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Veröffentlicht am 15.09.2016

Justins Entführung – Davor und Danach

Justins Heimkehr
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Justin ist zwölf Jahre alt, als er von einem Skate-Ausflug nicht nach Hause zurückkehrt.

Justin wurde entführt.

Entdeckt von einer aufmerksamen Trödlerin taucht er nach vier Jahren wieder auf.

Justins ...

Justin ist zwölf Jahre alt, als er von einem Skate-Ausflug nicht nach Hause zurückkehrt.

Justin wurde entführt.

Entdeckt von einer aufmerksamen Trödlerin taucht er nach vier Jahren wieder auf.

Justins Heimkehr erzählt die Geschichte der texanischen Familie Champbell, wie sie nach der Entführung lebt und wie sich ihr Leben erneut verändert, als Justin wieder im Kreise der Familie weilt.

Der Autor:

Bret Anthony Johnston, 1971 geboren, veröffentlichte den Erzählungsband "Corpus Christi" (2004), gab 2008 den Band "Naming the World and other Exercises for the Creative Writer" heraus und schrieb das Drehbuch zum Dokumentarfilm "Waiting for Lightning" (2012). "Justins Heimkehr" ist sein Romandebüt. Johnston unterrichtet Fiction Writing an der Harvard University.

Reflektionen

Sehr schnell beeindruckten mich der Stil und die ausdrucksstarke Sprache dieses Debüt-Romans. Der Stil ist von einem Talent geprägt, das Dinge bis in kleinste Details präsentiert, wie als wenn man einen Blick über seine Umgebung gleiten lässt und bei jedem Detail den Blick anhält, um das Gesehene in seinen Gedanken zu speichern.

Die Fähigkeit zu so einem Stil empfinde ich als beeindruckend, wenn sie nicht im Vordergrund steht, sondern maßvoll die Handlung bereichert. Das war auf den 424 Seiten leider nicht immer der Fall.

Bret Anthony Johnston erzählt die Geschichte der Familie Champbell, deren Leben sich nach der Entführung des zwölfjährigen Sohnes Justin von Grund auf verändert und wie jedes Familienmitglied mit diesem schockierenden Erlebnis umgeht. Sie kämpfen alltäglich und versuchen klarzukommen, um einen einigermaßen normalen Alltag leben zu können. Nach vier Jahren kehrt Justin heim und auch dieses doch so positive Ereignis verändert die Familie erneut.

In diesem Roman geht es hauptsächlich darum, wie jedes einzelne Familienmitglied die Zeit nach der Entführung und der Heimkehr empfindet und erlebt. Der Autor schreibt von ihrem Leid und der Trauer, von ihrer Rücksichtnahme anderen Familienmitgliedern gegenüber, wie man sich untereinander im Verhalten toleriert, sich gegenseitig in Watte packt und vor allem, wie sie denken.
Sie driften als Familie auseinander und harmonisieren wieder miteinander, aber sie kämpfen und leiden unerbittlich, jeder auf seine spezielle Weise.

Bret Anthony Johnston entwickelt die authentischen Figuren mit psychologischem Fingerspitzengefühl und bereichert sie durch eine charakterliche Tiefe, die emotional sehr berührt. Es ist erschreckend zu lesen, wie sich die Figuren unter dem Schock der Entführung verändern und nach der Heimkehr Justins noch einmal.

Bret Anthony Johnston schreibt ansehnlich und spannend und dennoch genügte mir das nicht, um einen absoluten Lesegenuss zu empfinden. Ich empfand manche Kapitel zwischendurch fast als nichtssagend und so las und blätterte ich in der Hoffnung, dass endlich mehr passierte. Doch es geschah kaum etwas außer der Figur bezogenen Aktivitäten und der Teilhabe an ihren Gedankengängen.

Mir fehlten definitiv mehr Informationen zur Entführung, zum Täter und zum Motiv. Als Leser kann man nur erahnen, was Justin grausames Erlebte. Persönlich tritt der Täter nicht einmal in Erscheinung und so las sich dieser Roman für mich eher wie ein bitteres, dramatisches Familienportrait. Die Erzählkunst des Autors ohne eine aktionreiche Kette von Ereignissen anführen zu müssen ist das Besondere an diesem Roman, nur mich persönlich konnte er dadurch nicht bis in jeden Winkel begeistern.

Fazit und Bewertung:

Ein beeindruckender Debütroman über das Davor und Danach einer Entführung. Ein dramatisches Familienporträt in eindrucksvollem Stil und in besonderer Sprache. Meine Empfehlung geht an Romanliebhaber.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Macht der Musik oder, als der Himmel vor Verzweiflung schrie

Totenlied
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In einem Antiquitätengeschäft in Rom kauft Violinistin Julia Ansdell ein antikes Notenheft, aus dem eine handschriftliche Aufzeichnung eines unbekannten Walzers hinausflattert.

Zuhause angekommen, beginnt ...

In einem Antiquitätengeschäft in Rom kauft Violinistin Julia Ansdell ein antikes Notenheft, aus dem eine handschriftliche Aufzeichnung eines unbekannten Walzers hinausflattert.

Zuhause angekommen, beginnt sie den unbekannten Walzer auf ihrer Geige zu spielen. Während die aufwühlende Melodie von Julia einiges an Können abverlangt, tötet Julias dreijährige Tochter ihre Katze.

Als Julia bemerkt dass merkwürdige Dinge geschehen, während sie den unbekannten Walzer spielt, macht sie sich berechtigterweise, vor allem um ihre Tochter Lily, große Sorgen. Lily wird aggressiv und Julia kann sie kaum wiedererkennen. Erschreckt über das Verhalten ihres Kindes sucht sie einen Kinderarzt auf, der die Kleine aufwendig medizinisch untersucht. Dabei stellt er fest, dass Lily dieses Musikstück in ihrem Langzeitgedächtnis abgespeichert hat. Unmöglich, wo doch der Walzer niemals veröffentlicht wurde und Lily ihn garantiert noch nie gehört haben kann.

Julia ist mit ihren Gedanken und Sorgen allein. Ihr Ehemann Rob vermutet, dass Julia psychische Probleme hat, da auch schon ihre Mutter Camilla psychiatrisch behandelt wurde. Um der Herkunft des Stücks auf den Grund zu gehen und um gegebenenfalls dadurch auf Lilys Verhalten rückschließen zu können, reist Julia zurück nach Rom. Doch sie ahnt nicht, dass ihr Leben in höchster Gefahr ist.

Die Autorin:

So gekonnt wie Tess Gerritsen vereint niemand erzählerische Raffinesse mit medizinischer Detailgenauigkeit und psychologischer Glaubwürdigkeit der Figuren. Bevor sie mit dem Schreiben begann, war die Autorin selbst erfolgreiche Ärztin. Der internationale Durchbruch gelang ihr mit dem Thriller »Die Chirurgin«, in dem Detective Jane Rizzoli erstmals ermittelt. Tess Gerritsen lebt mit ihrer Familie in Maine.

Reflektionen:

Mit Totenlied ist Tess Gerritsen ein Meisterwerk gelungen. Für mich ist dieser stand alone Thriller definitiv ihr bester. In sehr schöner und fließender Sprache erzählt Tess Gerritsen eine Geschichte über einen Walzer, dessen Komponist und Herkunft unbekannt sind. Ihren gewohnt guten Schreibstil hat Tess Gerritsen mit Totenlied noch einmal übertroffen und sie versteht es wahrlich, die Spannung auf hohem Niveau durch die Seiten strömen zu lassen, ohne dass Blut aus ihm hinaustropft. Einige werden eventuell kritisieren, dass nicht allzu viele Thriller-Elemente in Totenlied berücksichtigt worden sind, doch ich persönlich empfinde das Genre Thriller gerechtfertigt, wenn er auch eher sanft aber dafür sehr intensiv daherkommt.

Totenlied wird in zwei Handlungssträngen erzählt, die in unterschiedlichen Zeitebenen spielen und die erst gegen Ende ineinanderfließen. Die Figuren sind sehr fein gezeichnet und sie besitzen ein Leben, an dem die Autorin den Leser maßvoll teilhaben lässt. Charakterstark oder labil, gut oder böse, viele Figuren mit unterschiedlichen charakterlichen Eigenschaften bereichern die Geschichte auf vielfältige Weise, ganz zum Genuss des Lesers.
Im ersten Handlungsstrang verändert sich Julias Tochter Lily, während sie den Walzer hört. Diese Veränderungen erlebt jedoch ausschließlich Julia und auch nur ihr gegenüber wird Lily plötzlich aggressiv. Julias Schilderungen stoßen in ihrem Umfeld auf Unglauben. Ihr Ehemann Rob vermutet gar, dass sie psychische Probleme hat, sodass sie in einen inneren Konflikt gerät, der sie fast zerreißt. Sie erkennt ihre eigene Tochter nicht wieder, kann sich ihr nicht mehr liebevoll und mütterlich nähern und sie entfernt sich auch von ihrem Ehemann. Sie beginnt eine Rolle zu spielen. Bei jedem Schritt den sie tut überlegt sie, wie er wirken wird, damit ihn niemand als krankhaft interpretieren kann. Diesen Konflikt setzt Tess Gerritsen brillant in Szene. Als Leser schlage ich mich auf die Seite der sympathischen Julia, da ich die Veränderungen des Kindes miterlebe.

Der zweite Handlungsstrang, ich würde ihn durchaus als Haupterzählstrang deklarieren, spielt in der Zeit kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs in Venedig, Italien. Man lernt den jungen, sympathischen und bescheidenen Lamberto kennen, dessen Vater ein bekannter Geigenbauer ist. Lamberto ist ein begnadeter Geigenspieler und er hat hochgesteckte Ziele, die er plötzlich nicht mehr umsetzten kann, da er als Jude nicht der italienischen, reinen Rasse angehört. Tess Gerritsen hat die Dramatik dieser Zeit ausgesprochen gut recherchiert, beschrieben und verarbeitet. Diese Perspektive bietet auf Grund der geschichtlichen Authentizität eine grausige Grundstimmung, die mich gepaart mit Spannung und Emotionalität unglaublich fesselt. Ich bin nicht diejenige, die gern Liebesgeschichten in Thrillern verpackt sieht, doch diese hier zerreißt mir fast das Herz.

Wie die Autorin im Nachwort betont, will sie mit diesem Roman den Menschen dieser finsteren Zeit ein Denkmal setzten, die Juden unterstützten und die Akte der Menschlichkeit vollbrachten, mit der sie Hoffnung säten. Auch Lamberto und seiner Familie wurden von selbstlosen Menschen Unterschlupf gewährt und aufopfernde Hilfe zuteil.

Das Vereinen der beiden Perspektiven gelingt Tess Gerritsen spielend leicht. Intelligent verknüpft sie die charakterstarken, authentischen Figuren von einst in das Hier und Jetzt und lässt mich emotional tief berührt zurück. Trotz dass der Showdown wie ein Gewittergrollen alles übertönt, indem Lambertos geliebte Musik und Geige noch einmal eine große Rolle spielen, bleibt dem Leser dennoch auch Luft zur persönlichen Interpretation.

Den Walzer „Incendio“, um den sich die Handlung im Kern dreht, komponierte Tess Gerritsen. Der Titel wurde von der preisgekrönten Violinistin Susanne Hou eingespielt und steht auf deren Webseite zum Download zur Verfügung.

Fazit und Bewertung:

Totenlied ist ein Highlight unter den Thriller-Neuerscheinungen. Es begeistert, fesselt und stimmt nachdenklich zugleich. Meine absolute Leseempfehlung, nicht nur an Thriller-Fans.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die verlorene Kindheit der Engel

Die letzten Zeugen
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Zweiter Weltkrieg: Beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland, waren sie noch Engel. Sie waren unbedarft, zarte Geschöpfe voller Freude an den Dingen um sie herum. Sie waren noch neugierig, besaßen offene, ...

Zweiter Weltkrieg: Beim Einmarsch der Deutschen in Weißrussland, waren sie noch Engel. Sie waren unbedarft, zarte Geschöpfe voller Freude an den Dingen um sie herum. Sie waren noch neugierig, besaßen offene, große Herzen, denn sie waren noch Kinder.

Doch der Einmarsch der Deutschen hat den Engeln die Kindheit für immer genommen.

Swetlana Alexijewitsch hat sich an sie erinnert. Sie hat die einstigen Engel gebeten, ihre Erinnerungen an den Einmarsch der Deutschen (1941-1945), aus ihrer kindlichen Sicht zu erzählen, ihre kindlichen Worte für das Erlebte wiederzufinden und ihre kindlichen Gefühle zu beschreiben.

Chronistin Swetlana Alexijewitsch hörte ihnen zu und verstand es, das Gehörte niederzuschreiben, um uns Menschen einfühlsam einen Hauch dieser niederschmetternden Zeit voller Grausamkeiten, aus der Sicht von Kindern dieser Zeit, näher zu bringen.

Viele der letzten Zeugen haben trotz der dazwischenliegenden Jahrzehnte ihre Erinnerungen nicht verloren und sie können sie noch aus ihrer kindlichen Sicht schildern. Manche behüten nur noch kleine Erinnerungsfetzen, andere können nur unter stillen Tränen erzählen, andere sind stumm.

Eine klassische Rezension zu diesem Werk zu schreiben ist mir nicht möglich. Sicher, Swetlana Alexiejewitsch Sprache und der Stil in dem sie schreibt ist hochwertige Literatur und bedeutend einfühlsam. Ich kann dieses „Gesprächsbuch“ nicht rezensieren und bewerten, denn die Protagonisten in diesem Buch sind die Zeitzeugen des Zweiten Weltkrieges. Sie sind real. Die letzten Zeugen ist eine gelungene, vielschichtige Komposition von vielen Zeitzeugengesprächen, dass den Nobelpreis für Literatur wahrlich verdient. Swetlana Alexijewitsch gibt in ihrem Buch jedem Zeitzeugen eine seiner Erinnerung angemessene Überschrift und sie nennt den Namen desjenigen, sein damaliges Alter und seinen heutigen Beruf.

An dieser Stelle kann ich nur schreiben wie sehr mich dieses Buch betroffen und traurig gemacht hat. Auch wenn ich aus Interesse an der Deutschen Geschichte schon sehr viel über den Zweiten Weltkrieg gelesen habe und ich immer von neuem zutiefst berührt und erschrocken bin, so hat mich dieses Werk besonders berührt und nachdenklich gestimmt.

Meine Nachdenklichkeit entsteht beim Lesen vor allem da, wo Kinderstimmen von ihren Erlebnissen erzählen. Es ist nicht das Große an Kriegsereignissen was mich so schmerzlich trifft, sondern das Kleine, das die Kinder plötzlich in ihrem Alltag zu spüren und zu sehen bekamen. Meistens schildern sie den unfassbaren schmerzlichen Verlust des Vaters, der an die Front ging und nicht widerkehrte oder sie schildern den Anblick der vielen Toten, die achtlos und unbegraben am Wegesrand ihres Dorfs oder auf dem eigenen Hof lagen.

Als Mutter projizieren meine Gedanken das Gelesene immer wieder in das Hier und Jetzt. So ein Buch klingt unwahrscheinlich lange nach. Eine bewusste, intensive Vorstellung was diese Kinder erlebt haben, was sie verzweifeln ließ und was ihnen so große Angst bereitete, gelingt mir nur annähernd, wenn ich meine Augen schließe.
Die tagtäglichen Nachrichten über die Kriege unserer Welt, wie den Krieg in Syrien, machen mir im Kontext mit diesem Buch bewusst, dass auch diese Kinder dort, etwas sehr ähnliches tagtäglich erleben. Hilflosigkeit macht sich in mir breit. Ich möchte dieses Buch manchem Politiker und Machthaber als Pflichtlektüre zum Lesen geben und hoffen, dass sie ebenso berührt Wendungen herbeiführen, damit Kinderseelen gesund bleiben.

Jede geweinte Kinderträne ist eine zu viel.

Die Autorin:

Swetlana Alexijewitsch, 1948 in der Ukraine geboren und in Weißrussland aufgewachsen, lebt heute in Minsk. Ihre Werke, in ihrer Heimat verboten, wurden in mehr als 30 Sprachen übersetzt. Sie wurde vielfach ausgezeichnet, 1998 mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung und 2013 mit dem Friedenspreis des Deutschen Buchhandels. 2015 erhielt sie den Nobelpreis für Literatur.

Zitate:


Vor der Stadt schossen sie gezielt auf uns. Die Menschen fielen auf die Erde. In den Sand, ins Gras. „Mach die Augen zu, mein Sohn … Schau nicht hin“, bat Vater. Ich hatte Angst zum Himmel zu schauen – dort war alles schwarz von Flugzeugen – und auch auf der Erde, überall lagen Tote. Ein Flugzeug flog ganz dicht vorbei. Vater fiel hin und stand nicht mehr auf. Ich hockte über ihm und bettelte: „Papa, mach die Augen auf … Papa, mach die Augen auf …“ Leute riefen: „Deutsche!, und zogen mich mit sich fort. Ich begriff nicht, dass Vater nicht mehr aufstehen würde, dass ich ihn hier im Staub, mitten auf dem Weg, liegenlassen musste.

Zum zudecken benutzten wir unsere Mäntel. Unsere Wäsche wuschen wir selbst, in Wasser mit Eis – wir weinten, so weh taten uns die Hände.

Wir aßen Wasser. Wenn die Mittagszeit heran war, stellte Mama einen Topf heißes Wasser auf den Tisch. Das verteilten wir in Schüsseln. Abend. Abendbrot. Auf dem Tisch ein Topf heißes Wasser. Farbloses heißes Wasser. Im Winter gibt es nicht mal was, womit man es färben könnte. Nicht einmal Gras.

Und ich als Geburtstagskind bekam eine Extraportion: noch ein halbes Löffelchen Zucker …

Am letzten Tag… Bevor die Deutschen abzogen, zündeten sie unser Haus an. Mama stand da, starrte ins Feuer und weinte keine einzige Träne. Und wir drei liefen herum und riefen: „Nicht brennen, liebes Haus! Nicht brennen, liebes Haus!“

Wer hat uns gerettet im deutschen Konzentrationslager, wie? Den Kindern wurde Blut abgenommen für deutsche Soldaten, die Kinder starben. Wie kamen mein Bruder und ich ins Kinderheim, wie erreichte uns gegen Kriegsende die Nachricht, dass unsere Eltern gefallen waren? Irgendetwas ist mit meinem Gedächtnis passiert. Ich erinnere mich an keine Gesichter, an keine Worte…

Die Nachbarstochter, drei Jahre zwei Monate alt … Ich erinnere mich, wie ihre Mutter am Sarg immerzu sagte: „Drei Jahre und zwei Monate“. Sie hatte eine „Zitrone“ gefunden, eine Granate. Und wiegte sie wie eine Puppe. Wickelte sie in Lumpen ein und wiegte sie. Die Granate war so klein wie ein Spielzeug, nur schwer. Die Mutter rannte los, schaffte es aber nicht mehr…

Ein Soldat fragte mich: „Wie heißt du, Mädchen?“ Aber ich hatte es vergessen. „Und dein Familienname?“ Ich erinnerte mich nicht. Wir saßen bis nachts neben Mamas Grabeshügel, bis man uns auf ein Pferdegespann setzte. Der Wagen war voller Kinder. Ein alter Mann fuhr uns, sammelte unterwegs alle ein. Wir kamen in ein fremdes Dorf, fremde Leute nahmen uns zu sich. Ich habe lange nicht gesprochen. Nur geschaut.

Als erstes sah ich ein totes Pferd… Dann… eine tote Frau…Darüber wunderte ich mich. Ich hatte gedacht, im Krieg würden nur Männer getötet.

Einer trägt eine Mütze vor sich her – voller Zucker.

Das Feuer hatte niemanden verschont. Du siehst einen schwarzen Leichnam liegen und weißt: Da ist ein alter Mensch verbrannt. Und wenn du von weitem etwas Kleines, Rosiges siehst, dann weißt du: Ein Kind. Ganz rosa lagen sie auf den verkohlten Überresten.

Ich bin schon einundfünfzig, ich habe eigene Kinder. Trotzdem will ich meine Mama wiederhaben….

Der Zug fuhr los, und ich blieb zurück. Ich weiß nicht mehr wer mich buchstäblich in den Zug geworfen hat, aber nicht in unseren Waggon, sondern irgendwo ganz hinten. Da bekam ich zum ersten Mal Angst, ich könnte allein bleiben, und Mama würde wegfahren. Solange Mama bei mir war, war mir nicht bange. Nun aber wurde ich stumm vor Angst … Mama war meine ganze Welt.

Alles aus diesen Tagen habe ich schwarz in Erinnerung. schwarze Panzer, schwarze Motorräder, deutsche Soldaten in schwarzer Uniform. Ich bin nicht sicher, ob das alles wirklich schwarz war, aber so habe ich es in Erinnerung. Als Schwarzweißfilm …

Ich bin ein Mensch ohne Kindheit, meine Kindheit war der Krieg. So erschüttert hat mich im Leben nur noch die Liebe. Als ich mich verliebte … Als ich die Liebe kennenlernte…

Vor meinen Augen … Mama wurde auf der Straße erschossen. Als sie hinfiel, ging ihr Mantel auf, er wurde ganz rot, und auch der Schnee um Mama herum wurde rot…

Wenn jemand weint, empfinde ich kein Mitleid, sondern Erleichterung, weil ich selbst nicht weinen kann.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Die Wahrheit ist nur ein Anschein - Start der Thriller-Serie mit Hauptkommissar Eugen de Bodt

Heldenfabrik
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Vorstandssitzung des Berliner Chemiekonzerns BBC:

Die Türen zum Sitzungssaal öffnen sich, automatische Waffen Zielen auf alle anwesenden Vorstandsmitglieder und töten sie. Eiskalt.

Die Leichen der Getöteten ...

Vorstandssitzung des Berliner Chemiekonzerns BBC:

Die Türen zum Sitzungssaal öffnen sich, automatische Waffen Zielen auf alle anwesenden Vorstandsmitglieder und töten sie. Eiskalt.

Die Leichen der Getöteten findet die Polizei am Spreeufer. Die Hände der Leichen sind an den Händen zusammengebunden, ihre Körper zu einem Kreis formiert schwimmen sie unterstützt durch Schwimmflügel an der Wasseroberfläche. Inmitten des Leichenkreises schwimmt ein Aktenkoffer, in dem die Ermittler ausschließlich ein Gedicht finden:

Der Tod ist groß.
Wir sind die Seinen
lachenden Munds.
Wenn wir uns mitten im Leben meinen,
wagt er zu weinen
mitten in uns. (Rainer Maria Rilke)

Hauptkommissar Eugen de Bodt ermittelt mit Kriminaloberkommissarin Silvia Salinger und dem Anwärter Yussuf, einem blonden Türken. Der Fall scheint unlösbar und die drei werden bei ihren Ermittlungen immer wieder erheblich behindert. Vertrauen können sie sich ausschließlich untereinander, während sie den blutigen Spuren eines brutalen Killers durchs Land folgen.

Der Autor:

Christian v. Ditfurth, geboren 1953, ist Historiker und lebt als freier Autor in Berlin. Zuletzt hat er neben Sachbüchern und Thrillern (Das Moskau-Spiel, 2010) Kriminalromane um den Historiker Josef Maria Stachelmann veröffentlicht, die auch in den USA, in Frankreich, Spanien und Israel veröffentlicht wurden. Zuletzt erschienen Das Dornröschen-Projekt und Tod in Kreuzberg. (Quelle: carl’s books)

Reflektionen:

Heldenfabrik ist ein anspruchsvoller Thriller, der mich mein Notizbuch während des Lesens vollschreiben lässt, um keine Szene zu vergessen und um viele Besonderheiten auch im Nachhinein einatmen zu können.

Christian von Ditfurth hat mich schon vor vielen Jahren mit seinen Stachelmann Kriminalromanen begeistert. Darin habe ich es besonders genossen, den Historiker von Ditfurth darin erkennen zu dürfen.

Heldenfabrik ist anders.

Fast wie ein typisch amerikanischer Thriller, der mit äußerster Härte und Tempo bereichert einhergeht. Fast atemlos lese ich durch die Seiten und kann es kaum fassen, wie erfrischend und atemlos mich von Ditfurth durch die mehr als 400 Seiten treibt. Die Spannung reißt niemals ab und sie agiert auf einem hohen Level. Von Ditfurths Schreibstil ist literarisch anspruchsvoll, aber dennoch federleicht zu lesen.

Heldenfabrik ist der erste Band einer Reihe um die Fälle des sympathischen Berliner Hauptkommissars Eugen de Bodt. An seinem ersten Arbeitstag bei der 3. Mordkommission des Berliner Landeskriminalamtes, trifft er seine neuen Kollegen erstmals am grausigen Tatort.

Der junge Anwärter Yussuf, ein blonder Türke, lässt Raum zum Schmunzeln. Mit ihm und mit der attraktiven Kriminaloberkommissarin Silvia Salinger agiert de Bodt nach anfänglichem Zusammenraufen harmonisch. Dieses kleine Team gegen den Rest des Präsidiums, so scheint es.

Die Figur des Hauptkommissar de Bodt ist eine selten dagewesene. Er selbst hält sich nach gescheiterter Ehe für einen Alltagsversager. Er hasst intensive Körperlichkeiten, jemanden anfassen zu müssen ist ihm ein Groll und er kann sich niemandem unterordnen, der weniger kann als er. Er ist sehr gebildet und elitär. Nach abgebrochenem Literatur- und Philosophiestudium, nur um den Gelehrten Vater zu provozieren, geht er zur Polizei.

De Bodt, der jeden Morgen den Tag verflucht, an dem er beschloss Polizist zu werden, stapft emotionslos durch den Polizeialltag. Da er einer Entlassung auf Grund von Fehlverhalten oder ähnlichem gleichgültig entgegensieht, schreckt er nicht davor zurück, sich Freunde bis in die oberen Etagen der Polizeibehörde zu schaffen.

Christian von Ditfurth hat nicht an Ideen gespart und setzt Tatorte und Verbrechen blutig brutal in Szene. De Bodt macht es stutzig, dass der Fall des Attentats an den Vorständen des Chemiekonzerns nicht an das BKA übergeben wurde. Er und sein Team recherchieren und stoßen auf mögliche Motive wie Korruption, Patentrecht, Marktanteil und Konkurrenz. Im Zuge der Ermittlungen folgern sie, dass die Täter Elitepolizisten oder Söldner sein müssen.

Zeitgleich bildet sich eine Gruppe im Kanzleramt, bestehend aus BKA, Verfassungsschutz, BND und weiteren, die ebenfalls Recherchen eingeleitet haben, um die Attentäter zu ermitteln. Aber, sie müssen auch mit allen Mitteln verhindern, dass das wahre Motiv für das Attentat an die Öffentlichkeit gelangt. Ihr Ziel ist es, de Bodt und seinem Team Täter zu liefern, die nicht mehr aussagen können. Als man de Bodt im Präsidium nahelegt sich von seiner Biographie zu distanzieren, da seine Gegner einen dunklen Fleck auf seiner West gefunden haben, da er in jungen Jahren linksextremistisch aktiv war, ist de Bodt erst recht motiviert, die Täter zu überführen und die Öffentlichkeit über die schmutzigen Aktivitäten der Gruppe im Kanzleramt zu informieren.

Die Handlung ist psychologisch verstrickt, komplex und äußerst intelligent. Immer wieder muss sich der Blick des Lesers auf Neuigkeiten in der Handlung fokussieren. Besonders dramatisch und rasant wird es, als die Perspektive eines Attentäters einen großen Raum in der Handlung einnimmt.

Andre, Profilkiller und Söldner, ist einer der überlebenden Attentäter, denn Söldner-Chef Bob, der eine Spitzentruppe für dieses Attentat rekrutiert hatte, räumt gnadenlos alle Zeugen aus dem Weg. Andre versetzt sich in die Gedankenwelt Bobs und versucht ihm strategisch geschickt entgegenzutreten. Dieses Gedankenkarussell hat von Ditfurth klug geschrieben. Den Konflikt den Andre nun mit sich allein austrägt, um Bob zur Strecke zu bringen, war eine äußerst interessante und hochspannende Angelegenheit.

Die komplexe Handlung, bei der ich als Leser dennoch nie den Faden verliere, ist mit zahlreichen Figuren gesegnet, die interessante Charakterzüge aufweisen. De Bodt bleibt mir als kautziger, eher ruhiger Ermittler in Erinnerung und ich freue mich schon sehr auf „Zwei Sekunden“, den zweiten Teil der Reihe, der im August 2016 bei carl’s books erscheinen wird.

Fazit und Bewertung:

Heldenfabrik hat mir verdammt gut gefallen und mich sehr intelligent und spannend unterhalten.
Wer einen knallharten Thriller lesen mag, aber auch literarisch gut unterhalten werden möchte, der sollte zugreifen.

Veröffentlicht am 15.09.2016

Geheimnis Klabautermann – Ein ruhiger Kriminalroman

Lügengrab
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Hauptkommissar Theo Krumme lernt auf dem Weg in den Urlaub, auf der Fähre nach Hallig Hooge, Swantje kennen, dessen Verlobter an ihrem Polterabend vor drei Jahren spurlos verschwand. Zunächst gibt sich ...

Hauptkommissar Theo Krumme lernt auf dem Weg in den Urlaub, auf der Fähre nach Hallig Hooge, Swantje kennen, dessen Verlobter an ihrem Polterabend vor drei Jahren spurlos verschwand. Zunächst gibt sich Krumme nicht als Polizist zu erkennen und verstrickt sich in eine folgenschwere Lüge.

Swantje, die Freunde besuchen möchte, die ein Baby bekommen haben, trifft bald auf ihren alten Freundeskreis. Gespräche über die vergangene Zeit führen bei ihr bald zu einem berechtigten, enormem Unwohlsein, denn außer Swantje glaubt niemand, dass Marc einem Verbrechen zum Opfer gefallen sein könnte. Krumme will Swantje bei der Aufklärung um das rätselhafte Verschwinden unterstützen, doch dabei gerät er in einen wütenden Sturm, der eine dramatische Sturmflut zur Folge hat und sein Leben ist plötzlich in Gefahr.

Der Autor:

Hendrik Berg wurde 1964 in Hamburg geboren. Nach einem Studium der Geschichte in Hamburg und Madrid arbeitet er zunächst als Journalist und Werbetexter. Seit 1996 verdient er seinen Lebensunterhalt mit dem Schreiben von Drehbüchern. Er wohnt mit seiner Frau und seinen beiden Kindern in Köln. (Quelle: Goldmann Verlag)

Reflektionen:

Hendrik Berg schreibt in einer sehr angenehmen Sprache und einem sehr ansehnlichen Ausdruck. Sein Stil ist gemächlich, fast anmutig. Seine Liebe zum Detail findet man als Leser hauptsächlich in Landschaftsbeschreibungen wieder, die mir jedoch in einem Kriminalroman deutlich zu viel waren.

Durch die detailverliebte, aber sehr schöne Beschreibung der Landschaften und Örtlichkeiten war ich fast vor Ort präsent, aber, diese Erläuterungen brachten leider viel zu viele Längen mit sich, sodass ich mich zwischendurch immer mal wieder langweilte. Es passierte mir zu wenig. Ganze Kapitel waren für mich nichtssagend und die Handlung kam kaum vorwärts.

Glücklicherweise hielt ich durch, denn im letzten Drittel dieser Geschichte nahm die Geschichte an Fahrt auf. Endlich war ausreichend genug Spannung vorhanden und das Tempo steigerte sich angenehm.

Bis zu Letzt war der Kriminalroman nicht vorhersehbar und zum Showdown wartete Hendrik Berg mit einer brillanten Wendung auf, die mich sehr angenehm überraschte. Allein das letzte Drittel dieses Krimis, sicherte das vierte Bewertungssternchen.

Die Figuren, allen voran Kommissar Theo Krumme und Swantje, stammen aus fast liebevoller Feder. Sie sind äußerst sympathisch und authentisch gezeichnet. Krumme, der Kommissar der sich sehnlichst Ruhe wünscht und Swantje, die nichts lieber möchte, als das Verschwinden ihres Verlobten aufzuklären. Als Swantje den Kommissar mit zu ihren Freunden nimmt, eskaliert es. Swantje muss erkennen, dass ihre Freunde nur oberflächlich über das Wiedersehen erfreut sind. Swantje stürzt in einen tiefen Konflikt, den Hendrik Berg gut und interessant in Szene setzt.

Während Krumme recherchiert, passieren ihm allerdings Dinge, die mir etwas zu naiv vorkommen. Teilweise musste ich Handlungen des Kommissars etwas belächeln.

Die weiteren Figuren, wie die Freunde von Swantje oder die Eheleute Adam, in dessen Pension Krumme unterkommt, weisen alle einen Lebenslauf auf, so dass man als Leser an ihrem Leben teilhaben kann. Über allem schwebt immer wieder der sogenannte Klabautermann, der für die Einheimischen auf Hooge stets präsent ist, der für Krumme allerdings ein geheimnisvolles, rätselhaftes Phänomen bleibt.

Die Perspektiven wechseln nur mäßig. Ebenso mäßig warte dieser Kriminalroman mit Spannungshöhepunkten auf. Einzelne, kurze Erzählstränge bleiben bis zu Letzt unklar insofern man als Leser nicht einordnen kann, wer derjenige ist, der Überlegungen und Rückblicke formuliert. Diese Perspektive hinterließ ein geheimnisvolles, etwas gruseliges Ambiente, das die gleichmäßige, gute Spannung nährte.

Ich bin zufrieden bis zum Ende durchgehalten zu haben, denn das letzte Drittel unterhielt mich so wie ich es von einem Kriminalroman erwarte.

Fazit und Bewertung:

Ein ruhiger Kriminalroman, der durch sympathische Figuren bereichert, dem jedoch einiges mehr an schriftstellerischer Power gut getan hätte. Meine Empfehlung geht an Krimi-Fans, die unblutige und ruhigere Kriminalromane lieben.