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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 01.04.2024

Herausfordernd, atemlos, eindringlich

Sieben Sekunden Luft
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Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, ...

Selah hat sich verloren, eigentlich hat Selah sich noch nie gehabt. Früher hat ihre Mutter ihr alles vorgegeben, dann die Gesellschaft und irgendwann konnte sie nicht mehr. Selah ist aus- und aufgebrochen, um sich selbst zu finden, und tat sich trotzdem schwer damit. Als endlich ein Licht mit Namen Ava zu sehen ist, wird Selah wieder zurückgerissen, denn erneut fordert die Mutter die Aufmerksamkeit.
„Sieben Sekunden Luft“ von Luca Mael Miltsch gehört zu den intensivsten Romanen, die ich jemals gelesen habe. Selahs Geschichte wird zu verschiedenen Zeiten erzählt: 1995, 2006, 2017 und 2023. Jede Zeit hat die passende Perspektive, dahingehend, wie nah Selah sich selbst ist, was sehr spannend ist und den Zugang zu Selah verstärkt, das Leid noch ein Stück greifbarer macht.
Sie merkt schon früh, dass sie nicht in die festgefahrenen Rollenbilder passt, kann dies aber nicht einordnen und wird damit auch noch komplett alleingelassen. Sie versucht, ihren Schmerz zu betäuben, was so atemlos, so intensiv beschrieben wird, dass es mich japsen ließ. Erst spät erkennt Selah, dass sie sich keinem Geschlecht zugehörig fühlt und es kostet nochmal Zeit, es richtig zu begreifen. Über allem schwebt die Mutter, die mich wahnsinnig wütend gemacht hat, denn auch wenn sie es schwer hatte, Selah konnte am wenigstens dafür und ich hätte mir einen richtigen Befreiungsschlag gewünscht, aber Mutter-Kind-Beziehungen sind nie leicht und im Nachhinein hat Selah genauso gehandelt, wie es zur Figur passt.
Luca Mael Miltsch hat ein wahnsinnig eindringliches und sprachlich hervorragendes Debüt abgeliefert, was herausfordernd ist, aber auch den Blick öffnet. Luca schreibt über etwas, was nicht beschrieben werden kann und aus vielerlei Gründen am Puls der Zeit ist.

Veröffentlicht am 22.03.2024

Verbindung zu den Ahninnen

Issa
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Issa ist schwanger und weiß nicht, was sie tun soll. Sich selbst darüber klar zu werden, ist schwierig, wenn man von allen Seiten Meinungen aufgedrückt bekommt. Also flieht sie in ihr Geburtsland Kamerun ...

Issa ist schwanger und weiß nicht, was sie tun soll. Sich selbst darüber klar zu werden, ist schwierig, wenn man von allen Seiten Meinungen aufgedrückt bekommt. Also flieht sie in ihr Geburtsland Kamerun und widmet sich dort längst überfälligen Ritualen, die sie zur Erwachsenen und Mutter machen sollen.
Das ist nur ein Erzählstrang von „Issa“ von Mirrianne Mahn. Nicht nur Issas Geschichte wird erzählt, sondern auch die ihrer Vorfahrinnen, angefangen bei Ururgroßmutter Enanga, die von einem Deutschen vergewaltigt wurde, wodurch Marijoh gezeugt wird, die eine zentrale Rolle im Buch und in Issa Leben spielt, und zu meiner liebsten Figur geworden ist. Auch Issas Mutter und Großmutter bekommen eigene Kapitel, die sich traurigerweise alle ähneln.
Im Mittelpunkt stehen die Frau aus Kamerun, die durch die Gemeinschaft untereinander, sei es nun zwischen Müttern und Töchtern, Schwestern oder Ehefrauen (denn dort ist die Vielehe ein Zeichen von Macht und Reichtum) Halt finden und sie die Grausamkeiten überstehen lassen. Auch das sich fremd fühlen, spielt eine große Rolle, denn Issa ist zwar in Kamerun geboren, aber früh mit ihrer Mutter nach Deutschland gezogen und eckt in beiden Ländern an.
Der Roman ist auf vielfältige Weise wundervoll. Er gibt Einblicke, auch historische, in das Leben Schwarzer Frauen in Kamerun, wo die patriarchalen Strukturen noch mal anders greifen. Er zeigt, was Europa, speziell Deutschland mit der Kolonialisierung getan hat, was wir niemals vergessen sollten! Ich habe viel gelernt über die Kultur, über die Erziehung und das Mindset Schwarzer Frauen, was darauf fusst sich selbst zu schützen.
Der Wechsel der Perspektiven schenkt immer neue Sichtweisen. Mirrianne Mahns Stil ist szenisch mit erläuternden Passagen, teilweise Rückblenden, was die Konturen der Geschichte noch mal verschärft und ich sehr gelungen finde.
„Issa“ hat mich in vielerlei Hinsicht berührt und das Ende ist wunderschön und traurig zugleich. Ich möchte diesen Roman wirklich allen ans Herz legen.

Veröffentlicht am 10.03.2024

Kommt nicht an die Vorgänger ran

Gestehe
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Jacket liebt das Rampenlicht und weil er vor vier Jahren durch die Blutnacht, in der er einen Organhändlerring im Alleingang ausgeschaltet und das letzte Opfer gerettet hat, zum Helden wurde, sonnt er ...

Jacket liebt das Rampenlicht und weil er vor vier Jahren durch die Blutnacht, in der er einen Organhändlerring im Alleingang ausgeschaltet und das letzte Opfer gerettet hat, zum Helden wurde, sonnt er sich bis heute in der Öffentlichkeit. Polizist ist er nur noch auf dem Papier bis er an einen Tatort stolpert, der ihm bekannt vorkommt - aus seinem Manuskript, welches eigentlich niemand kennt. Nun muss er nicht nur herausfinden, wer ihn in eine blutige Mordserie hineinziehen will, sondern auch noch seinen engagierten Kollegen Mo bremsen.
„Gestehe“ von Henri Faber hat mir am wenigstens von seinen drei Thrillern gefallen, wahrscheinlich, weil die anderen beiden mich wirklich sehr überzeugt habe. Auch hier ist der Plot durchdacht, es gibt Wendungen, falsche Spuren und Charaktere, die eine solide Entwicklung durchmachen. Doch es ist stellenweise, gerade am Anfang und am Ende langatmig. Sehr viele Informationen werden anfangs eingebracht, die später zwar wichtig werden, aber auch viel Raum einnehmen. Und dann geht es plötzlich Schlag auf Schlag, ein Showdown jagt den nächsten, bis zum großen Finale, welches ich ein bisschen übertrieben fand. Damit endet der Thriller aber nicht, sondern er plätschert noch ein wenig weiter und gibt die letzten Lösungen, allerdings sind diese für mich nicht absolut stimmig, zumindest was Mo angeht.
Gut hat mir gefallen, dass auch politische Themen wie der gegenwärtige Rassismus, speziell in Österreich thematisiert werden und wie PoC alltäglichen Anfeindungen ausgesetzt sind. Schade fand ich allerdings, dass das Wienerische nicht durch kam, immerhin spielt „Gestehe“ in Wien und Henri Faber ist gebürtiger Österreicher. Vielleicht hat er das aus Rücksicht auf die deutsche Leserschaft getan, aber ich mag solchen Lokalkolorit sehr und so hätte auch eine deutsche Stadt als Schauplatz dienen können.
Alles in allem war es spannend und ich habe es nicht zur Seite gelegt, doch an die anderen beiden Bücher kommt „Gestehe“ für mich nicht ran.