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Veröffentlicht am 22.02.2024

Wundervolle Erzählung

Mutternichts
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Mutter war acht Jahre, als sie eine Dirn wurde. Ihre Eltern schickten sie zu fremden Bauern, auf einen großen Hof einige Kilometer entfernt. Das war nichts Ungewöhnliches. Familien, die nicht alle ihrer ...

Mutter war acht Jahre, als sie eine Dirn wurde. Ihre Eltern schickten sie zu fremden Bauern, auf einen großen Hof einige Kilometer entfernt. Das war nichts Ungewöhnliches. Familien, die nicht alle ihrer Kinder ernähren konnten brachten die Überzahl woanders unter. Befremdlich war, dass die Eltern nach Mutters Weggabe weitere Kinder bekamen. Und warum traf es ausgerechnet Mutter? Die Protagonistin fährt in das Tal, zu dem Hof, der Mutter verschluckte, sucht nach den Spuren, die Mutter in Nichts auflösten, nach Worten, die Mutters Schweigsamkeit begründen.

Die Protagonistin möchte das Mutterrätsel über ihr Schreiben ergründen und hegt den Anspruch ihre Mutter so zu zeichnen, wie sie war und nicht, wie sie sie gern gehabt hätte. Sie versinkt in Erinnerungen und sieht Mutter, wie sie ihre Arbeit mit großer Sorgfalt und Dringlichkeit erledigte. Wie sie an Karfreitagen im Haus schuftete und danach mit großer Ernsthaftigkeit betete. Mit dem Vorrücken der Zeiger sank ihre Stimmung, bis sie zu der Stunde als der Heiland ans Kreuz geschlagen wurde, langsam aus ihrer Erstarrung erwachte.

Ich hörte Mutter lautlos beten. Am Morgen am Tisch. In der Stube, wo die Uhr laut tickte und in die Stille schlug. S. 133

Die Bäuerin auf dem Hof soll eine bösartige Frau gewesen sein. So oft es ging lief Mutter bei Wind und Wetter zu ihrer Familie. Sang laut gegen ihre zahlreichen Ängste an und schrie Gedichtzeilen in die Luft. Doch Zuhause lud niemand sie ein zu bleiben. Sie gehörte nirgendwohin, war überflüssig und wertlos.

Fazit: Ich liebe diese Geschichte! Selten habe ich so eine Sicherheit im Umgang mit Worten erlebt. Die Autorin schreibt sich mit wortgewandter Poesie durch diese Geschichte, die von Anfang bis Ende überzeugt. Die Sprachbilder sind sinnlich und wecken Bilder und Gefühle. Die Autorin schreibt über schlimme Dinge ohne jeden Pathos, sondern mit einer Ruhe, die mich eines Spaziergangs gleich, durch die Zeilen führt. In ihrer Sprachmelodie glaube ich einen Österreichischen Dialekt zu hören. Die Reise von der Tochter zur Mutter deckt die Vergangenheit bis zu ihren Urgroßeltern auf. Es ist eine der schönsten Vergangenheitsbewältigungen, die ich je gelesen habe. Jeder Satz ein Genuss.

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Veröffentlicht am 21.02.2024

Die geerbte Sprachlosigkeit

ruh
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Cemal trifft Georg jetzt regelmäßiger. Für Cemal ist es ein überraschendes und stilles Begehren. Georg ist tiefenentspannt und selbstbewusst, Cemal nachdenklich und unsicher. Ihre Geschichten könnten unterschiedlicher ...

Cemal trifft Georg jetzt regelmäßiger. Für Cemal ist es ein überraschendes und stilles Begehren. Georg ist tiefenentspannt und selbstbewusst, Cemal nachdenklich und unsicher. Ihre Geschichten könnten unterschiedlicher nicht sein. Georg hat ein gutes Verhältnis zu seinem Stiefvater und nächert sich seinem Vater allmählich an. Cemal wuchs bei seinen Großeltern in der Türkei auf und kam mit acht nach Deutschland, zu Eltern, die ihm fremd waren. In Cemals Familie wurde nicht viel gesprochen. Es wurde ja so viel gearbeitet und man war müde wenn man nach Hause kam. Cemal fürchtete sich davor, diesem namenlosen Schweigen zu begegnen. Wechselten die Eltern mehr als zwei Sätze, dann um einen Streit auszufechten. Cemal konzentrierte sich auf sein größtes Hobby, die Musik.

Vor einigen Jahren hatte er seine Königin geheiratet, Gül, immer aufrecht. Sie hatte ihm die kleine Ekin geschenkt. Cemal hatte sich mehr Kinder gewünscht aber Gül entschied sich dagegen. Auch sonst waren sie sehr unterschiedlich, deshalb zog Cemal aus. Jetzt zelebriert er die Wochenenden an denen ihn seine Prinzessin besucht so intensiv, wie er kann. Neulich hatte Georg ihm Fragen zu seiner Familie gestellt und Cemal damit so in Bedrängnis gebracht, dass der sich nicht mehr bei ihm meldet. Ganz langsam wird Cemal klar, dass sein Schweigen ihm zunehmend Probleme bereitet.

Sein Sprechen scheint sich einfach aus seinem Epigenom herausgeschrieben zu haben. Wo doch bereits seine Eltern, Großeltern, Urgroßeltern und deren Eltern nicht zum Sprechen erzogen worden waren. S. 171

Und als der äußere Druck zunimmt erscheint ihm seine Urgroßmutter Süveyde im Schlaf, schaut in sein Bewusstsein und schickt ihm die Erinnerungsbilder, die er braucht, um zu verstehen.

Fazit: Die Geschichte dreht sich um Sprachlosigkeit und Trennung.

Wortlos gehen und in der Wortlosigkeit zu bleiben. S. 171

Um Rollenbilder und traditionelle Vorstellungen, die sich nicht erweichen lassen. Sehnaz Dost zeigt, wie Generationen miteinander verflochten sind und die Schwierigkeiten, trotz dieses Erbes, integer und selbstbestimmt zu werden. Ich mochte das Erzählen von Cemals Alltag und habe seinen Umgang mit seiner Tochter geliebt. Mit welcher Sensibilität er ihre Launen erkannt hat. Die Autorin benutzt einige schöne Sprachbilder, dennoch habe ich die orientalische Melodie, die ich aus anderen gelungenen Geschichten, speziell über das Türkischsein gelesen habe, vermisst.

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Veröffentlicht am 19.02.2024

Eine Geschichte über Vertreibung

Die lichten Sommer
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Liz arbeitet seit ihrem 14. Lebenjahr in der Batteriefabrik. Auf dem Weg dorthin schwätzt sie mit den anderen Mädchen und erfreut sich mit ihnen an ihrem Alltag. Den Rückweg meistert sie allein, läuft ...

Liz arbeitet seit ihrem 14. Lebenjahr in der Batteriefabrik. Auf dem Weg dorthin schwätzt sie mit den anderen Mädchen und erfreut sich mit ihnen an ihrem Alltag. Den Rückweg meistert sie allein, läuft ganz beschwingt und überlässt sich ihren umherflatternden Gedanken. Unten am Fluss entlang, erinnert sie ihre Herkunft.

Wie aus dem Nichts waren sie nach Kriegsende plötzlich hier aufgetaucht und hatten das Dorf in helle Aufregung versetzt, es plötzlich gesprächig und streitsüchtig gemacht. S. 11

Ihre Eltern waren aus Tschechien geflüchtet und hatten in den Barracken unten am Fluss gelebt. Jahre später schafften sie es, aus ihrer eigenen Hände Arbeit, ein kleines zweistöckiges Haus zu mieten. Die Eltern lebten oben und richteten unten eine Gaststätte ein, als Liz geboren wurde.

Ihr Vater Ladislaus trägt die alten Narben auf dem Rücken, das hatte sie mal beobachtet. Jeden Tag steht er hinter dem Thresen und ihre Mutter Nevenka steht in der Küche und bereitet den Mittagstisch. Dass sie feine böhmische Gerichte zu günstigen Preisen anboten, hatte sich bald rumgesprochen und auch, dass Ladislaus großzügig die Schnapsflasche rumgehen ließ. Mit der eigenen Gaststätte kam der Aufstieg, der Schnaps und die Bedürfnisse. Auf das Haus! Auf die Frau! Auf das Kind! Auf die Freude! Auf den Kummer! Prost!

Als Liz ein Ausbildungsangebot von ihrem Vorgesetzten bekommt, weigert sich der Vater, den Vertrag zu unterschreiben. Liz solle weiter in der Gaststätte aushelfen und auch ihre Mutter brauche sie noch.

Fazit: Es ist eine Geschichte über Vertreibung und Ankommen, über Schuld und Demütigung. Und es ist eine Geschichte darüber, wie sich Traumen über Generationen weiterverbreiten. Die Geheimnisse, die Liz Mutter Nevenka in sich verbirgt und die Erlebnisse von Nevenkas Mutter, färben auf Liz ab und bestimmen ihr Sein. Liz hat den schweren Weg zu gehen, zu kränkeln und in Melancholie zu fallen, oder ihrem Partner zu sagen, was sie stört, gleichzeitig ihr Gesicht zu wahren und ihre Herkunft zu verbergen. Ich mochte die Geschichte, in die ich allerdings erst ab Seite 100 so richtig reingerutscht bin. Die Autorin hat Kapitelweise aus der Gegenwart erzählt und ist dann immer wieder in die Rückschau gegangen. Wenn sie mich aus Vergangenheit wieder in die Gegenwart brachte, habe ich den Faden verloren, wusste nicht mehr mit welchem Cliffhanger sie geendet hatte. Die fremden Namen haben es auch nicht leichter gemacht. Alles in allem eine gut geschriebene Geschichte, in deren Technik ich mich leider verloren habe.

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Veröffentlicht am 15.02.2024

Was für ein ungewöhnliches Debüt

Magnolia
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Magnolias Mutter Cherry hängt an dem Zeug, seit Manolia denken kann. Es fing an, als ihr afroamerikanischer Vater bei der Arbeit einen Ziegel abbekam. Die weiße Cherry lernte den weißen Quarry kennen und ...

Magnolias Mutter Cherry hängt an dem Zeug, seit Manolia denken kann. Es fing an, als ihr afroamerikanischer Vater bei der Arbeit einen Ziegel abbekam. Die weiße Cherry lernte den weißen Quarry kennen und der wurde ihr zum Verhängnis. Mama Brown, die Mutter von Magnolias Vater, nahm das verwahrloste Mädchen auf. Cherry schlug nur auf, wenn sie dringend Geld brauchte.

Magnolia ist neunzehn, als sie ihren Highschoolabschluss macht und an einer Tanke anfängt. Kurz darauf stirbt Mama Brown. Bei ihrer Beerdigung macht Mama Browns Vermieter, Magnolia das Angebot, die Miete in ihren Naturalien zu vergüten. Er verschafft sich Zugang zu ihrem Haus und wartet ihre Entscheidung nicht ab. Danach duscht sie so heiß, wie sie es gerade aushält. Sie weiß, dass sie eine zündende Idee braucht und der Zufall schwämmt ihr Cotton ins Leben. Cotton ist ein sprachbegabter Künstler und Bestatter, der Magnolia einen außergewöhnlichen und gut bezahlten Job anbietet.

Immer wenn Magnolia wütend ist, wischt sie durch Tinder und verabredet sich mit einem Fremden für schnellen Sex. Am Ende sitzt sie meistens auf ihm, leider führen ihre Escapaden zu einer ungewollten Schwangerschaft und sie weiß, dass sie dieses Wesen in ihr loswerden muss.

Fazit: Was für ein ungewöhnliches Debüt. Eine junge Frau wird Opfer eines übergriffigen Vermieters. Es macht den Anschein, als dürfte ihr das nicht so viel ausmachen, weil sie doch sowieso wahllos rumvögelt. Alle in der Geschichte mitwirkenden haben größere Probleme. Der schwarze Vermieter, ganz mieser Charakter, der Arbeitgeber ist zwanghaft, seine Tante alkoholabhängig und Magnolias Mutter heroinsüchtig. Da fällt eine merkwürdige junge Frau gar nicht mal so sonderlich auf. Tatsächlich handelt die Geschichte von Unterdrückung, Macht und Missbrauch von Frauen, durch Männer. Ganz am Ende dieser locker, unterhaltsam geschriebenen Geschichte, kommt die entsetzliche Wahrheit, die Magnolias Stolpern erklärt und verständlich macht. Ich mag die Geschichte sehr. Die Autorin hat mich nach Tennessee entführt und mich von allem kosten lassen, Ungleichheit, Minderwertigkeit, Angst und Ausgeliefertsein, Rassismus, schwüle Hitze, Ghospel, Sex und ein bisschen Voodoo. Ein heißer Ritt durch die Südstaaten.

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Veröffentlicht am 13.02.2024

Eine Spurensuche

Krummes Holz
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Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine ...

Jirka ist neunzehn als er in sein Heimatdorf “Krummes Holz” zurückkehrt. Erwartungsgemäß ist niemand glücklich ihn zu sehen. Leander nicht, der ihn auf dem Weg zum väterlichen Hof aufsammelt, Magret, seine Schwester nicht und sein Vater Georg ganz sicher auch nicht, aber den wird er erstmal nicht zu sehen bekommen. Er steigt in den verbeulten Taunus und erinnert sich an Leanders Vater Vilém Dorodzala. Er war der beste einarmige Suffkopp, der jemals gelebt hat, bevor der Tod ihn aus Jirkas Leben gepflückt hat. Vilém war der einzige von den ganzen Wanderarbeitern auf dem Hof, der ihn aus dem Hundezwinger wieder rausließ, in den sein Vater ihn regelmäßig sperrte.

Im Grunde hätte Jirka schon eher kommen müssen, weil seine Schwester ihn darum gebeten hatte, vor einigen Wochen. Doch dann hatte der weltbeste Sozialarbeiter Jochen ihn bekifft erwischt und Hausarrest erteilt. Für Jirka war das kein Problem, für seine Schwester schon.

Im Taunus muss er seine heiße Stirn an die kühle Scheibe der Beifahrertür lehnen. Leanders starker Unterarm, mit dem roten Flaum verwirrt ihn, sein Geruch nach Erde und Zigarettenrauch lässt ihn die Augen schließen. Fünf Jahre haben sie sich nicht gesehen. Eine lange Zeit, die alles verändert, wenn man so jung ist wie Jirka.

Fazit: Zuerst einmal, die vielen Namen und Infos brachten mich zu Anfang ins Stolpern. Die Geschichte ist aber so interessant gemacht, dass ich dran bleiben musste. Mir gefällt die Technik des Rückblicks sehr. Die Autorin packt ganz langsam und bedächtig aus, was Jirka und seiner Schwester passiert ist. Die Charaktere sind sensibel gezeichnet. Leanders erotische Aura, die Jirka die Luft nimmt und zutiefst verunsichert, war spürbar, Jirkas Unsicherheit nachvollziehbar. Jirka begibt sich auf Spurensuche, um sich selbst zu verstehen. Er ist ein sensibler, trotziger, junger Mann. Wie traumatisiert er ist, wird ihm erst durch seinen Besuch auf dem Hof klar, wo sein Vertrauen mehrfach missbraucht wurde. Doch ja, ich mag dieses Debüt sehr und empfehle es ganz klar.

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