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Veröffentlicht am 06.08.2024

So ein gefühlvolles und kluges Debüt

Ava liebt noch
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Ava lebt mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus am Rande einer Neubausiedlung. Als sie hergezogen sind, zählten ihre Bedürfnisse noch, aber im Laufe ihrer Familienplanung, ist sie mit jedem Kind mehr ...

Ava lebt mit ihrer Familie in einem Einfamilienhaus am Rande einer Neubausiedlung. Als sie hergezogen sind, zählten ihre Bedürfnisse noch, aber im Laufe ihrer Familienplanung, ist sie mit jedem Kind mehr verschwunden, seit dem Dritten, ihrem Sohn Nico, ist sie unsichtbar geworden. Der Spagat zwischen Elternabenden, Hausarbeiten, Hausaufgaben, Wäsche, Einkauf und Kochen, kostet sie alle Kraft. Wenn ihr Mann am Abend aus der Kanzlei kommt, sind Avas Augen vor Erschöpfung zugefallen. Sie hat es aufgegeben, das leidige Thema anzusprechen. Sie dürfe sich nicht beschweren, es ginge ihnen doch besser denn je. Wenn er sie berühren will, weist sie ihn zurück, ist es satt, sich verpflichtet zu fühlen, auch im Schlafzimmer noch zu performen.

Unsere Ehe ist wie eine Zimmerpflanze, über deren Pflege wir nichts wissen, weil ihr immer ein bisschen Wasser gereicht hat, um zu überleben. Und jetzt lässt sie Blätter hängen und wir stehen staunend davor, sehen zu, wie sich die Blätter gelb verfärben und einrollen, und fragen uns, was sich verändert hat. S. 42

Ava hetzt durch den Supermarkt, bis sie ihn neben den Windeln sieht. Er räumt die Babybreigläschen in die Regale. Unter seinem T-Shirt zeichnen sich die definierten Schultermuskeln ab. Vor ihr kniet der leibhaftige Adonis. Sie greift nach den Windeln, will schnell weg, aber er spricht sie an, rät ihr zu einer anderen Packung. Jetzt weiß er, der ihr Sohn sein könnte, dass sie Mutter ist, dass ihre beste Zeit hinter ihr liegt. Scham rötet ihr Gesicht.

Avas zweitälteste Tochter Mia hat genug vom Tennis. Ihre Mutter überredet sie zu einem Schwimmkurs. Sie begleitet die umgezogene Mia in das Hallenbad. Der Schwimmlehrer, der sie begrüßt, ist kein Geringerer als ihr Adonis, der sich Kieran nennt. Seine azurblauen Augen glänzen und wecken etwas in Ava, das sie längst vergessen hat. Verlangen.

Fazit: Das ist die beste Liebesgeschichte, die ich je gelesen habe. Vera Zischke hat alles richtig gemacht. Sie spielt mit dem Tabu, ältere Frau findet jungen Mann und macht es glaubhaft. Sie zeigt ihre leere Protagonistin, ausgesaugt vom Muttersein, wie viel die Kinder ihr abverlangen, wie selbstverständlich und entmenschlicht ihr Dasein ist. Ihren Mann, der so beschäftigt damit ist, erfolgreich zu sein und allein darin das Allheilmittel sieht, dass es allen gut geht. „Es geht uns doch gut Ava“! Dann spürt Ava sich wieder, ist wieder ein Mensch, geschätzt und als wertvoll erachtet. Es ist eben genau das, was die Gesellschaft gemeinhin von Frauen erwartet, in der Rolle des Fußabtreters und Putzlumpen aufzugehen, klaglos die besten Jahre ihres Lebens zu verschenken und darin Glückseligkeit zu finden. Das alles macht die Autorin sichtbar und sie berührt. Ich bin von Anfang an in die Geschichte geglitten und habe, wie die Protagonistin schwimmen gelernt. Vera Zischke war meine emotionale Schwimmlehrerin und das hat so gutgetan. Was für ein gefühlvolles, kluges Debüt, dem ich etliche Leserinnen und vor allem Leser wünsche.

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Veröffentlicht am 02.08.2024

Wie ein Sommerurlaub in Italien

Das kleine Haus am Sonnenhang
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Der namenlose Journalist hatte seinen Job in der Schweiz gekündigt und ein extrem günstiges kleines Steinhaus in Piemont gekauft. Hierhin zog er sich zurück, um sein erstes Buch zu schreiben. Das Häuschen ...

Der namenlose Journalist hatte seinen Job in der Schweiz gekündigt und ein extrem günstiges kleines Steinhaus in Piemont gekauft. Hierhin zog er sich zurück, um sein erstes Buch zu schreiben. Das Häuschen stand am Fuß eines Hangs, das nächste Dorf war in Sichtweite, aber doch einen Kilometer entfernt, die Menschen mehr erahnbar als sichtbar. Seine Freundin studierte, verbrachte jedoch die Semesterferien bei ihm in der Stille. Auch Freunde kamen zu Besuch, schlugen ihre Zelte auf der hinteren Wiese auf oder schliefen im Schlafsack im Ziegenstall. An den Abenden rauchten sie, tranken und sangen. Sobald sich das neue Semester ankündigte, verschwanden alle und er blieb allein.

Wenn ihm nichts einfiel, was er schreiben konnte, werkelte er am Haus oder am Stall. Er sorgte sich nicht um seine Ideen, die Furcht vor dem weißen Blatt kannte er nicht. Einmal die Woche musste er unter die Leute. Er ging über die Felder, überquerte den Fluss, der im Sommer wenig Wasser trug, bog nicht links ins Dorf ab, sondern nahm den rechten Weg, ins drei Kilometer entfernte Städtchen. Auf der Piazza Garibaldi kehrte er in die Bar Da Pierluigi ein und traf Giuseppe, Mauro, Sergio und Roberto zum Rauchen, Weintrinken und für kleine Unterhaltungen.

Ich suche nie nach literarischem Stoff; nicht in der Kneipe und auch sonst nirgendwo. Ich bin froh, wenn der Stoff mich in Ruhe lässt. S. 38

Beim Schreiben ist ihm Plausibilität wichtig. Er selbst hat ja im Laufe seines Lebens fünf Söhne großgezogen, aber die Realität taugt nicht für einen Roman. Der Leser würde bei einer Geschichte mit fünf Söhnen die Stirn runzeln und diese Stirnrunzler verderben alles, sie stecken andere an.

Fazit: Alex Capus hat eine Idylle entstehen lassen. Seine Geschichte liest sich, wie ein Sommerurlaub in Italien. Er schreibt über das, was er wahrnimmt, beschenkt meine Sinne mit Landschaftsbeschreibungen, Klängen und Gerüchen, kommt vom Hölzchen aufs Stöckchen. Es scheint, als teilte er ein Stück seines Lebensweges mit mir. Und er erzählt übers Schreiben, zeigt mir, wie er seine Figuren formt, worauf es ihm ankommt und wie er eigene Erfahrungen aus Erlebnissen einfließen lässt.

Und genauso, wie ich als Autor nur schreiben kann, was ich in mir vorfinde, vermag sich auch den Leserinnen und Lesern nur zu erschließen, was in ihrer Seele schon geschrieben steht. S. 91

Eine Erkenntnis, die ich teile. Eine wirklich ganz und gar charmante Erzählung wie eine Gutenachtgeschichte. Schön.

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Veröffentlicht am 01.08.2024

Eine Geschichte über zwei feine Charaktere

Leonard und Paul
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Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. ...

Leonard wurde von seiner alleinerziehenden Mutter voller Güte erzogen. Er hat viel Ähnlichkeit mit dieser schüchternen Frau, die sich lieber auf Leonard konzentrierte, als mit den Herden zu schwimmen. Die Mutter, durch ihre Arbeit als Grundschullehrerin geprägt, las Leonard schon früh aus diversen Enzyklopädien vor und so wundert es kaum, dass Leonard später als Ghostwriter für Kinderlexika arbeitet. Als Leonards Mutter friedlich einschläft, ist es ein Schock für ihn. Tagelang schleicht er lethargisch durch das stille Haus. Nach einiger Zeit jedoch entsinnt er sich seines besten und einzigen Freundes Paul und besucht ihn zu einem ihrer Spieleabende.

Paul ist über dreißig und macht seit neustem Kampfsport. Eigentlich passt das gar nicht zu ihm, der die meisten Tage damit verbringt, darauf zu warten, dass das Hauptpostamt ihn als Vertretung für einen krank gewordenen Kollegen einzusetzen wünscht, was zwei – maximal dreimal pro Monat vorkommt. Paul hält die Welt für etwas Fantastisches und leiht sich Ausgaben des National Geografic aus der Bücherei, während Leonard, ganz Autodidakt, ein Abonnement des New Scientist besitzt.

In ihren Unterhaltungen vermischte sich das Yin von Leonards Leidenschaft für Faktenwissen mit dem Yang von Pauls Neugier. S. 26

Im Grunde könnten die Leben von Leonard und Paul in dieser ruhigen Weise, mit gelegentlichen Gesellschaftsspielen und inspirierenden Gesprächen weitergehen. Wenn nicht Pauls Schwester Grace mit ihrer Hochzeit neuen Schwung in den Alltag zaubern und in Leonard Veränderungswünsche wecken würde.

Fazit: Rónán Hession erzählt in seinem Debüt von zwei Männern, die in liebevollen Verhältnissen behütet aufgewachsen sind. Beide lieben die immer gleiche Struktur ihres Alltags. Paul findet im Gleichbleibenden die Sicherheit, die ihm den Gleichmut bewahrt. Leonard fehlt das Selbstbewusstsein, das ihm das Ausscheren aus dem Trott erleichtern würde. Zwei Sonderlinge, die im sozialen Miteinander ihren Seelenfrieden erhalten, sich aber in der Welt da Draußen voller Konventionen, Erwartungen und Missverständnisse verloren fühlen. Am Ende jedoch findet Leonard seinen Reiz in der Außenwelt und probiert sich aus und Paul lässt eine reife Tiefsinnigkeit erkennen, die ihm niemand zugetraut hätte. Eine wirklich charmante, humorvolle Geschichte über zwei feine Charaktere, die alles andere verkörpern, als die ständige Selbstoptimierung. Ein entspannender Roman.

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Veröffentlicht am 29.07.2024

Die ganze familiäre Tragik einer Essstörung

Mein einziges Zuhause
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Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen ...

Hanna geht für einige Tage von Helsinki nach Paris. Dort hofft sie bei sich anzukommen. Sie möchte über ihre Erinnerungen schreiben, sich den nötigen Raum geben, um ihrer Wahrheit auf den Grund zu gehen und hadert mit der Sicht der anderen.

Wenn jemand sich hier einen wärmeren Blick auf seine Person erhofft hätte, wäre es hilfreich gewesen, sich schon früher darüber Gedanken zu machen. S. 14

Hanna hatte erst kürzlich durch ihren Vater erfahren, dass ihre Mutter sie nicht mag und auch ihre Schwester, zu deren Lebzeiten nicht gemocht hatte. Hanna erinnere die Mutter an deren Schwiegermutter, die viel gelacht habe. Sie erinnere sie an Sexualität, an Leidenschaft, die der Mutter suspekt ist.

Hannas Mutter ist das Urbild von Zurückhaltung und Sittsamkeit. Sie hatte schon sehr früh damit begonnen, Scham und Schande in Hannas Wesen zu pflanzen.

Hannas Vater ist anders, bodenständig. Er folgt seinem Herzen und ist präsent, interessiert. Grenzen kann er keine setzen, das überlässt er der Mutter. Konflikte hält er nicht aus, redet nicht gerne über Gefühle.

Hanna hat mit ihrer Schwester um die Aufmerksamkeit der Eltern konkurriert und am Ende hat die Schwester gewonnen. Das erste Anzeichen ihrer Krankheit war Freudlosigkeit, dann stand sie ständig vor dem Spiegel. Sie füllte ihre Kalorientabelle, buk ihr eigenes Knäckebrot und trieb viel Sport.

Unsere Küche war zum stillen Schauplatz des Kalten Krieges geworden, der nur dann aufflackerte, wenn meine Schwester einen Wutanfall bekam. S. 62

Die Magersucht verlieh ihrer Schwester Macht. Sie konnte alle Familienmitglieder in die Krankheit hineinziehen und niederstrecken.

Fazit: Hanna Brotherus macht sich auf den Weg, das Wurzelgeflecht, das das Leben in sie gepflanzt hat aus sich rauszuschreiben, um sich zurückzugewinnen. Sie seziert schonungslos ihre Familie und die Magersucht der Schwester. Fragt, wie ihnen das passieren konnte. Deckt die ganze Tragik der Anorexia nervosa auf, die Sucht, die Kontrolle und den Selbsthass. Wie sich das Grauen später durch ihre eigene Familie zieht, blickt zutiefst betroffen auf die Verwüstung, die sie mitzuverantworten hat. Damit nimmt sie ihrer Herkunftsfamilie und vor allem der Mutter, das Schreckliche. Am Ende findet sie nicht nur sich, sondern auch ihre Mutter, kann erkennen, wie sie zu dem lieblosen Menschen geworden ist. Versteht, dass die Mutter ihr nichts geben kann, was sie selbst nie erfahren hat. Und am Ende ist es eine Geschichte des Verzeihens und der Selbstliebe. Ich habe selten eine so ehrliche und intime Selbstoffenbarung gelesen. Dieses Buch tut gut.

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Veröffentlicht am 27.07.2024

Eine Geschichte des Verzeihens

Lass gehen, wen du liebst
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Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa ...

Er schickt ihr aus der Wohnung ihrer Mutter eine Nachricht. Sie liege da und wirke friedlich. Die Wohnung sei verwahrlost. Er könne ihr nicht helfen. Er ist ihr Arzt, der auch ihre Mutter behandelte.

Lisa Balavoine geht in die Retrospektive:

In der Nacht sind wir uns am nächsten. In der Nacht liebe ich dich am meisten. S. 22

Außer, wenn ein Mann kommt, dann schickst du mich aus deinem Bett in mein Zimmer und ich schmolle, bin wütend, ertrage es nicht, dass du ihm meinen Platz überlässt. Es sind schlaflose Nächte.

Morgens muss alles schnell gehen. Während Maman sich schminkt, sucht Lisa in der Küche nach essbarem, meistens findet sie eine Kleinigkeit. Maman raucht noch eine Zigarette, trinkt einen großen Café au Lait und schon geht Lisa in die Schule. Manchmal merkt sie erst dort, dass sie noch die Schlafanzughose trägt.

Am Abend tanzt Maman, dreht rauchend und trinkend Pirouetten durch die Wohnung und manchmal sitzt sie da und starrt ins Leere. Lisa legt ihren Kopf auf Mamans Beine und höre sie weinen. Wenn sie merkt, dass Maman der Boden unter den Füßen wegrutscht, sie das Gleichgewicht verliert, möchte sie alles dafür tun, dass Maman glücklich ist.

Einmal war Maman abends mit Lisa bei einem Kollegen aus der Klinik. Lisa kennt ihn nicht. Sie schläft auf dem Sofa ein und als sie am Morgen erwacht ist Maman fort.

Fazit: Lisa Balavoine erzählt die Geschichte ihrer Mutter. Sie berichtet von steten Umbrüchen, Abstürzen und Unberechenbarkeit. Von der Liebe, die sie für ihre Mutter empfand, davon, wie sehr sie sie vergöttert hat. Sie bewertet nicht, das überlässt sie mir, schildert einfach nur, wie sie ihr damaliges Leben erlebt hat. Die Alkoholkrankheit führte die Mutter in die Depression. Wie viele Kinder, die in solchen Situationen leben, kompensiert Lisa ihre Co-Abhängigkeit mit angepasstem Verhalten und in ihrem Fall sogar mit guten Schulnoten. Daher fällt niemandem auf, wie es ihr wirklich geht. Die Geschichte schmerzt, die Art der Autorin zu schreiben, die Genauigkeit der Wortwahl macht dieses Buch zu einem, das man nicht mehr aus der Hand legen will. Sie erzählt aus der Ich-Sicht, als würde sie mit ihrer Mutter sprechen, das lässt eine intensive Nähe entstehen. Ich habe den Blick in diese schwierige Mutter-Tochter Beziehung besonders gemocht.

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