Ein Meisterwerk der Leserlenkung
Unterleuten"Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen." So lautet das Resumee des Erzählers am Ende des Romans Unterleuten. Und dem kann der Leser absolut zustimmen.
Im ostedeutschen ...
"Eine Geschichte wird nicht klarer dadurch, dass viele Leute sie erzählen." So lautet das Resumee des Erzählers am Ende des Romans Unterleuten. Und dem kann der Leser absolut zustimmen.
Im ostedeutschen Dorf Unterleuten sollen Windräder gebaut werden. Für die Bewohner des Dorfes ist dies der Beginn eines Kleinkriegs. Im Laufe des Romans wird jedoch deutlich, dass es nicht wirklich um die Windräder geht, sondern um uralte Fehden, die bis weit in die DDR-Zeiten reichen.
Juli Zeh schreibt ihren Roman aus unterschiedlichen Figurenperspektiven. So bildet sich während der Handlung ein buntes Sammelsurium an Weltanschauungen, Bildern und Meinungen. Im ersten Kapitel scheint man sich sicher, wer der Böse ist. Dann allerdings liest man ein Kapitel aus der Sicht eben jener "bösen" Figur und ist sich nun sicher, dass diese völlig unschuldig ist. Zeh arbeitet hier meisterhaft mit dem Prinzip der Leserlenkung. Über die Frage eines (un-)zuverlässigen Erzählers ließen sich bei diesem Roman ganze Abhandlungen schreiben. Am Ende bleibt man zurück und kann absolut keiner Figur die Schuld für das Geschehen geben, es gibt keinen typischen Bösewicht. Alle Handlungen der Figuren werden so beschrieben, dass man sich in der Wertung anderer Figuren über diese Handlungen kein Verständnis hat, beim Lesen der Motivation von den Figuren selbst jedoch vollstes Verständnis hat.
Die Stoffe im Roman sind zudem unglaublich gut recherchiert und aufgearbeitet. Jede Figur hat ihre eigenen Vorlieben und diese werden genaustens beschrieben. Dabei ist völlig irrelavanzt, ob man etwas mit seltenen Vögeln anfangen kann oder mit der Reparatur von Autos - Juli Zeh macht diese Interessen zu den Interessen des Lesers, so anschaulich und detailtreu werden sie beschrieben.
Auch die Vergangenheiten der Figuren erscheinen dem Leser wie die eigene, so gekonnt skizziert die Autorin diese. Während der Handlung klärt sie den Leser über die Vergangenheit der Figuren auf, kommt zurück in die Gegenwart und taucht wieder zurück in die Vergangenheit. Der Leser bekommt das Gefühl, die Figuren allesamt zu kennen wie einen lieben Freund und auch dadurch kommt das Phänomen zustande, dass man es nicht schafft, einen Liebling zu haben. Alle Figuren sind einfach viel zu plastisch beschrieben und in ihrer Charakterisierung authentisch.
Fazit: Bei Juli Zehs Unterleuten handelt es sich um ein Meisterwerk der Leserlenkung. Nie zuvor habe ich ein Buch gelesen, bei dem ich jeder Figur eine literarische Absolution erteilen konnte, bei der ich jede Sichtweise nachvollziehen und gutheißen konnte und bei der ich nicht hätte beurteilen können, wer der Schuldige ist. "Mit dem Dorf stimmt was nicht. Ganz massiv." Das trifft den Kern dann doch eher, denn die Autorin zeichnet hier ein feines Netz aus dem Leben, Lieben und den Intrigen einer in der Vergangenheit feststeckenden Dorfgemeinschaft.