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Veröffentlicht am 18.04.2023

Sehr gute Kolumnensammlung

Habibitus
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Von 2016 bis 2022 war Hengameh Yaghoobifarahs Kolumne „Habibitus“ in der taz zu lesen. Nun ist bei Blumenbar eine Ausgabe von über 120 dieser Texte erschienen. „Habibitus“, das ist zunächst eine Zusammensetzung ...

Von 2016 bis 2022 war Hengameh Yaghoobifarahs Kolumne „Habibitus“ in der taz zu lesen. Nun ist bei Blumenbar eine Ausgabe von über 120 dieser Texte erschienen. „Habibitus“, das ist zunächst eine Zusammensetzung aus dem Habitus-Begriff von Bourdieu (Habitus als Auftreten einer Person aufgrund bestimmter Einflüsse und Faktoren) und dem arabischen „habibi“, was „Liebling“ bedeutet. Und dieser Kolumnenname ist eigentlich schon Programm, aber dazu später.

Die Sammlung beginnt mit einem Vorwort von Fatma Aydemir. Mit ihr gab Hengameh Yaghoobifarah übrigens den Essayband „Eure Heimat ist unser Albtraum“ heraus, den ich in diesem Kontext sehr als ergänzende Lektüre empfehlen kann. (Ebenso wie Yaghoobifarahs Debütroman „Ministerium der Träume“.) Aydemir beschreibt treffend den Witz der Kolumne, eine Art liebevollen Spott, der jedoch immer auch einen ernsten Hintergrund hat; sie nennt als Kontext der Kolumnen die Allgegenwärtigkeit rechter Gewalt, seien es die Anschläge von Halle und Hanau, der Einzug der AfD in den Bundestag oder die NSU-Prozesse. Yaghoobifarahs Humor dient also auch als Bewältigungsstrategie.

Das Buch ist in insgesamt 9 Unterthemen eingeteilt, zum Beispiel über das Leben in Deutschland, Astrologie oder Körperbilder, immer wieder verwischen aber auch die Grenzen. Es ist besonders der Rassismus, den Yaghoobifarah hier entlarvt. Wenn Menschen beispielsweise mehr Anteil daran nehmen, wenn NS-Symbole von einer Kirchenglocke entfernt werden, als es befremdlich zu finden, wenn eine rechtsextremistische Mordserie als „Dönermorde“ bezeichnet wird. Oder wenn Anschläge nur furchtbar zu sein scheinen, wenn sie auf Weihnachtsmärkten geschehen, nicht aber, wenn der Tatort ein Kiosk oder eine Shisha Bar ist. Hier legt Yaghoobifarah den Finger tief in die Wunde. Auf andere Kolumnen, z.B. zu Polizeigewalt, folgten sogar Strafanzeigen, Morddrohungen und Stalking. Dabei werden hier keine Einzelpersonen, sondern ein ganzes System kritisiert; stets nach oben getreten, nicht nach unten.

Es ist nicht einfach, in Deutschland witzig zu sein, sagt Fatma Aydemir in ihrem Vorwort. Hengameh Yaghoobifarah gelingt es dennoch vortrefflich. Deutsche Eigenheiten werden so herrlich eingefangen, Patriarchat und Kapitalismus auf die Schippe genommen. Und manchmal spricht Yaghoobifarah einem selbst mitten aus der Seele. Im Nachwort folgt dann auch noch einmal ein kritischer Blick: auf die eigenen Texte, die erhaltenen Reaktionen und die Grenzen der Kolumne an sich. Und das wäre auch mein kleiner Kritikpunkt: Als einzelner Text wirken diese umso stärker und stehen für sich allein. Als thematische Aneinanderreihung ergeben sich oft Wiederholungen und der Effekt der Kolumnen nutzt sich ab. Dennoch: Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 17.04.2023

Die finanzielle (Un-)Abhängigkeit von Frauen

3000 Yen fürs Glück
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Wie jemand 3000 Yen (ca. 20 Euro) verwendet, das sei entscheidend für das ganze Leben; zumindest Mihos Großmutter Kotoko zufolge. Von ihr lernt sie den Grundgedanken des Sparens, aber seitdem hat sie nicht ...

Wie jemand 3000 Yen (ca. 20 Euro) verwendet, das sei entscheidend für das ganze Leben; zumindest Mihos Großmutter Kotoko zufolge. Von ihr lernt sie den Grundgedanken des Sparens, aber seitdem hat sie nicht allzu sehr auf ihre Finanzen geachtet. Ähnlich geht es ihrer Mutter Tomoko, Mihos Schwester Maho hingegen scheint eine wahre Expertin zu sein. Doch ganz unterschiedliche Ereignisse zwingen die vier Frauen dazu, ihr Verhältnis zum Geld und auch ihren Platz in der Gesellschaft zu überdenken.

In „3000 Yen fürs Glück“ erzählt Hika Harada die Geschichte von vier unterschiedlichen Frauen aus drei Generationen. Im Fokus steht immer eine von ihnen, in der dritten Person und der Vergangenheitsform. Nur einmal kommt noch eine andere Person zu Wort, aber dazu später mehr. Übersetzt wurde der Roman gekonnt von Cheyenne Dreißigacker, der es gelingt, den unterschiedlichen Ton der Charaktere einzufangen.

Zunächst steht natürlich das Sparen im Mittelpunkt. Jede der Frauen hat ihre eigene Motivation, damit zu beginnen. Rentnerin Tomoko hat Angst, ihre Ersparnisse aufzubrauchen und ihre Kinder irgendwann nicht mehr unterstützen zu können. Ihre Schwiegertochter Tomoko verwaltet zwar die Finanzen der Familie, ist aber ansonsten völlig von ihrem Ehemann abhängig. Miho lebt im Moment über ihre Verhältnisse, während ihre Schwester Maho versucht, mit ihren reichen Freundinnen mitzuhalten. Es geht also neben dem Thema Altersarmut auch um die Stellung der Frau in der japanischen Gesellschaft, ihrer Abhängigkeit vom Gehalt des Ehemanns, dem Umgang mit ihr in der Arbeitswelt und dem immer noch starren Bild von der klassischen Rollenverteilung.

In Bezug auf die genannten Themen erscheint es umso unverständlicher, dass die Autorin in einer der Perspektiven auch einen Mann zu Wort kommen lässt. Dieser ist kein Familienmitglied, sondern nur ein flüchtiger Bekannter der Großmutter. Sein Handlungsstrang trägt nichts Neues bei, er verstärkt nur noch bereits bestehende Konflikte und Klischees. Warum dann nicht eine bereits eingeführte männliche Figur zu Wort kommen lassen? Ansonsten ein gelungener Roman über ein wichtiges Thema.

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Veröffentlicht am 16.04.2023

Kinderkriegen in der Klimakrise?

Eva
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Ist es in einer Welt mit all den Herausforderungen und Ängsten, die die Klimakrise mit sich bringt, eigentlich noch verantwortungsvoll, Kinder in die Welt zu setzen? Diese Frage beleuchtet Verena Keßler ...

Ist es in einer Welt mit all den Herausforderungen und Ängsten, die die Klimakrise mit sich bringt, eigentlich noch verantwortungsvoll, Kinder in die Welt zu setzen? Diese Frage beleuchtet Verena Keßler in ihrem zweiten Roman „Eva“ und zeigt uns ganz unterschiedliche Perspektiven von vier ganz unterschiedlichen Frauen. Je Abschnitt folgen wir somit einer Figur, aus deren Sicht die Handlung erzählt wird. Dabei sind, interessanterweise, drei davon in der Ich-Form geschrieben, nur das Kapitel über die Titel gebende Eva ist in der Sie-Form verfasst, was eine gewisse Distanz zu ihr schafft.

Eva und ihre Haltung zum Kinderkriegen in der Klimakrise sind der Dreh- und Angelpunkt der Geschichte. Für ihre sachlich-wissenschaftliche Betrachtung wird sie (hauptsächlich anonym im Internet) angefeindet, bedroht und muss sogar ihren Job als Lehrerin aufgeben. Denn wer darüber spricht, dass in all den Debatten über Emissionen und globale Erwärmung nie das Thema Kinder vorkommt, der muss doch Kinder hassen, oder? Dabei zeigt sich in ihrem Abschnitt der Handlung, dass sie ganz vorzüglich mit Kindern umgehen kann, aber eben auch in der Lage ist, ein emotionale Sache von allen Seiten zu betrachten.

Die weiteren Charaktere gruppieren sich alle um Eva herum. Da ist zunächst Sina, die sie als Journalistin interviewt und mit einem unfairen Aufhänger (Evas Hund) dafür sorgt, dass der Shitstorm gegen sie befeuert wird. Im Privaten versuchen Sina und ihr Freund schon seit Jahren, ein Kind zu bekommen, aber inzwischen weiß sie nicht mehr, ob sie das eigentlich noch will. Ihre Schwester Mona ist hingegen bereits Mutter dreier Kinder. Auf ihr lastet der gesamte Alltagsdruck, der sich in einem gemeinsamen Urlaub auf fatale Weise entlädt. Die Identität der vierten Figur klärt sich nur langsam auf, hier beleuchtet die Autorin gekonnt das Thema Verlust.

Verena Keßler zeigt in vier emotionalen Abschnitten, welche Lebenswege und welche Sichtweisen es rund um den (nicht vorhandenen) Kinderwunsch gibt. Geschickt verwebt sie alle vier Handlungsstränge miteinander, ohne zu bewerten oder zu verurteilen. Unbedingt lesen!

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Veröffentlicht am 12.04.2023

Eine gefundene Familie

Das dritte Licht
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Irland in den 80er Jahren. An einem Sonntagmorgen wird ein junges Mädchen zu entfernten Verwandten gebracht. Ihre Mutter steht kurz vor der Geburt, weitere Geschwister warten zuhause. Die kinderlosen Kinsellas ...

Irland in den 80er Jahren. An einem Sonntagmorgen wird ein junges Mädchen zu entfernten Verwandten gebracht. Ihre Mutter steht kurz vor der Geburt, weitere Geschwister warten zuhause. Die kinderlosen Kinsellas sollen die Kleine bei sich behalten, „so lange sie wollen“ und sie bei der Arbeit auf dem Hof einsetzen. Zunächst bleibt das Mädchen schüchtern und zurückhaltend; sie weiß nicht, was sie von diesen neuen Menschen zu erwarten hat. Doch dann erlebt sie so glückliche und unbeschwerte Tage wie noch nie zuvor – aber auch diese Familie hat ein trauriges Geheimnis.

„Das dritte Licht“ ist eine Erzählung (oder ein kurzer Roman) der Irin Claire Keegan. Ursprünglich im Jahr 2013 auf Deutsch erschienen, handelt es sich hier um eine von der Autorin überarbeitete Neuausgabe, übersetzt wurden beide Versionen von Hans-Christian Oeser. Die Geschichte wird von der namenlosen Protagonistin in der Ich-Perspektive und der Gegenwartsform erzählt. Dem Alter des Mädchens entsprechend erhalten wir so einen naiven, aber ungetrübten Blick auf die Ereignisse.

Im Verlauf der Handlung geben die Figuren immer mehr über sich preis. Die Familie der Protagonistin hat kaum Geld, da der Vater es stets verspielt. Um ihre vielen Kinder kümmert die Mutter sich nur notdürftig und mit wenig Geduld. Es ist traurig, mitanzusehen, wie das Mädchen bei den Kinsellas zu Beginn jeden Moment damit rechnet, für irgendetwas bestraft zu werden. Das Ehepaar hingegen präsentiert sich bodenständig und ruhig, beide bringen der Kleinen echte Zuneigung entgegen. So entsteht ein starker Kontrast zwischen einer Familie, die ihre Kinder nicht zu schätzen weiß und einer anderen, die sich wünscht, sie hätte eigene.

„Das dritte Licht“ umfasst nur etwa 100 Seiten, aber auf diesen findet sich so viel Schmerz und gleichzeitig Hoffnung auf ein anderes, ein besseres, ein weniger einsames Leben. Und auch, wenn an sich nicht viel geschieht, entschädigt hierfür die wunderbare Sprache. Bei einem Spaziergang mit Kinsella am Meer sagt dieser zu seiner Pflegetochter: „Sieh mal, wo vorher nur zwei Lichter waren, sind jetzt drei.“ Eine tolle Metapher für diese gefundene Familie.

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Veröffentlicht am 06.04.2023

Der Kanon als Gewohnheitstier

Muss ich das gelesen haben?
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Alles fing mit YouTube-Videos über Literatur an – verständlich, witzig und so für alle zugänglich. Warum ist der Kanon eigentlich so männlich, weiß, hetero, christlich und able-bodied? Und weshalb soll ...

Alles fing mit YouTube-Videos über Literatur an – verständlich, witzig und so für alle zugänglich. Warum ist der Kanon eigentlich so männlich, weiß, hetero, christlich und able-bodied? Und weshalb soll ich überhaupt (Klassiker) lesen? Diese und viele andere Fragen beantwortet Kabarettistin und Autorin Teresa Reichl nun in ihrem Buch „Muss ich das gelesen haben?“ Dabei berichtet sie auch von den eigenen Erfahrungen im Germanistikstudium, wenn sie Lehrende mit einer von diesen Fragen konfrontierte und spricht so sicherlich vielen Jugendlichen aus der Seele, die mit der Auswahl der Literatur in der Schule hadern.

Nach einem Vorwort gibt es zunächst eine kurze Einführung in den Literaturbegriff. Anschließend beantwortet die Autorin die Frage, warum wir überhaupt lesen sollten; neben den positiven Auswirkungen auf unser Gehirn, steht hier die Entwicklung von Empathie für andere Perspektiven im Vordergrund. Zudem zeigt, so Reichl, klassische Literatur uns auf, wo wir als Gesellschaft herkommen und wie bestimmte -ismen (Rassismus, Sexismus, Klassismus etc.) immer weitertransportiert werden.

Das zweite Kapitel ist dann eine konsequente Fortsetzung, in dem sich Teresa Reichl damit beschäftigt, warum wir lesen, was wir lesen, warum bspw. Goethe und Schiller dabei so im Fokus stehen und warum der Kanon ein „Gewohnheitstier“ ist. Im letzten Abschnitt folgt schließlich der interessanteste Teil: Was sollen wir stattdessen lesen? Hier schlägt die Autorin Komödien, Literatur marginalisierter Autor*innen und neue Literaturformen vor.

„Muss ich das gelesen haben?“ ist in sehr lockerem Ton verfasst. Die Autorin, und eben auch Kabarettistin, schreibt, wie sie spricht und ergänzt ihren Text mit zahlreichen witzigen Fußnoten, die ich persönlich nicht gebraucht hätte. Zudem ist die Frage, welche Zielgruppe sich hier angesprochen fühlen soll. Jugendliche, die nicht lesen, erwartet hier eine wahre Textwand, die kaum Abschnitte und nur eine einzige Grafik hat. Geübte Leser und Lehrkräfte schreckt möglicherweise der Stil des Buches ab. Dennoch: ein wichtiges Thema, kurz und knackig präsentiert.

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