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Nilchen

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Veröffentlicht am 11.02.2022

Gibt es eine objektive Wahrheit?

Der Held vom Bahnhof Friedrichstraße
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Das 30jährige Mauerfallsjubiläum steht an und ein Journalist recherchiert die größte Massenflucht aus der DDR. Eine fehlgeleitete S-Bahn brachte 1983 127 DDR-Bürger in die Freiheit, in den Westen. Nun ...

Das 30jährige Mauerfallsjubiläum steht an und ein Journalist recherchiert die größte Massenflucht aus der DDR. Eine fehlgeleitete S-Bahn brachte 1983 127 DDR-Bürger in die Freiheit, in den Westen. Nun findet dieser Journalist den abgewrackten Michael Hartung, der damals bei der Reichsbahn angestellt war und laut Stasi Unterlagen diese Massenflucht durch die Manipulation einer Weiche die Flucht ermöglich hat. Nach einiger Bearbeitung des Journalisten ist Hartung bereit sich als Drahtzieher der Öffentlichkeit zu Bekennen und der Journalist hat DIE Story des Jubiläums präsentiert. Win, win?
Hartung wird zum Helden stilisiert, lange gab es keine neuen Gesichter, die man mit Lob und Ehre überschütten konnte. Endlich kommt mal ein bescheidener Helfer zu Wort. Da Hartung aber kein Held, sondern eher ein Anti-Held ist, nimmt dieses ganze Spiel ihn persönlich sehr mit. Er verstrickt sich in Lügen und wird wie eine Trophäe herumgereicht. Wie das ganze ausgeht, lass ich lieber offen, sonst fehlt die Spannung beim Lesen.
Mir hat der Roman sehr gut gefallen, ist es doch eine sehr gelungene Mischung aus fiktivem historischem Geschehen (es gibt keine echten/historischen Vorbilder), dass uns mit der Frage konfrontiert: Gibt es eine objektive Wahrheit über Vergangenes? Wie schnell kommt ein gängiges erzähltes Motiv ins Wanken? Wie viel Interpretationsspielraum gibt es? Außerdem schwingt dem Roman noch der klassische Ossi vs Wessi Konflikt mit, wer wem für was keine Anerkennung zollt. Eine gut verpackte Analyse. Aber zu guter Letzt ist es auch ein humorvoller gut erzählter Roman, daher: Ein absolutes Lesevergnügen – alles drin! Unbedingt lesen.

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Veröffentlicht am 10.02.2022

Erstaunlich das kleine Konstrukt in unserem Schädel!

Das erschöpfte Gehirn
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Man schleppt sich durch den Alltag und wundert sich, dass die Konzentration immer schlechter wird. Wenig Lust auf neue Entdeckungen, lieber in eingefahrenen einfachen Bahnen bleiben. Daher wollte ich gerne ...

Man schleppt sich durch den Alltag und wundert sich, dass die Konzentration immer schlechter wird. Wenig Lust auf neue Entdeckungen, lieber in eingefahrenen einfachen Bahnen bleiben. Daher wollte ich gerne „Das erschöpfte Gehirn“ von Dr. med. Michael Nehls lesen. Er wurde mit vielen Publikationen zum Thema Alzheimer bekannter. Sein Ziel ist es hockkomplexe Zusammenhänge für Fachfremden einfach zu erklären. Ich finde, dass er das in der Tat sehr gut kann. Themen runterbrechen und querzusammenhänge aufzeigen und zugleich Beispiele nennen. Dieses Buch verzahnt verschiedenste Wissenschaftsbereiche der Neurologie, Genetik, Soziologie sowie Ökonomie und auch Philosophie. Ein sehr gelungener interdisziplinärer Ansatz. Der Fokus liegt, wie der Titel verrät, beim Gehirn und dort speziell das Frontalhirn. Es ist sehr aktuell, macht es sogar das Themenfeld Long-COVID auf. Das Buch gibt Einblick in aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse, manches auch nicht neu, aber ist in der Tat kein Handlungsratgeber. Eher eine Wissensbereicherung.
Was an der ein und anderen Stelle etwas stört, sind die doch sehr polemische Formulierung des Autors, wenn er beispielsweise „Die Regierung agiert als Erfüllungshilfe der Industrie.“ (S. 209) betitelt. Hier hätte man auch sachlicher auf den starken Lobbyismus hinweisen können. Diese Aspekte des Buches habe ich für mich persönlich ignorieren können.
Gelungen ist dagegen der Bezug der Forschung auf das Alltägliche, wenn er z. B. ausführlich wissenschaftlich belegt aufzeigt, dass Spielen ein essenzieller Bestandteil des Lebens sein sollte um Kreativität zu fördern im Zusammenhang mit dem Sinn des Lebens. Auch fand ich die Grafiken zur Illustration auflockernd und hilfreich.
Fazit: Spannendes komprimiertes Sachbuch vorrangig über das Frontalhirn. Ein Ansporn sich die eigenen Verhaltensmuster vor Augen zu halten und unser Frontalhirn auf seine präferierte Weise zu pflegen.

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Veröffentlicht am 09.02.2022

Wenig Lebensfreude auf 193 Seiten

Damenbart
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„Manche Sterne fallen leise, manche laut und mit Feuerschweif.“ (S. 166)
Sarah Pines, Autorin verschiedenster deutschsprachiger journalistischer Medien hat ihr literarisches Debüt in Form einer Kurzgeschichtensammlung ...

„Manche Sterne fallen leise, manche laut und mit Feuerschweif.“ (S. 166)
Sarah Pines, Autorin verschiedenster deutschsprachiger journalistischer Medien hat ihr literarisches Debüt in Form einer Kurzgeschichtensammlung publiziert. In 17 eigenständigen Kurzgeschichten präsentiert sie uns ihr Schreibtalent.
„Draußen zog die Tonspur der Nacht vorüber, Gläserklirren irgendwo, das Geräusch von Mopeds, Frauen lachen, grölende Jugendliche, Hundegebell.“ (S. 57)
Alle Geschichten eint eine antriebslose, deprimierende Grundstimmung, die ihren Ursprung in der Vergangenheit der Protagonisten hat. Alle Charaktere hadern und es fehlt an Sinn und Perspektive. Höhst trostlos und brutal melancholisch.
Was als Gegengewicht zu dem wiederkehrenden Motiv der einsamen Frau steht, ist die stets wechselnde Perspektive: mal ein anderes Land, eine andere Zeit, ein anderes Milieu. Zu den sezierten Damen gesellt sich nur eine Ausnahme und das ist „Zugenäht“. Diese Geschichte auch mein Favorit in dieser Sammlung.
„derjenige, der am meisten schimpft, hat nicht notwendigerweise am meisten unrecht.“ (S. 83)
Spannend sind die Geschichten zu lesen, denn in jeder musss man sich sprachlich neu orientieren. Sahra Pines, studierte Literaturwissenschaftlerin spielt mit ihren Möglichkeiten. Einerseits zeichnet sie sehr raue Bilder, die zugleich aber fragil sind. Besonders interessant fand ich persönlich die fast lyrische Sprache die machen Sätze zusammenhält. Manch anderes Mal ist es die Syntax, die einen eigenwilligen Rhythmus vorgibt. Die Wortwahl auch mal karg, aber auf den Punkt. Oft stellen sich genau die unbehaglichen Gefühle ein, die die jeweiligen Geschichten transportieren.
„In der Ferne verschleierte Nebel die Unendlichkeit des irgendwann nahenden Sommers." (S. 21)

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Veröffentlicht am 06.02.2022

Mist der uns das Leben schenkt

Ende in Sicht
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Wenn einer zum Sterben das Haus verlässt, dann geht es meist nicht gut aus. Hier sieht die Lage anders aus, denn hier treffen zwei Frauen mit demselben Ziel ungewollt aufeinander. Die 15jährige Juli hat ...

Wenn einer zum Sterben das Haus verlässt, dann geht es meist nicht gut aus. Hier sieht die Lage anders aus, denn hier treffen zwei Frauen mit demselben Ziel ungewollt aufeinander. Die 15jährige Juli hat vor von einer Grünbrücke auf die Autobahn zu springen, um sich das Leben zu nehmen. Ihr Glück im Unglück ist Hella, die sie rettend auf den Grünstreifen manövriert. Zwar arg lädiert, aber lebend. Ironischerweise ist auch sie auf dem Weg zum Sterben, denn die 69 Jahre alte Popikone mit hohlem Leben will ihrem Ganzen in einer Sterbeklinik in der Schweiz ein Ende setze. Tja, und da sind sie ungewollt vereint in einem klapprigen Passat, sind schroff im Ton und besorgt in der Brust, obwohl der Gegensatz nicht größer sein könnte.
Ronja von Rönne legt mit „Ende in Sicht“ ihren zweiten Roman vor. Sie ist von Hause aus Journalistin der ‚Zeit‘ und Moderatorin ein Philosophie Magazin auf ARTE namens Streetphilosophy und betreibt einen Podcast. Vor allem wird momentan gerne in den Medien ihre Depression in Bezug auf das Buch durchleuchtet, ich halte davon wenig und freue mich, wenn die Autorin sagt, dass das Buch nicht WEGEN der Depression entstand, sondern TROTZ. Dabei belassen wir es.
Ich finde sie schreibt gut, der Klartext-Ton findet sich gerne rotzig und frech wieder. Der ruppige Ton genau das richtige was die beiden Frauen verkörpern, keine Freundlichkeit, aber eine tieferliegende Zuneigung zueinander. Hier werden Chinaböller gezündet, aber Knallfrosch-Sound ertönt, wie im echten Leben nehmen hier Formulierungen einen großen Anlauf, aber es geschieht dann eher wenig. Kennen wir das nicht alle?
Wenn Hella ironischerweise ihren One-Hit-Wonder „Ende in Sicht“ in Dauerschleife besingt und Juli mit der Lüge ihres Lebens hadert im den die Schnecke auf dem Cover eine große Rolle spielt, dann ist da ein Funken Hoffnung für das gegensätzliche Paar. Natürlich: Das Roadtrip-Sujet ist nicht neu und innovativ, aber Ronja von Rönne hat es auf ihre ganz eigene Art zum Ereignis der Sonderklasse gemacht.

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Veröffentlicht am 04.02.2022

Dein Paradies ist meine Hölle

Zum Paradies
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Stellt euch vor die Vergangenheit wäre anders gelaufen. Wie würde die Welt heute ticken? Stellt euch vor, dass das Leben in 1893 schon komplette Gleichberechtigung der Geschlechter hervorgebracht hätte. ...

Stellt euch vor die Vergangenheit wäre anders gelaufen. Wie würde die Welt heute ticken? Stellt euch vor, dass das Leben in 1893 schon komplette Gleichberechtigung der Geschlechter hervorgebracht hätte. Was für eine Vorstellung! Genauso startet Hanya Yanagihara neuster Roman „Zum Paradies“. Wir tauchen ins Jahr 1893 ein, sind in New York am Washington Square. Technologisch ist die Zeit entsprechend unseres eigenen Wissensstands, aber die gesellschaftliche Akzeptanz ist einen andere in Bezug auf gleichgeschlechtliche Ehen und Gleichberechtigung. Großartig wie die Autorin diesen einen Aspekt der gesellschaftlichen Ordnung dreht und das Leben wäre ein anderes gewesen. Dies ist nur EIN Aspekt dieser Lektüre.
Strukturell tauschen wir in diesem Buch in drei verschiedene Zeiten ab. Erst zieht es uns ins Jahr 1893, in dem der obige Aspekt verändert wird. Im zweiten Abschnitt sind wir im Jahr 1993 und mitten in der Aids-Krise in New York, dort wohnen wir einer Party bei, eher ein Abschied der und mit voller Wucht trifft. Der zweite Teil des zweiten Teils (keine Sorge es klingt alles wirrer als Hanya Yanagihara es inszeniert hat!) spielt auf Hawaii mit einer tiefen Vater-Sohn Auseinandersetzung und zugleich mit der Auseinandersetzung der hawaiianischen Geschichte. Der abschließende dritte Teil beschäftigt sich mit dem Jahr 2093. Hier erleben wir was wiederkehrende Pandemien und Naturkatastrophen aus der Welt gemacht haben. Ein erschütterndes Bild einer totalitären Welt zeigt sich hier.
Was die drei Teile verknüpft ist der Ort des Geschehens, immer wieder Washington Square in New York City, auch wenn es 2093 nur noch Zone 8 heißt. Die zweite lose Klammer sind Namen der Charaktere (David und Charles) und auch ein paar wenige Überschneidungen und Bezüge auf die Vergangenheit.
Ein wirklich beeindruckender Roman, der lange nachklingt. Hanya Yanagihara schreibt so unfassbar greifbar. Ich habe so manches körperlich gespürt, was bei weitem nicht immer die besten Gefühle waren. Als Leser:in leidet man mit und begreift was es heißt in dieser Situation zu sein. Ich muss auch noch oft an das Buch denken.
Fazit: Jede Zeit hat seine Herausforderungen und das Paradies ist und bleibt eine Utopie.

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