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Veröffentlicht am 10.02.2022

Ein unfreiwilliger Held mit einer Lügengeschichte, die ein anderer für ihn erfunden hat

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Michael Hartungs berufliche Laufbahn ist nicht sonderlich beeindruckend: Seinen ersten Job bei der Bahn hat er wegen mangelnder Arbeitsdisziplin verloren und die nachfolgenden fielen jeweils dem technologischen ...

Michael Hartungs berufliche Laufbahn ist nicht sonderlich beeindruckend: Seinen ersten Job bei der Bahn hat er wegen mangelnder Arbeitsdisziplin verloren und die nachfolgenden fielen jeweils dem technologischen Fortschritt zum Opfer. Dieses Schicksal scheint ihn bald erneut zu drohen, denn im Jahr 2019 kommt nicht mehr viel Kundschaft in seine Videothek und die Miete ist bereits überfällig.

Da erhält er Besuch vom Journalist Alexander Landmann, der einen Artikel über die Flucht am Bahnhof Friedrichstraße am 12. Juli 1983 veröffentlichen will. Ob Hartung derjenige ist, der die Weiche so gestellt hat, dass der Zug in den Westen fahren konnte? Und er dafür im Stasi-Gefängnis saß? Hartung reagiert zurückhaltend, doch die von Landmann gebotenen 2000 Euro benötigt er dringend. Er bestätigt Landmann, dass er die Weiche gestellt hat, allerdings aus Versehen. Und dass er im Gefängnis war, aber nur ereignislose vier Tage. In Landmanns Artikel wird er jedoch zum Held, der eine Flucht geplant und Folter überstanden hat. Bald kann er sich vor Interview-Anfragen kaum mehr retten. Hartung ist hin- und hergerissen: Soll er die Wahrheit erzählen oder Landmanns Story weiterspinnen?

Zu Beginn des Buches lernte ich Hartung kennen, der in seinem Leben wahrlich nicht viel Glück gehabt hat und dessen Videothek kurz vor dem Ruin steht. Dennoch reagiert er zurückhaltend, als Landmann ihm Geld für seine nicht sonderlich beeindruckende Geschichte bietet. Doch den final gebotenen 2000 Euro kann er nicht widerstehen. Dass er in Landmanns Artikel zum Helden glorifiziert wird überrascht ihn dann aber doch. Die Geschichte ist von Beginn an in einem lockeren, humorvollen Ton erzählt und es wurde mir nachvollziehbar gemacht, warum Hartung schließlich dem Druck von Landmann nachgibt und die erfundene Version der Ereignisse bestätigt.

Eins führt in dieser Geschichte zum anderen. Schnell begriff ich, dass Hartung, einmal als Held gefeiert, als diesem Lügengespinst nicht mehr so schnell wird ausbrechen können. Nur etwas warten, dann verliert die Öffentlichkeit das Interesse. Nur noch ein paar Interviews. Nur noch ein TV-Auftritt... Dabei wird Hartung, der zu Beginn die Wahrheit erzählen wollte, zunehmend instrumentalisiert. Es wird eine frische Story benötigt, die das Interesse am Mauerfall neu befeuert, und seine kommt gerade zur rechten Zeit. Hartung wird zum Spielball anderer, die viel zu verlieren haben und gänzlich über ihn bestimmen wollen.

Ich fand die Darstellung der Ereignisse unterhaltsam und wurde gleichzeitig ins Nachdenken gebracht, wie eine kleine Beschönigung der Ereignisse zu einem gigantischen Kartenhaus der Lügen werden kann, das jederzeit zusammenbrechen könnte. Natürlich ist es unweigerlich eine Frage der Zeit, bis die Geschichte aufzufliegen droht. Zu diesem Zeitpunkt steht für einige Menschen schon viel auf dem Spiel. Ich war gespannt, welchen Weg der Autor seine Figuren einschlagen lässt. Für mich ist der Abschluss gelungen, auch wenn nicht alles auserzählt wird.

Sehr gerne empfehle ich die Geschichte an Leser:innen weiter, die Lust auf eine humorvolle und gleichzeitig ins Nachdenken bringende Geschichte über einen unfreiwillig und unberechtigterweise ernannten Helden haben, der zunehmend Gefallen an der Lügengeschichte findet, die ein anderer für ihn erfunden hat.

Veröffentlicht am 05.02.2022

Das Zimmermädchen und der Tote im Hotelzimmer

The Maid
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Molly Gray ist fünfundzwanzig Jahre alt und glücklich mit ihrem Job als Zimmermädchen im Regency Grand Hotel. Tag für Tag versetzt sie mit ihren Fähigkeiten die Zimmer zurück in einen Zustand der Perfektion. ...

Molly Gray ist fünfundzwanzig Jahre alt und glücklich mit ihrem Job als Zimmermädchen im Regency Grand Hotel. Tag für Tag versetzt sie mit ihren Fähigkeiten die Zimmer zurück in einen Zustand der Perfektion. Einige Gäste würdigen das mit hohen Trinkgeldern, und Giselle Black, die zweite Frau des bekannten Tycoons Charles Black, ist ihr sogar eine Freundin geworden. Doch ausgerechnet Mr. Black ist es, den Molly eines Tages tot auf seinem Bett auffindet. Hatte er einen Herzinfarkt oder wurde er ermordet? Molly fallen einige Dinge auf, doch sie teilt der Polizei nur das nötigste mit. Das bringt sie bald in eine verzwickte Situation...

Die Geschichte ist aus der Ich-Perspektive erzählt und beginnt an dem Tag, an dem Molly den toten Mr. Black in seinem Hotelzimmer findet. Das Geschehene hat sie sehr aufgewühlt, wodurch ihre Schilderungen zu Beginn etwas wirr sind und ich einige Zeit benötigte, um den Ablauf der Ereignisse zu begreifen. Währenddessen erhielt ich die Gelegenheit, Mollys Wesen besser zu verstehen. Sie mag ihren Job als Zimmermädchen wirklich gern. Am liebsten hätte sie eine Hotelfachausbildung gemacht, doch ihre Ersparnisse sind weg, seit sie einem Betrüger in die Falle gegangen ist. Seine Absichten hat sie nicht erkannt, denn sie ist zwar intelligent, hat aber große Schwierigkeiten beim Deuten sozialer Situationen.

In der Interaktion mit der Polizei, den anderen Hotelangestellten und der Witwe des Verstorbenen wird deutlich, wie schwer sich Molly in Gesprächen tut und beim Versuch, die Absichten ihres Gegenübers zu verstehen. Ich fand allerdings, dass sie trotz ihres Handicaps ein unrealistisch hohes Maß an Gutgläubigkeit und Begriffsstutzigkeit an den Tag legte. Als Leserin ahnte ich viel von dem, was vor sich geht, und sah Molly dabei zu, wie sie geradewegs ins Verderben läuft und nach gut 200 Seiten die Konsequenzen zu spüren bekommt.

Danach hat mir die Geschichte deutlich besser gefallen. Sympathische Charaktere eilen Molly zur Hilfe und sie versteht endlich, was eigentlich vor sich geht. Gemeinsam wird ein Plan ausgeheckt, wie das Schlamassel, in das Molly sich gebracht hat, behoben werden kann. Ich fieberte mit, ob die Bösewichte - beziehungsweise die „falschen Fuffziger“, wie Molly sagen würde - ihre gerechte Strafe erhalten werden.

Irreführend fand ich den Untertitel „Ein Zimmermädchen ermittelt“, denn das tut Molly nun wirklich nicht. Sie hat vielmehr einige Beobachtungen gemacht und ein großer Teil der Geschichte dreht sich darum, was davon sie wann wem erzählt oder nicht. In dem Zusammenhang erlebte auch ich ganz am Ende noch einen Twist, der in mir gemischte Gefühle hervorherufen hat. Er ließ mich Mollys Verhalten noch besser verstehen, aber der überraschende Effekt entsteht nur, weil Molly beim Erzählen von Beginn an eine sehr wichtige Information komplett verschwiegen hat.

„The Maid“ ist die Geschichte über das Zimmermädchen Molly, das eines Tages beim Putzen einen namhaften Dauergast tot im Hotelzimmer findet. Für meinen Geschmack brauchte die Geschichte zu lange, um in Fahrt zu kommen. Durchhalten lohnt sich aber, denn das letzte Drittel konnte mich sehr gut unterhalten. Ich bin schon sehr gespannt auf die Buchverfilmung mit Florence Pugh als Molly, die kürzlich angekündigt wurde!

Veröffentlicht am 15.01.2022

Eingeschneit mit einem Killer

Das Chalet
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Die Führungsriege der Social Media App Snoop mietet sich in einem abgelegenen Chalet in den französischen Alpen ein, um dort eine wegweisende Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Zehn Personen reisen ...

Die Führungsriege der Social Media App Snoop mietet sich in einem abgelegenen Chalet in den französischen Alpen ein, um dort eine wegweisende Entscheidung für die Zukunft zu treffen. Zehn Personen reisen an, was bei Erin und Danny, die sich vor Ort um die Gäste kümmern, für Verwirrung sorgt, denn es wurde nur für neun gebucht. Es stellt sich heraus, dass Liz vergessen wurde. Diese arbeitet nicht einmal mehr für Snoop, aber ihre Anwesenheit scheint für die beiden Gründer wichig zu sein. Als die Gruppe nach einem Skiausflug unvollständig zurückkehrt und das Chalet kurz darauf durch einen Lawinenabgang vom Rest der Welt abgeschnitten wird, spitzt sich die Lage schnell zu...

Das Buch beginnt mit einem Auszug der Snoop-Webseite, auf welcher die Führungsriege des Unternehmens vorgestellt wird. Hier gibt man sich hip und modern. Anschließend folgt noch ein News-Artikel, der berichtet, dass in einem Chalet vier Briten starben. Damit wird ein Teil der Ereignisse vorweggenommen, was aber Spannung von Beginn an sorgt. Die Geschichte springt danach fünf Tage zurück und wird abwechselnd aus der Sicht von Erin und Liz erzählt.

Zu Beginn war ich vor allem damit beschäftigt, mir einen Überblick über die Charaktere zu verschaffen. Die sieben wichtigsten Personen bei Snoop werden in der Übersicht am Anfang vorgestellt. Hinzu kommen zwei Assistenten, Liz und die beiden Angestellten im Chalet. Die Stimmung ist schon bei der Ankunft der Gäste angespannt und ich merkte schnell, dass ein Machtkampf im Gange ist.

Die erste Phase der Geschichte ist ruhig und gab mir Einblicke in die schwierige Entscheidung, die bei Snoop getroffen werden muss. Auch die einzelnen Charaktere lernte ich in dieser Zeit besser kennen. Die Mehrheit der Snoop-Mitarbeiter ist auf sich selbst und den eigenen Vorteil bedacht, sie alle waren nicht so richtig sympathisch. Aber könnte einer von ihnen wirklich ein Killer sein? Der normale Wahnsinn endet nach 100 Seiten, als nach dem Skifahren eine Person fehlt und das Chalet von einer Lawine getroffen wird, bevor sich jemand auf die Suche machen kann. Die Gruppe muss ausharren und auf Hilfe warten.

Es ist unklar, ob die vermisste Person von der Lawine verschüttet wurde oder vorher im Tal angekommen ist. Die Anwensenden sind bemüht, den Ablauf der Ereignisse zu rekonstrutieren und ich fand ihre Überlegungen plausibel. Aus der damit verbundenen nervösen Anspannung wird Entsetzen, als ein Gast tot im Chalet aufgefunden wird. Auch hier ist zunächst nicht klar, ob es sich um Selbstmord oder Mord handelt. Dennoch fand ich die Reaktion der Anwensenden hier nicht ganz nachvollziehbar. Sie blieben meiner Ansicht nach zu ruhig und naiv. Aufgrund des News-Artikels am Anfang wusste ich, dass das noch nicht das Ende der schrecklichen Ereignisse ist.

Zwischendurch fehlte mir in der Geschichte echter Fortschritt, dennoch las ich in hohem Tempo weiter, weil ich wissen wollte, wer hinter all dem steckt. Zum Ende hin wurde es dann noch einmal besonders dramatisch. Ich habe mich von diesem Thriller trotz kleiner Schwächen im Mittelteil sehr gut unterhalten gefühlt. Wer Locked-In Szenarien interessant findet, der kann mit diesem Buch einige spannende Stunden verbringen.

Veröffentlicht am 11.01.2022

Drei Jahrhunderte in drei unterschiedlichen Welten

Zum Paradies
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In „Zum Paradies“ nahm Hanya Yanagihara mich mit in die Jahre 1893, 1993 und 2093 - drei gänzlich unterschiedliche Jahrhunderte, die gleichzeitig auch drei ganz unterschiedlichen Welten angehören.

Im ...

In „Zum Paradies“ nahm Hanya Yanagihara mich mit in die Jahre 1893, 1993 und 2093 - drei gänzlich unterschiedliche Jahrhunderte, die gleichzeitig auch drei ganz unterschiedlichen Welten angehören.

Im Jahr 1893 gehört New York zu den Freistaaten, in denen man im Gegensatz zu den Kolonien heiraten kann, wen man will. David Bingham entstammt einer reichen, angesehenen Familie und hat seinen Großvater, mit dem er in einem Haus am Washington Square lebt, gebeten, eine Ehe für ihn zu arrangieren. Der deutlich ältere Charles Griffith ist der erste Kandidat, der Davids Sympathien gewinnen kann. Doch dann lernt David den mittellosen Edward Bishop kennen. Eine Ehe so weit unter Stand würde sein Großvater niemals gutheißen, sodass David in ein Dilemma gerät.

Auch im Jahr 1993 lernte ich einen David Bingham kennen. Dieser führt eine Beziehung mit Charles Griffith, der in einem Haus am Washington Square lebt. In der Gegenwart von Charles’ reichen Freunden fühlt er sich oft wie ein Fremdkörper. Wie viele seiner Freunde leidet Charles außerdem unter einer nicht benannten Krankheit, bei der es sich vermutlich um AIDS oder - da wir uns in einer Welt befinden, die nicht ganz die unsere ist - etwas ganz ähnliches handelt. Charles’ Ex-Freund Peter hingegen ist an Krebs erkrankt und verbringt einen letzten Abend in der Gesellschaft seiner Freunde, bevor er in der Schweiz aktive Sterbehilfe in Anspruch nehmen wird. Außerdem hat David einen Brief seines Vaters bekommen, in dem dieser ihm seine Lebensgeschichte erzählt.

In der Welt des Jahres 2093 lebt Charlie mit ihrem Ehemann in einer von acht Parteien im Haus am Washington Square, in dem sie als Kind allein mit ihrem Großvater lebte. Zahlreiche Krankheiten, Katastrophen und der Klimawandel haben in den letzten Jahrzehnten gewütet und das gesellschaftliche Leben in New York hat sich stark verändert. Alles ist stark reglementiert und es herrscht Ressourcenknappheit. In Briefen, die ein Charles Griffith von 2043 bis 2088 an einen Peter schreibt, erfuhr ich einiges darüber, wie es so weit kommen konnte.

Die offensichtlichste Gemeinsamkeit aller drei Teile sind die sich wiederholenden Namen, wobei sich die gleichnamigen Charaktere in Sachen Herkunft und Persönlichkeit sehr unterscheiden. Das Haus am Washington Square spielt immer wieder eine Rolle und es gibt viele Themen und Motive, die in den verschiedenen Geschichten immer wieder auftauchen. Diese verbindenden Elemente halten die drei ansonsten völlig unterschiedlichen Geschichten zusammen.

„Zum Paradies“ nimmt familiäre Strukturen und Spannungen unter die Lupe, erwiderte und unerwiderte Liebe und Fragen der Abstammung, des Standes des eigenen Vermächtnisses. Die gesellschaftlichen Strukturen der drei unterschiedlichen Welten erschließen sich beim Lesen schrittweise und vieles wird nur angedeutet. Die Charaktere lassen häufig ihre Gedanken schweifen, reflektieren ihr Leben und ihre Lebensgeschichte.

Für mich zog sich das Buch an vielen Stellen in die Länge und es passierte nicht genug, um meine Neugier über so viele Seiten zu erhalten. Gleichzeitig fiel es mir schwer, zu den Charakteren im Zentrum der jeweiligen Geschichten eine Verbindung aufzubauen. Erst der dritte Teil, der etwa auf der Hälte des Buches beginnt, konnte mein Interesse wieder wecken. Das hier beschriebene, dystopische Szenario stimmt vor dem Hintergrund der aktuellen Pandemie nachdenklich im Hinblick auf die Frage, wie viele Parallelen es wohl zu unserer Welt im Jahr 2093 geben wird. Die Ideen der Autorin hinsichtlich des Aufbaus des Buches und der von ihr aufgegriffenen Themen und Motive haben mir gefallen, die Umsetzung konnte mich jedoch nur mäßig überzeugen.

Veröffentlicht am 03.01.2022

Schokolade und Umweltverschmutzung

Unser kostbares Leben
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In Mainhaim in Hessen riecht es zu Beginn der 70er Jahre entweder nach Schokolade oder nach Chemie, je nachdem, welchen Fabrikduft der Wind gerade in die Stadt trägt. Die besten Freundinnen Caro und Minka ...

In Mainhaim in Hessen riecht es zu Beginn der 70er Jahre entweder nach Schokolade oder nach Chemie, je nachdem, welchen Fabrikduft der Wind gerade in die Stadt trägt. Die besten Freundinnen Caro und Minka verbringen ihre Tage am liebsten im nahegelegenen Schwimmbad, bis dort ein Klassenkamerad schwer verunglückt. Während sich Caro vor allem fürs Schreiben interessiert, beginnt Minka, sich politisch zu engagieren. Beide möchten auf die Tierquälerei aufmerksam machen, die im Namen der Wissenschaft in einem Gebäude am Stadtrand passiert. Im selben Alter wie die beiden ist Claire, die aus dem Vietnam kommt und im ansässigen Kinderheim lebt. Dort werden täglich Medikamente an die Kinder verteilt. Dient das wirklich deren Gesundheit?

Die Geschichte beginnt am 27. April 1972 und stellte mir als Leserin die zehnjährigen Mädchen Caro und Minka vor. Sie sind beste Freundinnen und die Grundstücke ihrer Familien grenzen aneinander, politisch stehen ihre Väter jedoch auf unterschiedlichen Seiten. Caros Vater ist der Generaldirektor der ansässigen Schokoladenfaktik und treuer CDU-Anhänger, während Minkas Vater SPD-Mitglied und Bürgermeister ist. Das anstehende Misstrauensvotum gegen Willy Brandt sorgt für angespannte Stimmung in den Familien. Caro und Minka verstehen noch nicht alle Details von dem, was vor sich geht. Sie verbringen einen unbeschwerten Nachmittag im Schwimmbad, bis es zu einem tragischen Unfall kommt.

Neben Caro und Minka wird Claire als dritte Protagonistin eingeführt. Sie ist eine Waise aus dem Vietnam und gerade im Kinderheim der Stadt eingetroffen. Mit ihrer hohen Intelligenz beeindruckt sie ihr Umfeld und lernt in kurzer Zeit die deutsche Sprache. Warum sie sich nach Einnahme der Medikamente, die für ihre Gesundheit sorgen sollen, immer so komisch fühlt, versteht sie jedoch nicht. Die Geschichte springt zwischen den drei Mädchen hin und her, wobei ein allwissender Erzähler die Erlebnisse der Kinder in einen Kontext setzt. Hinzu kommen Kapitel, in denen ich die Eltern oder weitere wichtige Bewohner Mainhaims begleitete, um Einblicke zu erhalten, was in der Stadt vor sich geht.

Der Schreibstil von Katharina Fuchs ist lebhaft und detailreich. Das Lebensgefühl der 70er und beginnenden 80er Jahre wurde gelungen eingefangen: Das Alltagsleben, die Rivalität zwischen CDU und SPD und das aufkeimende Interesse für Tier- und Umweltschutz. Die Autorin hat hier nach eigener Aussage viele persönliche Erfahrungen einfließen lassen - ihr Vater war beispielsweise Direktor einer Schokoladenfabrik - und damit authentische Einblicke geschaffen. In Summe fand ich das Buch aber zu ausschweifend, für mich hätte es 100-200 Seiten kürzer sein dürfen. Den Fokus auf zwei Protagonistinnen in den vorherigen Büchern fand ich besser, durch die Aufstockung auf drei in diesem Buch und die zahlreichen Nebencharaktere habe ich mich den einzelnen Charakteren weniger nah gefühlt.

Mit „Unser kostbares Leben“ hat Katharina Fuchs einen Roman geschrieben, der umfassende Einblicke in die Zeit von 1972 bis 1980 aus der Sicht von drei Teenagern gibt und einen Schwerpunkt auf die politische Situation, Menschenrechtsverletzungen und die beginnende Umweltbewegung legt. Gerne empfehle ich das Buch an alle Leser:innen weiter, die Lust haben, in diese Zeit einzutauchen.