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Veröffentlicht am 30.09.2021

Einfach nur öde

Die nicht sterben
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Eine junge Frau kehrt nach dem Kunststudium aus Paris zurück in den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, das Dorf B. südlich von Transsylvanien. Auf dem Anwesen ihrer Großtante verbrachte sie einst die schönsten ...

Eine junge Frau kehrt nach dem Kunststudium aus Paris zurück in den Sehnsuchtsort ihrer Kindheit, das Dorf B. südlich von Transsylvanien. Auf dem Anwesen ihrer Großtante verbrachte sie einst die schönsten Sommer, doch heute scheint alles einen faden Beigeschmack von politischer Korruption und Verrat zu haben. Als dann auch noch Gerüchte über das Grab Vlad Tepes‘ auftauchen und in B. seltsame Dinge geschehen, wird das einst Geborgenheit schenkende Nest für die Protagonistin zum Alptraum.

In „Die nicht sterben“ erzählt die Schweizerin Dana Grigorcea von der Demaskierung einer vermeintlich wunderschönen Kindheit. Wir folgen dabei stets der namenlosen Ich-Erzählerin, welche die Handlung nach und nach offenbart und treffen auch gleich auf den ersten Makel des Romans: die ersten 100 Seiten passiert kaum etwas. Stattdessen schwadroniert die Protagonistin in blumigen, eher altmodisch wirkenden Worten über die Landschaft, das Dorf und die Menschen darin. Würde nicht der EU-Beitritt Ungarns erwähnt, hätte ich die das Geschehen deutlich früher verortet.

Es gibt durchaus Momente, in denen die Geschichte stark ist, so zum Beispiel, wenn über das Netz aus Bestechlichkeit gesprochen wird, welches der Bürgermeister über das Dorf gespannt hat. Oder wenn sich Großtante und Nichte gegenseitig einen gewissen Vampirroman vorlesen und ihn einfältig und peinlich finden. Doch leider kommen solche Passagen viel zu kurz. Stattdessen wird eine Vampirhandlung hinzugefügt, die nicht nur hanebüchen ist, sondern auch keinerlei neue Elemente enthält – im Prinzip haben wir eine Neuerzählung von „Dracula“ vor uns, gewürzt mit etwas Postkommunismus und Korruption.

Im Verlauf der Handlung verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Einbildung immer mehr, bis unklar ist, was eigentlich tatsächlich geschieht. Darüber hinaus stören auch die unzähligen, unübersetzten Redewendungen aus den unterschiedlichsten Sprachen. Mir ist klar, was damit ausgedrückt werden soll, aber wenn ich seitenlang ständig etwas nachschlagen müsste, dann ist es doch zu viel des Guten. Die Nominierung für die Longlist des Deutschen Buchpreises 2021 kann ich leider nicht nachvollziehen.

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Veröffentlicht am 30.09.2021

Schonungsloser Blick auf die Generation Y

Schöne Welt, wo bist du
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Alice und Eileen sind seit dem Studium beste Freundinnen. Während Alice eine erfolgreiche Schriftstellerin ist, weiß Eileen nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. In E-Mails tauschen sich ...

Alice und Eileen sind seit dem Studium beste Freundinnen. Während Alice eine erfolgreiche Schriftstellerin ist, weiß Eileen nicht so recht, was sie mit ihrem Leben anfangen soll. In E-Mails tauschen sich die beiden miteinander aus, auch über die Männer in ihrem Leben: Felix, den Alice kürzlich auf Tinder kennengelernt hat und Simon, in den Eileen schon seit ihrer Jugend verliebt ist. Die vier bilden ein seltsames Kleeblatt aus Beziehungsproblemen, gestörter Kommunikation und Klassenunterschieden – werden sie sich am Ende verlieren?

„Schöne Welt, wo bist du“ ist der dritte Roman aus der Feder von Sally Rooney. Wie bereits in „Gespräche mit Freunden“ stehen vier Personen im Fokus, zwei Frauen und zwei Männer. Die Geschichte folgt dabei hauptsächlich Alice und Eileen; mal wird die Handlung unmittelbar in der dritten Person erzählt, mal erfahren wir sie nur vermittelt aus den E-Mails der beiden Freundinnen. Die Autorin verwendet im Text für wörtliche Rede keine Anführungszeichen. Das kann durchaus verwirrend sein, aber man gewöhnt sich daran.

Auch thematisch gesehen knüpft Sally Rooney an ihre ersten beiden Bücher an. Vorrangig geht es sicher um Beziehungen – zwischen Partnern, aber auch zwischen Freunden. Alice und Eileen sind zwar miteinander verbunden, in ihren Mails wird jedoch deutlich, dass etwas im Argen liegt. Felix behandelt Alice rüde, ihn stört der Klassenunterschied enorm. Er schuftet in einer Fabrik, Schriftstellerei empfindet er nicht als Arbeit im klassischen Sinne. Eileen ihrerseits liebt Simon schon seit vielen Jahren, dennoch schaffen die beiden es nicht, den entscheidenden Schritt aufeinander zu zu machen.

Es ist seltsam mit Sally Rooneys Romanen. Ich lese sie gerne, aber bisher hat mich noch keines richtig begeistert und das ist auch hier wieder der Fall. Vielleicht kann ich die Generation dieser vier Charaktere nicht nachvollziehen, aber die meisten Probleme im Buch könnten mit ehrlicher Kommunikation ganz einfach beseitigt werden. Stattdessen wird geschwiegen, verletzt und sich theatralisch in Szene gesetzt, schade! Werde ich Sally Rooneys nächstes Buch trotzdem lesen? Aber sicher.

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Veröffentlicht am 27.09.2021

Wichtiges Thema

Wut und Böse
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Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein ...

Wut ist seit je her für die Geschlechter unterschiedlich besetzt; das beginnt schon als Kind. Während Jungs auch mal laut und aggressiv werden dürfen („Es sind eben Jungs“), sollen Mädchen „brav“ sein und ihre Wut unterdrücken. Diese von einander abweichende Bewertung setzt sich bis ins Erwachsenenalter fort: Wütende Männer sind stark und durchsetzungsfähig, wütende Frauen sind Zicken und hysterisch. Dabei haben Frauen auch heutzutage noch jede Menge Gründe, um eigentlich dauerhaft wütend zu sein – warum sind wir es nicht?

Diesem spannenden Thema widmet die Journalistin Ciani-Sophia Hoeder ihr erstes Sachbuch. Dabei verbindet sie auf gelungene Weise gesellschaftliche Betrachtungen mit historischen Rückblicken, faktischen Studien und persönlichen Erfahrungen. Zunächst klärt die Autorin den Begriff der Wut und seine Geschichte, schlägt dann den Bogen speziell zu weiblicher Wut und wagt am Ende den Ausblick, inwiefern Wut Veränderung schaffen kann und was eigentlich nach ihr kommt. Es fällt positiv auf, dass Hoeder dabei auch aktuelle Diskussionen und Entwicklungen einfließen lässt und einen intersektionalen Ansatz verfolgt.

Schon früh im Text wird deutlich: Männer sind nicht wütender als Frauen, sie bewerten Wut nur anders. Frauen geben oft an, sich eher traurig oder enttäuscht zu fühlen, einfach weil das gesellschaftlich viel akzeptierter ist. Dabei ist es die männliche Wut, die als Ursache zu Aggression wird und zu riskanten Verhalten und Gewalt (vor allem gegen Frauen!) führt. In einer heterosexuellen Ehe werden Männer älter, weil sie ein besseres, sicheres Leben führen, Frau hingegen sterben früher – ist das nicht bezeichnend?

Was können Frauen also tun? Die Wut für sich zurückfordern, sie „reclaimen“, sagt die Autorin; sie nicht länger unterdrücken, denn letztendlich macht genau das uns krank. Daher sollten wir stolz auf uns sein, wenn wir in einer Situation Wut empfinden und für uns selbst einstehen, um Gerechtigkeit zu erfahren. Wer bereits die einschlägige Literatur zur Ungleichbehandlung von Frauen kennt, für den ist vieles nicht neu, dennoch ist „Wut und Böse“ eine gelungene Zusammenfassung zu einem wichtigen Thema.

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Veröffentlicht am 22.09.2021

Die Abgründe Europas

Blaue Frau
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Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: ...

Eine junge Frau in einer Wohnung in Helsinki. Am Anfang wissen wir nur, dass sie auf der Flucht ist und unbedingt eine Aussage vor Gericht machen will. Wir wissen auch, dass sie nicht nur eine Namen hat: Nina. Sala. Adina. Der letzte Mohikaner – hinter jedem davon scheint ein völlig anderes Leben zu liegen.

Aufgewachsen ist die Protagonistin Adina in einem Dorf an der tschechisch-polnischen Grenze, das vom Skitourismus lebt. Dort ist sie der einzige Teenager und nennt sich im Internet daher „Der letzte Mohikaner“. Nina nennt sie ihr Chef bei einem Praktikum in der Uckermark, weil er sich ihren richtigen Namen nicht merken kann und will. Sala hingegen ist sie nur mit Leonides, einem estnischen Professor und EU-Abgeordneten, den sie hier in Finnland kennengelernt hat und der sich für Menschenrechte einsetzt. Doch wer wird sich nun für Adina einsetzen?

Antje Rávik Strubel erschafft mit „Blaue Frau“ einen ungemein vielschichtigen Roman, der sich erst nach und nach in seiner ganzen erschütternden Wahrheit offenbart. Die sprachgewaltige, emotionale Geschichte folgt der Protagonistin durch die Gegenwart, in der sie um Gerechtigkeit für sich selbst kämpfen muss und macht dann Sprünge in die Vergangenheit. Eingeschoben in den Erzählstrang ist außerdem eine Metaebene, in der uns die Titel gebende blaue Frau begegnet. Was es mit ihr genau auf sich hat, muss wohl jede/r für sich entscheiden – für mich persönlich kommuniziert hier jedoch die Autorin mit ihrer Figur.

Vorrangig geht es im Roman sicherlich um sexuelle Gewalt (das ist kein Spoiler, sondern wird bereits sehr früh offenbart) und das Patriarchat, das eine solche Machtsituation von Männern über Frauen erst erschaffen hat. Darüber hinaus sind jedoch auch ungleiche Beziehungen (vom sozialen Status gesehen) und das damit verbundene Überlegenheitsgefühl West- gegenüber Osteuropas (vor allem gegenüber osteuropäischen Frauen und generell Arbeitskräften) ein Thema. Es sind die Abgründe Europas, die hier beschrieben werden und in denen wir unbedingt mehr für die Opfer tun müssen.

Fazit: Ein Buch, das für mich völlig zu Recht auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis steht

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Veröffentlicht am 16.09.2021

Vom Schweigen zwischen Vater und Tochter

Vater und ich
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Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen ...

Ipek verbringt ein verlängertes Wochenende bei ihrem Vater; die Mutter ist mit Freundinnen im Kurzurlaub in einem Wellness-Hotel. Zwischen Vater und Tochter scheint die Nähe abhanden gekommen und Schweigen hat sich ausgebreitet. Wann hat es begonnen, fragt Ipek sich und wer ist für die fehlenden Worte verantwortlich?

Auf „Vater und ich“ der Autorin und Journalistin Dilek Güngör wurde ich durch die Longlist des Deutschen Buchpreises aufmerksam und es zog mich sofort an. Der gesamte Text ist eine direkte Ansprache an den Vater im Präsens und wirkt dadurch unmittelbar und sehr persönlich. Der Autorin gelingt es dabei perfekt, die Sprachlosigkeit zwischen Vater und Tochter einzufangen und obwohl die Prämisse hier eine völlig andere ist, fühlte es sich doch (unangenehm) bekannt an.

Ipeks Vater kam mit 21 Jahren als „Gastarbeiter“ nach Deutschland. Mit vierzehn war er von zuhause weggelaufen, lernte das Polsterhandwerk und musste schließlich zum Militärdienst. Ipek ist schon vor Jahren aus der schwäbischen Heimat nach Berlin gezogen – im Gegensatz zu ihren Freundinnen, die immer noch vor Ort leben und handfeste Berufe haben (Lehrerin, Physiotherapeutin, Bankangestellte). Ipek hingegen ist Journalistin und führt die interessantesten, komplexesten Interviews – nur mit dem eigenen Vater will das nicht mehr funktionieren:

„Überall fehlen mir die Worte, in deiner Sprache, in meiner Sprache und mit dir sowieso.“ (Ende Kapitel 7)

Früher machten sie Scherze miteinander, sahen gemeinsam Filme, aber heute gelingt ein ausführliches Gespräch nur noch, wenn andere dabei sind; die Mutter zum Beispiel, die gerne und viel redet oder Doktor Funke, der sich seine Möbel stets von Ipeks Vater aufbereiten lässt. Doch es gibt auch Lichtblicke. Beim gemeinsamen Kochen oder beim Polstern von Möbeln ist das Schweigen nicht mehr unangenehm, sondern wie ein stilles Ineinandergreifen von Zahnrädern. Und obwohl sie sonst immer ohne Ansprache miteinander reden, nennen sich die beiden am Ende kızım und baba, Tochter und Vater - und Ipek zieht ein wunderbares Fazit „Wir sind, wie wir sind.“ Einziges Manko des Romans? Viel zu kurz!

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