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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 08.04.2024

Fühlen, wahrnehmen, anerkennen, wertschätzen

Mit den Jahren
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Eva und Lukas führen mit ihren beiden Kindern ein klassisches Familienleben - zumindest von außen betrachtet. Als Lehrerin und Künstler unterscheidet sich ihr beruflicher Alltag jedoch erheblich. Und mit ...

Eva und Lukas führen mit ihren beiden Kindern ein klassisches Familienleben - zumindest von außen betrachtet. Als Lehrerin und Künstler unterscheidet sich ihr beruflicher Alltag jedoch erheblich. Und mit den Jahren finden Unterschiede und Kontraste auch einen Weg in das Privatleben der beiden.

Jette ist Single, einsam und steht auf Frauen - eigentlich. Denn als sie Lukas immer wieder in der gemeinsamen Stammkneipe über den Weg läuft, kommt sie ihm bald näher als erwartet.

Alle drei sind irgendwie unzufrieden mit der aktuellen Situation und begeben sich auf dünnes Eis, bis der Zufall oder das Schicksal (wer weiß das schon so genau) ihr Leben komplett durcheinander bringt.


Wie gelingt es, sich als Paar nach 20 Jahren Beziehung und zwei gemeinsamen Kindern noch so zu lieben und zu schätzen, wie am ersten Tag? Warum schauen sich Menschen immer nach etwas Besserem um? Woher kommt die Frage an sich selbst, wie ein alternatives Leben ausgesehen hätte? Will man das, wonach man sich sehnt, immer noch genauso sehr, wenn man es schließlich bekommt?

Ich habe diese Fragen geliebt, die Janna Steenfatt während des gesamten Romans immer wieder einfließen lässt. Eva, Lukas und Jette stoßen auf diese Fragen und müssen Antworten finden und irgendwie stellen wir uns doch alle im Laufe unseres Lebens hin und wieder ähnliche Fragen.

Von außen betrachtet war für mich alles ganz klar. Ist es dann im eigenen Leben nicht auch? Die Autorin schafft es mit einer angenehmen und lebensnahen Sprache, die tiefen inneren Zerwürfnisse der drei Figuren aufzuzeigen. Das Seelenleben lag so offen dar, dass wir es als Lesende förmlich greifen konnten - das Verlangen, die Hintergründe, die Träume und Ängste.

Die ganze Zeit hatte ich das Gefühl, dass die beiden eigentlich so wunderbar zusammen passen, gerade wegen der Kontraste. Und schließlich ist es Jette, die die besten Seiten von Eva und Lukas wieder zurück ans Licht holt, sodass sie einander endlich wieder sehen können. Sehen im Sinne von fühlen, wahrnehmen, anerkennen, wertschätzen.

Es passiert ansonsten nicht wahnsinnig viel auf den 352 Seiten, aber es war genau meins. So viele Emotionen, so viel Sehnsucht und Schmerz - so viel reflektieren, überdenken, resignieren und neu beginnen. Große Empfehlung für alle, die das Ergründen lieben!

Veröffentlicht am 24.03.2024

Kraftvoll und intensiv

Yellowface
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Athena und June, Freundinnen und Autorinnen. Beide sind jung, beide haben ihren Debütroman veröffentlicht - eine ist erfolgreich, die andere nicht. Als die eine bei einem tragischen Unfall stirbt, ist ...

Athena und June, Freundinnen und Autorinnen. Beide sind jung, beide haben ihren Debütroman veröffentlicht - eine ist erfolgreich, die andere nicht. Als die eine bei einem tragischen Unfall stirbt, ist die andere dabei. Und plötzlich ist sie da, die Gelegenheit. Die Chance, in die Haut der anderen zu schlüpfen, ebenso erfolgreich und beneidenswert zu werden. Aus der Gelegenheit wird die Wirklichkeit - doch um welchen Preis?

Es gleicht der Kraft eines Strudels, den Gedanken und Handlungen von June zu folgen. Ständig werde ich umher gewirbelt, wenn sich die Ereignisse überschlagen und trotzdem kann ich mich aus dem Sog der Worte nicht befreien. Und nie war ich ganz sicher, ob June die Wahrheit sagt oder ob sie die Realität zurecht biegt, um alles besser ertragen zu können, was nach Athena’s Tod geschieht.

Rebecca F. Kuang schreibt fesselnd und faszinierend von einer Geschichte, die eigentlich vollkommen absurd erscheint. Denn natürlich könnte man keinesfalls diejenige sein, die sich in Lügen verstrickt und plötzlich in einer Parallelwelt aufwacht. Könnte man wirklich nicht?

Es ist beängstigend, wie schnell aus einer unüberlegten Handlung, die im Schock und ohne reifliche Überlegung geschieht, eine ganze Lawine losgetreten wird. Ständig werden neue Entscheidungen von June verlangt, doch hat sie überhaupt eine Wahl? Sie ist eine Lügnerin und stiehlt nicht nur ein Lebenswerk, sondern gleich eine ganze Identität. Und trotzdem wünsche ich ihr manchmal, dass sie damit durchkommt. Doch in der nächsten Minute finde ich ihr Verhalten einfach nur abstoßend.

Dass es der Autorin gelingt, June‘s Zerrissenheit auch auf mich als Leserin zu spiegeln, gefällt mir unglaublich gut.

Ich habe „Yellowface“ super gern gelesen, habe mich von der kraftvollen Handlung fesseln lassen, habe viel gelernt über die Welt der Autor:innen und der Verlage und habe gestaunt über die Macht der sozialen Medien. Denn obwohl wir heute alle wissen, was ein Shitstorm ist, können wir die echte Gewalt, die davon ausgeht, wahrscheinlich nur erahnen.

Ob der Hype um dieses Buch gerechtfertigt ist, solltest du selbst herausfinden. Ich war sehr überzeugt von der Geschwindigkeit und der Intensität von „Yellowface“ und von der skurrilen Idee, die diesem Roman zugrunde liegt. Ein halbes Pünktchen ziehe ich ab, weil ich mir eventuell einen noch stärkeren Paukenschlag als Ende gewünscht hätte. Ansonsten bin ich rundum happy und habe jede Zeile genossen.

4,5/5 ★

Veröffentlicht am 26.02.2024

Lil‘s geniale Rache

Lil
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Sarah erzählt die Geschichte ihrer Ur-Ahnin Lillian Cutting, die Ende des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche, intelligente und selbstbewusste Unternehmerin war. Für die damalige Bevölkerung New Yorks und ...

Sarah erzählt die Geschichte ihrer Ur-Ahnin Lillian Cutting, die Ende des 19. Jahrhunderts eine erfolgreiche, intelligente und selbstbewusste Unternehmerin war. Für die damalige Bevölkerung New Yorks und auch für ihren eigenen Sohn Robert war Lil etwas zu unabhängig für diese Zeit und so geschah es, dass sie unter einem heimtückischen Vorwand in einer Psychiatrie behandelt wurde. Dort wurde ihr Schreckliches angetan, doch Lil beschloss, sich zu rächen.


Ich habe den knapp 240 Seiten schlanken Roman geradezu verschlungen. Die Erzählerin Sarah berichtet so grandios sarkastisch von ihrer Familiengeschichte, dass ich schon nach wenigen Seiten mit Haut und Haaren von ihr gefangen war. Die absolute Krönung ist ihre Gesprächspartnerin Miss Brontë, womit der Autor zu 100 % meinen Geschmack getroffen hat.

Das Buch beinhaltet so viele weiblich gelesene Charaktere, in die man sich nur verlieben kann. Für die damalige Zeit sind Lil, Libby, Eve und Colby so fantastische Vorbilder, dass ich einfach nur dahingeschmolzen bin. Sie bieten ihren Widersachern auf so raffinierte Weise die Stirn, dass ich gerne mehrfach laut gejubelt hätte.

Dass ausnahmslos alle Psychiatrien, Psychotherapeut:innen und stationäre Einrichtungen für psychische Erkrankungen im Roman „Lil“ sehr schlecht wegkommen, ist ein bisschen schade und mein einziger Kritikpunkt.

Mein absolute Highlight war schließlich die Gerichtsverhandlung. Der Richter Stamford Brook ist dabei zur Höchstform aufgelaufen und hat so heroisch alle Scheusale und alle Ungerechtigkeiten diskreditiert, dass ich bei seiner Urteilsverkündung Gänsehaut bekam und beinahe ein Freudentränchen verdrücken musste.

Vom Sprachstil des Autors bin ich sehr beeindruckt. Es gelingt ihm dadurch, den Roman so mitreißend und amüsant zu gestalten, dass das Lesen für mich zur wahren Freude wurde. Ich kann das Buch unbedingt empfehlen, wenn du Lust hast auf geniale Rachefeldzüge, exzellenten Sarkasmus, Kreativität und Genugtuung en masse.

Veröffentlicht am 05.07.2024

Zwei Schwestern, die Liebe und der Bär

Cascadia
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Zwischen Seattle und Vancouver, zwischen den USA und Kanada, zwischen dem Pazifik und dem Festland liegt San Juan Island, wo Sam mit ihrer Schwester Elena und ihrer Mutter lebt. Die beiden jungen Frauen ...

Zwischen Seattle und Vancouver, zwischen den USA und Kanada, zwischen dem Pazifik und dem Festland liegt San Juan Island, wo Sam mit ihrer Schwester Elena und ihrer Mutter lebt. Die beiden jungen Frauen verdienen gerade genug, damit es zum Überleben reicht, denn nebenbei müssen sie ihre kranke Mutter pflegen, was einem weiteren Vollzeitjob gleicht. Doch sie haben einander – die Schwesternliebe, sie haben Pläne und Träume von einer sorglosen Zukunft. Als könnte ein Bär, als könnte die Liebe, als könnte irgendetwas diese Zukunft zerstören!?

🐻💜

Naivität, bedingungsloses Vertrauen, auch ein wenig Arglosigkeit. Das kommt mir in den Sinn, wenn ich an Sam denke. Sie vergöttert ihre Mutter und noch mehr vergöttert sie Elena. Abhängigkeit – wenn sich ein Leben nur um die Existenz eines anderen Leben dreht, dann bekomme ich ein ungutes Gefühl. Doch ich verstehe Sam so sehr. Mit all ihren Ecken und Kanten ist die Protagonistin, ihr Handeln und ihre Gedanken, für mich so glaubwürdig und authentisch. Selbstlosigkeit, Hingebung, Aufopferung – das Glück ihrer Schwester bedeutet ihr mehr, als ihr eigenes Glück.

Gleichzeitig tut es weh, zu sehen, wie sie wirklich alles aufgibt, um den gemeinsamen Traum zu erfüllen. Wie sehr sie in der Zukunft lebt und wie wenig im Heute. Wie sehr sie alle anderen Menschen ablehnt, wie blind sie dem Wort ihrer Schwester glaubt.

Elena ist für mich eine schwierige Figur, für welche ich anfangs ein wenig, nach dem ersten Drittel überhaupt keine Sympathie mehr empfinden konnte. Sie ist für mich so schwer zu greifen, ihr Handeln ist für mich nur selten nachvollziehbar. Im letzten Drittel bricht sie mir das Herz. Doch das ist ein rein subjektives Empfinden meinerseits.
Insgesamt ist „Cascadia“ unglaublich fesselnd. Die Autorin schreibt wunderschön und bis kurz vor Schluss war mir nicht klar, wie die Geschichte enden würde. Dass der Roman aus Sams Perspektive geschrieben ist, ist ein großer Gewinn für das Buch. Denn sie ist zwar speziell, aber für meinen Geschmack die Person, der ich lieber zuhören möchte. Ach und dann ist da ja noch der Bär – was es mit ihm auf sich hat, musst du aber selbst lesen. Das ist zu interessant und darf nicht gespoilert werden!

Eine Leseempfehlung für ein aufreibendes und durchaus berührendes Buch mit ganz viel Raum, um zwischen den Zeilen zu lesen, zum Nachdenken und Mitfühlen.

Veröffentlicht am 02.07.2024

Auf der Suche nach der eigenen Identität

Die Hungrige
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Lydia ist eine junge Vampirin und wagt ihre ersten Schritte in ein selbstbestimmtes Leben. Doch damit entstehen auch Herausforderungen, die sich vordergründig um ihre eigene Existenz drehen - sie muss ...

Lydia ist eine junge Vampirin und wagt ihre ersten Schritte in ein selbstbestimmtes Leben. Doch damit entstehen auch Herausforderungen, die sich vordergründig um ihre eigene Existenz drehen - sie muss Nahrung finden. Nachdem sie zuvor von ihrer Mutter regelmäßig mit Schweineblut versorgt wurde, steht sie nun mit leeren Händen, leerem Magen und leeren Adern da. Doch eigentlich will Lydia keine Menschen essen.

Und dann sind da noch all die gesellschaftlichen Herausforderungen, die ihr neues Leben in einem Künstlerinnenloft und das Praktikum in einer Galerie mit sich bringen. Kann eine Vampirin einen Zugang zur ganz gewöhnlichen, menschlichen Welt finden?

🧛🏽‍♀️🧛🏽‍♀️🧛🏽‍♀️

Claire Kohda ist mit diesem Roman etwas gelungen, das mir im Großen und Ganzen sehr gut gefallen hat. Sie platziert eine Sagengestalt in eine Coming-of-Age-Story und lässt uns an den Problemen von Lydias Erwachsenwerden teilhaben.

Lydia kämpft mit dem Anderssein, mit den zwei Seelen in ihrer Brust, mit der Akzeptanz ihres inneren Dämons. Doch auch sehr menschliche Themen beschäftigen sie. Denn als junge Frau ist sie plötzlich mit S
xismus konfrontiert und mit japanischen und malaysischen Wurzeln erlebt sie Ausgrenzung nicht nur durch ihre unüblichen Essensgewohnheiten als Vampirin.

Überhaupt ist Lydia gezwungen, ihre wahre Identität geheimzuhalten, ihren Dämon zu verstecken, immer nur ihre menschliche Seite zu präsentieren. Gerade diese Passagen, die so viel von ihrer Seele zeigen, waren für mich am stärksten. Denn eigentlich ist der Wunsch doch so menschlich, sich nur von seiner guten Seite zu zeigen, sich anzupassen und sich in der Gesellschaft zurecht zu finden. Umso schöner war es schließlich, dass es ganz ohne Rebellion und ohne Durchbrechen der Grenzen nicht klappt. Denn Lydias wahres Ich hat mir am Ende am besten gefallen.

An einigen Stellen hätte ich gerne noch so viel mehr erfahren, sodass ich dafür ein Pünktchen abziehe. Durch ein oder zwei Fortsetzungen ließe sich das aber beheben. 😉