das Ende hat mich ratlos zurückgelassen. Es blieben zu viele Fragen offen. Für alle jedoch, die eine mitreißende, leichte Urlaubslektüre suchen, ist dieser Roman genau das richtige.

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Veröffentlicht am 23.07.2024

Ganz große Schreibkunst

Aufs Land
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Die Erwachsenen haben Holz und Grünschnitt auf einen Haufen geworfen. Es ist Halloween in Frith, auf dem Stück Land, auf dem sie nahezu autark leben. Die siebenjährigen Amy und Lan halten die Spannung, ...

Die Erwachsenen haben Holz und Grünschnitt auf einen Haufen geworfen. Es ist Halloween in Frith, auf dem Stück Land, auf dem sie nahezu autark leben. Die siebenjährigen Amy und Lan halten die Spannung, bis der Stapel endlich brennt, kaum aus. Sie sind die ältesten Kinder der drei Familien und dann ist da noch Finbar, der jedes Instrument spielen kann und die stille Em, die sich gerade von ihrem Mann getrennt hat, ja, und die ganzen Tiere.

Amy und Lan rennen nach draußen, hintereinander her. Der nasse Boden vermischt mit Tierdung unter ihren Stiefeln, macht diese Schlatsch-Geräusche. Amy klettert auf den Schober und greift die Axt, die schwerer ist, als sie dachte, wirft sie runter und trifft Lans Schuh. Sein Gesicht wird weiß, dann schreit er. Das Beil ist sauber in den Schuh gefahren, gleich hinter der Schnittkante strahlen seine kleinen weißen Zehen, unversehrt. Amy hat sie nicht getroffen, sie springt vom Schober, greift herzhaft den Stiel und zieht die Klinge aus Lans Schuh.

Als Harriet mit Lan schwanger war, sah sie eine Anzeige in der Lokalpresse: Traditioneller Nutztierhof, Bauernhaus mit fünf Zimmern. Sie brauchte ihren Adam nicht lange zu überreden. Seine Zeit als Schauspieler hatte er hinter sich. Auch ihre beste Freundin Gail und ihr Mann Jim waren sofort begeistert. Jim hatte seinen Architektenjob an den Nagel gehängt und eine Tischlerlehre hinterhergeschoben. Und dann kamen noch Rani und Martin mit hinzu. Sie bauten das Haus und die Ställe aus, bis jede Familie ein Zuhause hatte. Erst dann fingen die Geldsorgen an und die Nickeligkeiten zwischen Amys und Lans Eltern.

Fazit: Wow! Habe ich das gerne gelesen. Sadie Jones hat eine Geschichte über Kindheit und Freundschaft geschrieben, wie ich sie noch nie gelesen habe. Sie widmet jedes Kapitel im Wechsel der Sicht ihrer Protagonist*innen Amy und Lan. Sie zeigt auf ganz und gar sinnliche Art, wie die beiden ihren Alltag erleben, welchen Unsinn sie machen und wie gerecht die Erwachsenen darauf reagieren. Alle Kinder unterschiedlichen Alters leben in diesem Verbund. Die Autorin hat eine so schöne, Welt geschaffen, dass ich voller warmer Gefühle bin. Die Erwachsenen dagegen haben ihre ganz eigenen Befindlichkeiten und Heimlichkeiten, die das ganze schöne Konstrukt zu Fall zu bringen drohen. Das Ende der Geschichte hat mich umgehauen und nachhaltig beschäftigt. Dieses Lenken meiner Gefühle, das ist ganz große Schreibkunst.

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