Profilbild von Nabura

Nabura

Lesejury Star
offline

Nabura ist Mitglied der Lesejury

Melde dich in der Lesejury an, um dich mit Nabura über deine Lieblingsbücher auszutauschen.

Anmelden

Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.10.2018

Wilkommen im Slough House bei den Slow Horses

Slow Horses
0

Slough House, das ist das Abstellgleis für MI5-Agenten, die aus irgendeinem Grund ihre Karriere vermasselt haben. River Cartwright ist einer der Slow Horses, die so unspannende Dinge tun wie Unterlagen ...

Slough House, das ist das Abstellgleis für MI5-Agenten, die aus irgendeinem Grund ihre Karriere vermasselt haben. River Cartwright ist einer der Slow Horses, die so unspannende Dinge tun wie Unterlagen auf der Suche nach verdächtigen Zusammenhängen zu durchforsten. Er ist fest davon überzeugt, nur bei der Truppe gelandet zu sein, weil man ihn hereingelegt hat. Als ein pakistanischer Jugendlicher entführt wird mit der Drohung, ihn nach achtundvierzig Stunden zu enthaupten, wittern die Slow Horses ihre Chance auf Ruhm und Rehabilitation. Durch ihre Nachforschungen stolpern sie mitten hinein in ein gefährliches Netz aus Lügen und Fanatismus.

Die Slough House-Reihe von Mick Herron umfasst im englischen Original bereits fünf Bände – jetzt ist der erste Teil der Agentenserie auch auf Deutsch verfügbar. Im ersten Kapitel lernt man River Cartwright und seine Geschichte kennen, die ihn zu den Slow Horses gebracht hat. Er ist bei seiner Aufstiegsprüfung beim MI5 ist spektakulär gescheitert. Immer wieder durchlebt er die fatalen Momente und ist sich sicher, dass alles nur passiert ist, weil ein Kollege ihm falsche Informationen hat zukommen lassen. Doch dafür gibt es keine Beweise, und so sitzt er wie die anderen Slow Horses im Slough House fest.

Zu Beginn nimmt sich das Buch Zeit, die insgesamt acht Slow Horses und ihren Chef Jackson Lamb vorzustellen. Jeder von ihnen hat seine eigene Geschichte, die ihn an diesen Ort gebracht hat. Der IT-Spezialist Roderick Ho kennt sie alle bis auf zwei. Und während sich einige mit ihrem Dasein im Slough House abgefunden haben, wollen andere um jeden Preis wieder zurück in die MI5 Zentrale am Regent’s Park. Die Ausführlichkeit, mit der die Charaktere vorgestellt werden, weckte den Eindruck, dass hier schon früh alles für eine mehrbändige Story vorbereitet wird. Es dauerte eine Weile, bis ich mir einen Überblick verschafft hatte und endlich Bewegung in die Sache kam.

Im Fall des entführten Jugendlichen, der die Nation vor die Bildschirme fesselt, wollen einige Slow Horses unbedingt mitmischen. Sie haben eine Idee, wo sie dazu ansetzen können. Doch damit bringen sie sich selbst mitten in die Schusslinie. Viele Charaktere verfolgen ihre eigene Agenda und sind bereit, dafür einiges in Kauf zu nehmen. Nach dem ruhigen Start nimmt die Geschichte zunehmend an Tempo auf.

Mir hat es Spaß gemacht, die Slow Horses zu begleiten. Sie sind keine glattgestriegelten Agenten, sondern haben alle ihre Macken und Eigenheiten. Trotzdem arbeiten sie nach wie vor für einen Zweig des MI5 und haben einiges auf dem Kasten. Deshalb laufen Dinge mal so richtig schief, und mal sind sie absolut in ihrem Element. Eine gelungene Mischung, die für unvorhersehbare Entwicklungen sorgt. Mit der Zeit wird immer klarer, was eigentlich hinter dem Fall steckt. Neue Erkenntnisse und Zwischenfälle lassen die Handlung wiederholt die Richtung wechseln, sodass ich bis zum spannenden Schluss neugierig blieb und schließlich Antworten auf alle drängenden Fragen erhielt.

In „Slow Horses“ lernt man die gleichnamige Truppe ausrangierter MI5-Agenten kennen, die hauptsächlich Aktenkram erledigen. Eine aufsehenerregende Entführung bringt einige von ihnen auf den Plan, durch eine Lösung des Falls ihren Ruf wieder herzustellen. Nach einem ruhigen Start mit einer ausführlichen Vorstellung der Charaktere konnte mich die Handlung zunehmend fesseln. Ein gelungener Reihenauftakt für alle, die Lust auf einen ganzen Haufen nicht so perfekter, aber ambitionierter Agenten in Aktion haben.

Veröffentlicht am 23.10.2018

Vom Hauptstadtzoo ins Zentrum der russischen Macht

Guten Morgen, Genosse Elefant
0

Der zwölfjährige Juri Zipit wohnt im Jahr 1954 mit seinem Vater, der als Tierarzt arbeitet, in einer Personalwohnung des Hauptstadtzoos in Moskau. Mit sechs Jahren hatte er einen schweren Unfall. Seither ...

Der zwölfjährige Juri Zipit wohnt im Jahr 1954 mit seinem Vater, der als Tierarzt arbeitet, in einer Personalwohnung des Hauptstadtzoos in Moskau. Mit sechs Jahren hatte er einen schweren Unfall. Seither vergisst er häufiger Dinge und hat gelegentlich Anfälle. Eines Abends wird sein Vater vom Geheimdienst abgeholt, um einen Patienten zu behandeln. Juri begleitet ihn als Assistent. Die Überraschung ist groß, als der Patient kein Tier ist, sondern der Stählerne höchstpersönlich, der überzeugt ist, dass alle Humanmediziner Verschwörer sind. Er ist von Juris liebem Gesicht und scheinbar einfachen Charakter so angetan, dass er ihn auf der Stelle zu seinem neuen Vorkoster ernennt. So erlebt Juri hautnah, was im Zentrum der russischen Macht vor sich geht.

Juri ist ein ganz besonderer Charakter, der sich dem Leser zu Beginn des Buches selbst vorstellt. Er lebt mit seinem Vater im Zoo und hat sich damit abgefunden, dass er seit seinem Unfall sechs Jahre zuvor oft Wörter oder Erinnerungen vergisst und an Epilepsie leidet. Denn gleichzeitig ist er sehr wissbegierig und kennt sich mit vielen Dingen aus, von denen seine Klassenkameraden keine Ahnung haben. Außerdem hat er ein liebes, stets lächelndes Gesicht, das dazu führt, dass ihm Fremde ständig vertrauliche Dinge erzählen, die er gar nicht hören will. Seine Mutter war Ärztin und einfach verschwunden, als er fünf Jahre alt war. Auch sein Vater lebt in ständiger Angst, eines Tages abgeholt zu werden und hat Juri eingeschärft, im Ernstfall so wenig wie möglich zu sagen.

Als die Geheimpolizei Juri und seinen Vater eines abends tatsächlich mitnimmt, passiert das aus ganz anderen Gründen als erwartet. Sie werden zum kranken Stählernen geführt, der von Juris Vater begutachtet werden soll. Dessen Diagnose gefällt ihm nicht, doch Juri will er als Vorkoster behalten. So gerät Juri völlig unvorbereitet in ein Schlangennest, in dem alle einander hintergehen und ihre eigene Agenda verfolgen. Von seiner Arglosigkeit wollen verschiedene Personen profitieren und versuchen ihn für ihre persönlichen Zwecke einzuspannen.

Juri sieht und erlebt vieles, dass er nicht ganz versteht. Zu Beginn realisiert er nicht einmal, dass er tatsächlich für Stalin arbeitet. Von seinem neuen Umfeld als einfältig abgestempelt erlebt er als stummer Zuhörer manch streng geheime Szene mit. Seine erschreckenden Schilderungen machten mich als Leser betroffen und zeigen die Willkürlichkeit, mit der in totalitären Systemen Entscheidungen über Leben und Tod getroffen werden.

Das Leben als Vorkoster ist ein Tanz auf Messers Schneide, denn viele sind schon an Gift gestorben. Er schwebt in ständiger Gefahr und ist auf sich allein gestellt. Seine Erlebnisse als Vorkoster enthielten für mich jedoch zu viele wiederkehrende Beschreibungen von Saufgelagen und Schimpftiraden. Auf der anderen Seite gibt es viele skurrile Szenen, zum Beispiel bei der Vorführung amerikanischer Filme, die mich trotz der ernsten Gesamtsituation zum Schmunzeln brachten.

Bei „Guten Morgen, Genosse Elefant“ handelt es sich um eine fiktive Geschichte, welche vieles ganz bewusst überspitzt und es mit den historischen Fakten nicht immer so genau nimmt. Trotzdem vermittelt sie einen Eindruck davon, wie es im innersten politischen Kreis Russlands in der Zeit vor Stalins Tod zugegangen sein könnte, wo niemand dem anderen traut und niemand sich in Sicherheit wägen kann. Juris Geschichte ist tragisch, sein Optimismus und seine kindliche Gutgläubigkeit rührend. Ich empfehle diese ungewöhnliche, dramatische Geschichte mit vielen satirischen Elementen sehr gerne weiter!

Veröffentlicht am 23.10.2018

Spinster Girl sein jetzt, sich für niemanden zu ändern und seine Meinung zu sagen

Spinster Girls – Was ist schon normal?
0

Endlich geht Evie aufs College, wo sie einen ganz normalen Neuanfang wagen kann. Sie möchte tolle Freundinnen haben und sich verlieben, ohne dass jemand von ihrer Zwangserkrankung weiß, in deren schlimmster ...

Endlich geht Evie aufs College, wo sie einen ganz normalen Neuanfang wagen kann. Sie möchte tolle Freundinnen haben und sich verlieben, ohne dass jemand von ihrer Zwangserkrankung weiß, in deren schlimmster Phase sie das Haus für acht Wochen nicht verlassen hat. Jetzt ist sie zwar noch in Therapie, hat die Krankheit aber ganz gut im Griff. Ihr erstes Date stellt sich leider als Vollkatastrophe heraus, und der zweite Kandidat scheint noch verrückter zu sein als sie. Evie und ihre neuen Freundinnen Lottie und Amber ernennen sich zu Spinster Girls: Sie sind fest entschlossen, sich für Jungs nicht zu ändern und möchten bei ihren Clubtreffen über feministische Themen sprechen. Jungs bleiben natürlich ebenfalls Thema – und die stellen Evies Leben bald ganz schön auf den Kopf.

In diesem ersten Band der Spinster Girls Trilogie begleitet der Leser Evie bei ihrer ersten Zeit auf dem College. Für sie ist das eine große Sache, denn dort weiß kaum jemand von ihrer Zwangserkrankung. Eine Ausnahme ist ihre ehemals beste Freundin Jane, doch klebt nur noch an ihrem Freund, hat ihren Stil für ihn komplett verändert und für nichts anderes mehr Zeit. Evie ist fest entschlossen, nun ein Leben zu führen, dass so „normal“ ist wie das aller anderen.

Ich fühlte mich Evie schnell nahe, denn sie lässt den Leser intensiv an ihren Gedanken teilhaben. Immer wieder sind es Ausschnitte aus ihrem Genesungstagebuch abgedruckt, in welchem sie ihre Gedanken festhält und Hausaufgaben von ihrer Therapeutin notiert sind, an denen sie arbeiten soll. Außerdem sind ihre unguten Gedanken, die durch die Erkrankung entstehen, hervorgehoben. So wird begreiflich gemacht, zu welchen Handlungen sie durch diese getrieben wird. Dadurch wird greifbar gemacht, was es heißt, mit einer Zwangserkrankung zu leben. Das klingt bedrückend, ist es aber nicht. Evie erzählt unterhaltsam aus ihrem Leben, der Ton ist locker und frech. Es gibt immer wieder ernstere Momente, durch welche die Atmosphäre jedoch nicht kippt. Denn Evie ist eine Kämpferin, die vor ihrer Krankheit nicht mehr so leicht kapitulieren will.

Die beiden weiteren großen Themen des Buchs sind Jungs und Feminismus. Durch die Gründung des Clubs der Spinster Girls werden die Themen gelungen kombiniert. In Lottie und Amber findet Evie zwei tolle neue Freundinnen, mit denen sie über vieles reden kann. Nur über ihre Erkrankung will sie mit ihnen nicht sprechen. Dafür tauschen sie sich intensiv über Jungs aus und erinnern sich gleichzeitig gegenseitig an die Clubregeln, die besagen, dass man sich bei aller Verliebtheit selbst treu bleiben muss. Evies erste Dating-Erfahrungen sind schräg und zeigen, was in ihrem Alter so passieren kann. Bei den Clubtreffen kommen auch feministische Themen nicht zu kurz und geben dem Leser kleine Einblicke in unterschiedliche Aspekte des Feminismus.

„Spinster Girls: Was ist schon normal?“ ist eine kurzweilige Lektüre, die gelungen Einblicke in das Leben von Evie gibt, die an einer Zwangserkrankung leidet, diese aber nicht über ihr Leben bestimmen lassen will. Am College findet sie neue Freundinnen, mit denen sie über ihre ersten Dating-Erfahrungen und feministische Themen reden kann. Der Tonfall ist meist locker, doch nicht alles läuft nach Plan, sodass es auch bedrückende Momente gibt. Ich empfehle das Buch gern an jugendliche Leser weiter!

Veröffentlicht am 31.08.2018

Der unerwartete Weg der Rachel Childs

Der Abgrund in dir
0

Rachel Childs ist eine aufstrebende Reporterin mit einem tollen Partner und einer schönen Wohnung. Doch eine Sache lässt sie nicht los: Sie will herausfinden, wer ihr Vater ist. Ihre verstorbene Mutter ...

Rachel Childs ist eine aufstrebende Reporterin mit einem tollen Partner und einer schönen Wohnung. Doch eine Sache lässt sie nicht los: Sie will herausfinden, wer ihr Vater ist. Ihre verstorbene Mutter hat ihr jedoch kaum Informationen hinterlassen, sodass der angeheuerte Privatdetektiv Brian Delacroix die Suche von Beginn an als eher aussichtslos beschreibt. Schließlich erhält sie die große Chance für ihre Reporter-Karriere. Doch ein Moment ändert alles und Rachels bisheriges Leben zerbricht. Ein Mann baut sie schließlich Stück für Stück wieder auf. Doch was weiß sie wirklich über ihn?

Zu Beginn des Buches lernt man Rachel als beruflich erfolgreiche Frau kennen, welche die Suche nach ihrem Vater nicht loslässt. Ihre promovierte Mutter hat einen berühmten Beziehungsratgeber geschrieben und konnte trotzdem ihr ganzes Leben lang keine stabile Partnerschaft aufbauen. Bis zu ihrem Tod hat sie Rachel immer wieder versprochen, das Geheimnis um ihren Vater zu lüften, tat das aber nicht bis zu ihrem Tod bei einem Verkehrsunfall. Jetzt will Rachel endlich Antworten, weshalb sie sich an einen Privatdetektiv wendet.

Die Geschichte nimmt sich viel Zeit, die Jugend von Rachel, ihre Suche nach ihrem Vater und die Arbeit an ihrer Karriere zu beschreiben. Der Autor schreibt kurzweilig und als Leser versteht man immer besser, wie Rachel tickt. Gleichzeitig fragte ich mich, wohin die Geschichte sich entwickeln wird. Der ruhige Erzählton machte mich argwöhnisch – wann kommt die angekündigte Verschwörung wohl ins Rollen? Doch bis dahin soll noch einige Zeit vergehen.

Bald kommt es dennoch zu einem ersten Bruch: Rachels fast perfektes Leben fällt wie ein Kartenhaus zusammen. Wie es dazu kommen konnte wird durch die ausführliche Vorgeschichte nachvollziehbar gemacht, der Moment hat mich trotzdem ein wenig überraschend. Wie kann es nun für sie weitergehen? Als sie Monate später einen alten Bekannten trifft, schöpft sie neue Hoffnung, doch den Weg zurück ins normale Leben findet sie nicht. Sie arrangiert sich in ihrem kleinen Schneckenhaus und schirmt sich von der Außenwelt ab.

Den Moment des Twists fand ich schließlich äußerst gelungen. Als Leser weiß man zuerst nicht, ob nun wirklich etwas Großes passiert oder es nur eine geschickt platzierte Verwirrung ist. Doch im Nu ist man schon mittendrin und plötzlich ist das Buch wie ausgetauscht: Actionreich, temporeich und spannend. Wie auch Rachel weiß der Leser kaum, wie ihm geschieht. Man fetzt durch die Seiten auf der Suche nach Antworten, und endlich ergibt auch der Prolog Sinn. Doch die Antworten, die man erhält, werfen weitere Fragen auf.

Wem kann man noch vertrauen? Nach dem ziemlich langen Vorlauf bekam ich endlich die Story, auf die ich gewartet habe. Dramatische Szenen und unerwartete Wendungen ließen mich bis zum Schluss neugierig weiterlesen. Wer bereit ist, ruhig zu starten und die Entwicklung der Protagonistin über einige Jahre zu begleiten, um sie besser kennenzulernen, der wird schließlich mit gelungenen Wendungen und einer actionreichen Verschwörungsgeschichte belohnt!

Veröffentlicht am 21.08.2018

Eine Gesellschaft, die Frauen zurück an den Herd drängt – mit nur 100 Wörtern pro Tag

Vox
0

In Amerika ist die „Bewegung der Reinen“ an die Macht gekommen. In kurzer Zeit hat die erzkonservative Bewegung die Frauen aus sämtlichen Machtpositionen gedrängt und sie schließlich vollständig unterdrückt: ...

In Amerika ist die „Bewegung der Reinen“ an die Macht gekommen. In kurzer Zeit hat die erzkonservative Bewegung die Frauen aus sämtlichen Machtpositionen gedrängt und sie schließlich vollständig unterdrückt: Die Pässe wurden ihnen weggenommen und sie werden gezwungen, Wortzähler zu tragen, mit denen sie nur 100 Wörter pro Tag sprechen können. Jean war früher kognitive Linguistin. Sie stand kurz vor einem Durchbruch in ihrer Forschung rund um die Heilung der Wernicke-Aphasie, einer Sprachstörung. Jetzt bleibt ihr nur noch die Versorgung ihres Manns und ihrer vier Kinder und jede Menge Wut, für die sie kein Ventil hat. Doch dann verunglückt der Bruder des Präsidenten - und ausgerechnet Jean soll helfen…

Die Ausgangslage dieser dystopischen Geschichte ist erschreckend: Eine erzkonservative Bewegung hat das Land fest im Griff und Frauen nicht nur aus der Öffentlichkeit zurückgedrängt, sondern sie nahezu mundtot gemacht. Wie konnte das passieren, und wie reagieren die Betroffenen und Nicht-Betroffenen darauf? Erzählt wird die Geschichte von Jean, die wie alle Frauen zum Opfer geworden ist und weiß, dass sie zu wenig getan hat, um all das aufzuhalten. Während ihre frühere Mitbewohnerin Jackie jahrelang Proteste organisierte, hielt sie sich zurück, ging nicht einmal wählen. Nun ist es zu spät, um etwas zu sagen, denn die hundert Worte am Tag müssen sorgfältig ausgewählt werden. Besonders schmerzt es sie zu sehen, wie Sonia, ihr jüngstes Kind und einziges Mädchen, aufwächst. Mit ihren Kenntnissen hat Jean sie gezielt konditioniert, sodass Sonia weit weniger als hundert Wörter täglich sagt, um möglichst weit weg zu bleiben von dieser gefährlichen Grenze, dessen Überschreiten starke Stromstöße zur Folge hat.

Immer wieder werden kurze Rückblicke eingeschoben, die dem Leser verständlich machen, wie es so schnell dazu kam, dass die „Bewegung der Reinen“ die Macht übernommen hat. Das Gedankengut der Bewegung weist Ähnlichkeiten zu dem realer erzkonservativer Bewegungen auf, die eingesetzten Methoden erinnern an den Nationalsozialismus. Frauen gehören an den Herd und jeder soll möglichst schnell eine Familie gründen. Wer nicht spurt, der wird mit einem Wortkontingent von Null ins Lager gesteckt. Mit Entsetzten liest man sich durch die Seiten. Dabei wird stark auf die emotionale Tube gedrückt, während die Handlung kaum voranschreitet.

Durch den Unfall des Präsidentenbruders kommt schließlich mehr Schwung in die Geschichte, denn plötzlich braucht man Jeans Wissen. Endlich hat sie eine Chance, aus ihrem bisherigen Handlungsmuster auszubrechen. Man lernt einige neue Charaktere kennen und erfährt Geheimnisse, die Jean sorgfältig hütet. Ihr Auftrag bringt sie in ein Dilemma und ich war neugierig, wie sie sich entscheiden wird. Gleichzeitig kommt es in ihrem Umfeld zu erschütternden Zwischenfällen, die durch die Bewegung der Reinen verursacht werden. Bei all dem hat mich vor allem eine Sache wirklich gestört: Zwar wird immer gesagt, dass die Bewegung der Reinen das ganze Land kontrolliert, doch das Beziehungsgeflecht wirkt so krampfhaft konstruiert, dass Amerika ein Dorf zu sein scheint. Ihr Mann arbeitet für den Präsidenten, Jean forscht genau an der Krankheit, die den Präsidentenbruder ereilt, ihre ehemalige Mitbewohnerin war die Wortführerin der Rebellion, die Nachbarin landet nach einem Fehltritt sofort im Fernsehen und so weiter. Zum Ende hin wird schließlich auf sich überschlagende, actionreiche Ereignisse gesetzt, bei denen ich irgendwann den Überblick verloren habe, was nun zum Plan gehört und was nicht.

„Vox“ sendet mit der Geschichte von Jean die wichtige Botschaft, das man sich fortlaufend stark machen sollte gegen jede Art von Unterdrückung. Die Umsetzung war für mich jedoch nicht mehr als Mittelmaß. Zu sehr wird auf schockierende und emotionale Szenen gesetzt, zu wenig auf einen authentischen Handlungsverlauf, der das große Ganze im Blick hält.