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Monsieur

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Veröffentlicht am 30.08.2025

Ein Café, in dem die Zeit stillsteht

Die Tage im Café Torunka
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„Die Tage im Café Torunka“ ist bereits der dritte Roman von Satoshi Yagisawa, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. Auch diesmal wählt der Autor einen besonderen Ort als Bühne für Begegnungen ganz ...

„Die Tage im Café Torunka“ ist bereits der dritte Roman von Satoshi Yagisawa, der in deutscher Übersetzung erschienen ist. Auch diesmal wählt der Autor einen besonderen Ort als Bühne für Begegnungen ganz unterschiedlicher Menschen und ihrer alltäglichen Geschichten. Statt der bekannten Buchhandlung Morisaki steht nun jedoch ein abgelegenes Café im Mittelpunkt – ein Platz, der meist nur von Einheimischen besucht wird und gerade durch seine Ruhe und Abgeschiedenheit eine besondere Anziehungskraft entfaltet.
Im Unterschied zu seinen beiden früheren Romanen rückt Yagisawa diesmal nicht eine einzelne Hauptfigur ins Zentrum, über die die Leser nach und nach auch andere Charaktere kennenlernen. Stattdessen überlässt er nacheinander verschiedenen Ich-Erzählern die Bühne, die aus jeweils ganz eigenen Beweggründen den Weg ins Café Torunka finden. So entsteht ein Mosaik aus Lebensgeschichten, das von gewöhnlichen Menschen erzählt – Bürgern mit ihren Sorgen, Hoffnungen und kleinen wie großen Träumen. Diese sind nicht immer unbeschwert: Gerade auch die jüngeren Figuren haben bereits Erfahrungen mit Verlust, Unsicherheit oder Orientierungslosigkeit gemacht. Da ist etwa der Student, der noch keinen Platz im Leben gefunden hat, oder das Mädchen, das sich in den Freund ihrer verstorbenen Schwester verliebt – weniger aus romantischen Gründen, sondern als Ausdruck ihres Wunsches nach Reife und einem Umgang mit ihrer Trauer.
Wie schon in seinen Vorgängerwerken bleibt Yagisawas Ton ruhig und unaufgeregt. Seine Erzählweise ist leicht zugänglich, lädt zum Mitfließen ein und vermittelt das Gefühl, als stünde die Zeit still, sobald die Figuren das Café betreten. Die Welt außerhalb rückt in den Hintergrund; einzig die Geschichten der Menschen zählen. Atmosphärisch arbeitet der Autor mit leisen Andeutungen, ohne sich in ausführlichen Beschreibungen zu verlieren.
„Die Tage im Café Torunka“ ist eine stille, unprätentiöse Lektüre, die keine großen Gesten braucht, um das Auf und Ab des Lebens einzufangen – auf eine Weise, in der sich viele Leser wiedererkennen können. Zwar bleibt Yagisawas Werk auch im dritten Band nicht ganz frei von dem Verdacht, vor allem als ansprechendes „Geschenkbuch“ zu funktionieren. Doch hebt es sich von vielen vergleichbaren Titeln ab, weil es trotz seiner Schlichtheit eine untergründige Ernsthaftigkeit und Tiefe bewahrt, die es lesenswert macht.

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Veröffentlicht am 23.08.2025

Ein Familienroman in klassischer Manier

Lázár
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„Lázár“ von Nelio Biedermann ist ein Familienroman im klassischen Gewand – und wirkt zunächst wie eine Veröffentlichung, die nicht so recht ins Jahr 2025 passen will. Erzählt wird die Geschichte einer ...

„Lázár“ von Nelio Biedermann ist ein Familienroman im klassischen Gewand – und wirkt zunächst wie eine Veröffentlichung, die nicht so recht ins Jahr 2025 passen will. Erzählt wird die Geschichte einer ungarischen Adelsfamilie im 20. Jahrhundert, deren Schicksal erkennbar auf den eigenen Vorfahren des Autors basiert. In rascher Folge werden zahlreiche Familienmitglieder als handelnde Figuren eingeführt. Ausgangspunkt ist das abgelegene Waldschloss der Familie, in dem seit Generationen nach den immer gleichen Regeln „regiert“ wird. Doch mit den Kindern, die im Verlauf des Romans die Geschicke nicht nur der Familie, sondern auch der Handlung übernehmen, beginnt das starre Gefüge zu wanken – befördert durch die historischen Zäsuren des Weltkriegs und seiner Folgen.
Dabei begnügt sich „Lázár“ nicht mit einer reinen Nacherzählung von Zeitgeschichte oder einer bloßen Familienbiografie. Immer wieder findet der Roman Raum, die inneren Konflikte seiner Figuren – Lajo, Eva und Pista – auszuloten: ihre Zweifel, Ängste, Sehnsüchte und Hoffnungen. So entsteht ein dichtes Bild einer Epoche, die in all ihren Umbrüchen, Wirrungen und Gegensätzen greifbar wird und zugleich die individuelle Entwicklung der Protagonisten mit einschließt.
Das hohe Tempo der Erzählung erweist sich als notwendiges Stilmittel, um diesem weiten Panorama gerecht zu werden. Es birgt zwar die Gefahr der Oberflächlichkeit, doch Biedermann versteht es, den Rhythmus zu halten: sein Roman ist schnell, lebendig, zuweilen verspielt, wechselt zwischen realistischen Schilderungen historischer Ereignisse und beinahe surrealen Momenten innerer Kämpfe.
Die Geschichte, die im abgeschiedenen Herrschaftsgebiet der Familie ihren Anfang nimmt, entfaltet sich als eine Reise durch die Biografie einer ganzen Epoche – und zugleich als intime Erzählung einzelner Schicksale.
Natürlich ist diese Art Familienroman nicht neu. Zahlreiche Werke haben bereits das Leben adeliger Familien im Kontext von Vorkrieg, Krieg und Nachkriegszeit behandelt – sowohl von Zeitzeugen als auch von zeitgenössischen Autoren. Nelio Biedermann erfindet dieses Genre nicht neu, sondern schreibt in einem klassischen, erwartbaren Stil. Dennoch bewegt er sich dabei auf hohem Niveau: „Lázár“ ist ein unterhaltsamer, mitreißender Roman, der souverän mit Figuren, Historie und Fiktion spielt.
Und doch wirkt das Werk eher wie ein Nachtrag – solide, aber nicht zwingend notwendig für unsere Gegenwart. Zwar lassen sich die Verlorenheit und Orientierungslosigkeit der Figuren mühelos auf heutige Menschen übertragen, dennoch wirkt der Roman insgesamt zu konventionell, um wirklich herauszustechen. Somit ist „Lázár“ ist eine empfehlenswerte Lektüre – ein komplexes, souveränes Familienepos über eine ungarische Adelsfamilie, das die Leser nicht enttäuschen wird, auch wenn es im Genre keine neuen Maßstäbe setzt.

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Veröffentlicht am 20.08.2025

Viel Lärm um Nichts

Dr. No
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Wie schon in seinem Roman „James“, der an Mark Twains Klassiker „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ angelehnt war, greift Percival Everett auch in „Dr No“ auf ein berühmtes literarisches Vorbild zurück: ...

Wie schon in seinem Roman „James“, der an Mark Twains Klassiker „Tom Sawyer und Huckleberry Finn“ angelehnt war, greift Percival Everett auch in „Dr No“ auf ein berühmtes literarisches Vorbild zurück: Ian Flemings James Bond. Doch anstatt einfache Unterhaltung zu liefern, wie es das Genre nahelegt, verfolgt Everett einen deutlich literarischeren Anspruch.
Im Zentrum steht Wala Kitu, ein angesehener Mathematikprofessor, der sich in einem ruhigen, unspektakulären Leben eingerichtet hat. Dieses gerät aus den Fugen, als der exzentrische Milliardär John Sill ihn als Berater anwirbt – für nichts weniger als das „Nichts“, auf dem Kitu als Fachmann gilt. Sill hegt den bizarren Wunsch, sich selbst zu einem klassischen Bond-Bösewicht zu formen. Kitu lässt sich auf das Angebot ein und begibt sich damit auf eine abenteuerliche Reise, die ihn in bester Agentenmanier von Privatjets über U-Boote bis hin zu geheimnisvollen Inseln führt.
Everetts literarisches Spiel mit bekannten Vorlagen weckt zunächst Skepsis: Schließlich gelten die Bond-Romane eher als Unterhaltungslektüre und weniger als literarisch hochwertig. Doch Everett, vielfach preisgekrönt und mit weit höheren Ambitionen ausgestattet, versucht genau diesen Sprung. Überraschenderweise setzt er dabei nicht auf Schwere, sondern auf Humor – mal mit Wortwitz, mal komödiantisch, manchmal sogar slapstickhaft. Wie schon in „James“ ist seine Ironie oft kaum mehr als eine feine Schicht, die jedoch im Laufe der Lektüre immer deutlicher hervortritt.
Anfangs funktioniert das sehr gut: Die Dialoge zwischen Sill und Kitu, die absurden Reflexionen über das „Nichts“ sowie die schrägen Nebenfiguren – vom Autohändler bis zum dreibeinigen Hund – sind originell und unterhaltsam. Doch sobald die Handlung Fahrt aufnimmt und Kitu in ein Netz aus Intrigen, Verfolgungen und Agentenabenteuern gerät, verliert der Roman an Kraft. Zwar baut Everett weiterhin theoretische Exkurse ein, die das Geschehen mit metaphorischer Tiefe anreichern sollen, doch wirken diese zunehmend wie ein intellektuelles Alibi. Statt durch erzählerische Dichte zu überzeugen, fordert er hier vor allem die Fantasie der Leser heraus – mit dem Effekt, dass die Handlung bisweilen banal, überzeichnet und in ihrer Parodie zu einseitig bleibt.
Am Ende entsteht so der Eindruck, dass Everett sich wie schon in „James“ zu sehr in der Nacherzählung eines Abenteuerplots verliert, ohne diesem einen tragfähigen literarischen Kern zu verleihen. Was als kluge Satire angelegt sein könnte, gerät streckenweise zu einer geistlosen Agenten-Persiflage.
Nach zwei Romanen muss ich daher feststellen: Everetts Stil – ein wechselvolles Spiel zwischen Gesellschaftskritik, Anspruch, Humor und Satire – entfaltet für mich keine nachhaltige Wirkung. Die Mischung wirkt zunächst spannend und mutig, trägt jedoch keine ganze Erzählung. Zu selten blitzen die wirklich gehaltvollen, intellektuellen Zwischentöne auf. Stattdessen häufen sich Andeutungen, die Raum für Deutung bieten sollen, letztlich aber eher wie Ausweichmanöver erscheinen.
„Dr No“ ist zweifellos unterhaltsam, skurril, mutig und originell – aber ebenso sprunghaft und unausgewogen. Für manche Leser mag genau diese Mischung den Reiz ausmachen. Für mich bleibt der Roman jedoch ein interessantes Gedankenspiel, das als Parodie funktioniert, als Literatur aber nicht gänzlich überzeugt.

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Veröffentlicht am 04.08.2025

Drama voller seelischer Tiefe

Öffnet sich der Himmel
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„Öffnet sich der Himmel“ von Séan Hewitt ist ein Paradebeispiel dafür, wie wichtig es im modernen Literaturbetrieb ist, auch jungen Autoren eine Stimme zu geben, denn dem Erzähler gelingt gleich mit seinem ...

„Öffnet sich der Himmel“ von Séan Hewitt ist ein Paradebeispiel dafür, wie wichtig es im modernen Literaturbetrieb ist, auch jungen Autoren eine Stimme zu geben, denn dem Erzähler gelingt gleich mit seinem Debütroman etwas, woran etablierte und erfahrene Schriftsteller reihenweise scheitern.
Fast jeder zeitgenössische Roman – selbst jene, die sich der „ernsten“ Literatur zurechnen – bedient sich der Motive von Liebe und Leidenschaft, scheitert jedoch allzu oft an Klischees und Oberflächlichkeiten. Ganz anders Hewitts Roman „Öffnet sich der Himmel“, der von James handelt, einem sensiblen Jugendlichen, der in einem entscheidenden Sommer seines Lebens Gefühle für seinen Freund Luke entwickelt – Gefühle, die nicht erwidert werden. Was zunächst wie eine klassische Coming-of-Age-Geschichte anmutet, entfaltet sich zu einem stillen Drama voller seelischer Tiefe.
Hewitt gelingt es mit beachtlicher Leichtigkeit, James’ innere Welt zu erschließen – ein Gefühlsraum, so vielschichtig und intensiv, dass es den Jungen beinahe zu verschlingen droht, und man als Leser regelrecht mitgerissen wird. James’ Begehren, seine Verletzlichkeit, seine Verlorenheit: all das wird in klarer, unaufgeregter Sprache erfahrbar. Die Beziehung zwischen James und Luke ist brillant erzählt – voller Spannung, Annäherung und Distanz zugleich. Dabei bleibt immer spürbar, wie unterschiedlich beide Jungen ihre Verbindung erleben und was sie jeweils zu verlieren haben.
Besonders überzeugend ist Hewitts Gespür für Nuancen: James’ Blick auf das Dorf, auf seine Mitschüler, auf seine Eltern – alles ist von feinen Beobachtungen durchzogen, die sich nach und nach entfalten wie die Aromen eines guten irischen Whiskys. Und obwohl Hewitt stilistisch auf hohem Niveau schreibt, verliert er sich nie in sprachlicher Eitelkeit. Stattdessen bleibt er nahe bei James, bei dessen Erfahrungen und Erschütterungen.
In einem Jahr, in dem viele Liebesgeschichten wieder einmal belanglos und vorhersehbar daherkamen, ist „Öffnet sich der Himmel“ ein echter Höhepunkt. Vor allem im Jugendbuchbereich gehört dieser Roman zu den besten Veröffentlichungen der letzten Jahre – emphatisch, feinfühlig und absolut lesenswert.

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Veröffentlicht am 22.07.2025

Biografie mit gesellschaftskritischer Relevanz

Lilianas unvergänglicher Sommer
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In ihrer Heimat hat sich Cristina Rivera Garza mit ihren literarischen Sachbüchern bereits einen Namen gemacht. Doch mit „Lilianas unvergänglicher Sommer“, ihrem neuesten Werk, hat sie sich nicht nur ein ...

In ihrer Heimat hat sich Cristina Rivera Garza mit ihren literarischen Sachbüchern bereits einen Namen gemacht. Doch mit „Lilianas unvergänglicher Sommer“, ihrem neuesten Werk, hat sie sich nicht nur ein ganz persönliches Thema vorgenommen, sondern gleichsam ein literarisches Denkmal gesetzt, das internationale Anerkennung finden konnte: 2024 wurde sie für diesen autobiografischen Roman mit dem renommierten Pulitzer-Preis ausgezeichnet. Das Buch ist mehr als ein Rückblick – es ist eine Anklage, ein Nachruf, eine biografische Aufarbeitung und nicht zuletzt ein feministisches Manifest.
Im Zentrum des Romans steht der gewaltsame Tod von Garzas Schwester Liliana, die vor knapp 29 Jahren von ihrem damaligen Partner Ángel ermordet wurde. Ein Femizid – so lautet das zentrale Anliegen der Autorin. Sie will den Mord nicht einfach als „Verbrechen aus Leidenschaft“ verstanden wissen, wie es die mexikanischen Behörden damals klassifizierten, sondern ihn in den gesellschaftlichen Kontext patriarchaler Gewalt stellen. Dieser Anspruch durchzieht das gesamte Buch. Bereits der Einstieg des Romans macht klar, dass Cristina Rivera Garza mit diesem Buch ein großes Ziel verfolgt: die Abrechnung mit einem System, das jahrzehntelang die strukturelle Gewalt gegen Frauen leugnete. In fast wütender Tonlage schildert sie, wie ihre Familie mit institutioneller Ignoranz, juristischer Trägheit und sprachlicher Verharmlosung konfrontiert wurde. Die ersten fünfzig Seiten wirken streckenweise polemisch, geradezu schneidend in ihrer Anklagehaltung. Immer wieder bringt Rivera Garza dieselben Vorwürfe vor – ohne sie in dieser Phase ausreichend zu kontextualisieren oder argumentativ zu unterfüttern. Für Leser, die sich einen erzählerischen Zugang erhoffen, kann dies zunächst ermüdend sein. Die Autorin verlangt Geduld – eine Geduld, die sich jedoch im weiteren Verlauf bezahlt macht.
Denn sobald sich Garza der Geschichte ihrer Schwester widmet, entfaltet der Roman seine wahre Stärke. „Lilianas unvergänglicher Sommer“ wird zu einer einfühlsamen, romanhaft geschriebenen Biografie. Die Autorin rekonstruiert Lilianas Leben mit liebevoller Präzision, beschreibt Stationen ihres Werdegangs, ihre Interessen, ihre Träume – und vor allem ihr Wesen. Es sind die kleinen Beobachtungen, die leisen Gesten, das zarte Erinnern, das die Figur Liliana lebendig werden lässt. Hier wird deutlich, wie tief die Verbindung der Schwestern war und wie sehr Lilianas Wesen das Leben der Autorin geprägt hat.
Diese Feinfühligkeit im Porträt ist einer der großen Pluspunkte des Buches. Die Autorin schreibt mit bemerkenswerter Beobachtungsgabe, zeigt Nuancen von Lilianas Charakter, schildert ihre Entschlossenheit, ihren Humor, ihre Verletzlichkeit. Es sind intime, sehr persönliche Momente, an denen die Leser teilhaben – auch wenn Liliana in gewisser Weise idealisiert wird.
Gleichzeitig stößt die narrative Zuspitzung der Geschichte auf gewisse Schwächen. Besonders durch den Kontrast zur polemischen Einleitung entsteht eine Spannung: Während dort das Ziel formuliert wird, den Mord an Liliana eindeutig als Femizid zu klassifizieren, bleibt die tatsächliche Geschichte – zumindest aus literarischer Sicht – ambivalent. Ángel, Lilianas Freund und Mörder, wird von Anfang an als gewalttätiger, kontrollsüchtiger und gefährlicher Mensch dargestellt – fast klischeehaft wie ein Bösewicht aus einem Krimi. Warum Liliana trotz allem mit ihm eine Beziehung führte, bleibt unklar. Dies erschwert eine differenzierte Rezeption, weil die Figuren teilweise zu stark typisiert erscheinen. Die emotionale Nähe der Autorin zu ihrer Schwester ist verständlich, doch nimmt sie der Darstellung auch jene Ambivalenz, die einem literarischen Werk oft Tiefe verleiht.
Der Vorwurf, dass Liliana – durch ihre Eigenständigkeit und ihren Widerstand gegen patriarchale Rollenzuweisungen – besonders „gefährdet“ gewesen sei, wird implizit zwar aufgegriffen, aber nicht immer überzeugend entkräftet. Garza bleibt in Teilen eine differenzierte Auseinandersetzung mit der Dynamik dieser Beziehung schuldig. Hier hätte mehr analytische Tiefe dem Anliegen des Buches dienlich sein können.
Dennoch: Cristina Rivera Garza hat ein wichtiges Buch geschrieben. Es ist ein Werk, das aufrüttelt, das Fragen stellt, das fordert. Besonders in Ländern wie Mexiko, wo Frauenmorde erschreckende Alltäglichkeit besitzen, ist „Lilianas unvergänglicher Sommer“ ein literarischer Weckruf. Dass Garza mit ihrer Geschichte eine große Zielgruppe erreicht – und dank des Pulitzer-Preises nun auch international –, ist ein bedeutender Erfolg für die Autorin.

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