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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 04.12.2024

Zwischen Karaoke, Langeweile und Misogynie explodiert die Stimmung

Superhits der Shōwa-Ära
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Sechs gegen Sechs heißt es in Ryu Murakamis „Superhits der Shōwa-Ära“. Den jungen Männern
Sugiyama, Ishihara, Yano, Katō, Nobue und Sugioka steht ein Sechertrupp Frauen gegenüber, die allesamt Midori heißen.
Die ...

Sechs gegen Sechs heißt es in Ryu Murakamis „Superhits der Shōwa-Ära“. Den jungen Männern
Sugiyama, Ishihara, Yano, Katō, Nobue und Sugioka steht ein Sechertrupp Frauen gegenüber, die allesamt Midori heißen.
Die Gruppe der Männer vertreibt sich ihre Zeit mit öden Zusammenkünften, die nicht viel mit Partys gemeinsam haben. Das Highlight eines jeden Abends ist für sie, wenn sich die Nachbarin im Haus gegenüber auszieht und die Nichtsnutze spannen können. Sie bewundern diese Frau, reden aber gleichzeitig abfällig über sie und Frauen im Allgemeinen.
Eines Abends ermordet einer der Männer eine der Midoris. Die Frauen schwören Rache, und zwischen den beiden Gruppen entbrennt ein Bandenkrieg, der sich auf absurde Weise potenziert und Opfer um Opfer fordert.

Zwischen Karaoke, Langeweile und Misogynie explodiert die Stimmung dieser skurrilen Geschichte. Frauen mittleren Alters gegen junge, antriebslose Versager. Mit jedem Schlagabtausch wird die Rache exzentrischer.
Ich habe von Ryū Murakami bisher noch nichts gelesen, wusste aber, dass er zusammen mit Haruki Murakami nicht nur den Nachnamen, sondern auch einen ähnlich hohen Bekanntheitsgrad teilt. Sein literarisches Schaffen widmet sich der japanischen Prekariatsliteratur, und nachdem ich mir auf Wikipedia einen kurzen Eindruck darüber verschafft habe, was es mit dieser literarischen Einordnung auf sich hat, bin ich neugierig auf mehr Bücher vom „anderen Murakami“ und weitere Werke dieser Literaturströmung.

Veröffentlicht am 04.12.2024

Erneut Therapiezwischenräume füllen

Jeder ist beziehungsfähig
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Das letzte Buch, das ich von Stefanie Stahl lesen wollte, dreht sich um den Themenkomplex Bindung und Beziehung.

Bindung ist eines der psychischen Grundbedürfnisse neben Kontrolle, Selbstbestimmung, Selbstwert ...

Das letzte Buch, das ich von Stefanie Stahl lesen wollte, dreht sich um den Themenkomplex Bindung und Beziehung.

Bindung ist eines der psychischen Grundbedürfnisse neben Kontrolle, Selbstbestimmung, Selbstwert und Lust. Erfüllte Bedürfnisse sorgen für Zufriedenheit, frustrierte Bedürfnisse können auf Dauer krank machen.
Wie so oft, liegt der Ursprung in der Vergangenheit. Bindungsangst entsteht, wenn Kinder sich zu sehr anpassen müssen. Sind Eltern nicht in der Lage, die Entwicklung ihres Kindes einfühlsam zu fördern, übernimmt das Kind unbewusst die Verantwortung dafür, dass die Beziehung zu seinen Eltern gelingt – auf Kosten von Überanpassung, Identität und eigenen Bedürfnissen.
Menschen mit problematischen Beziehungsmustern haben als Kinder nicht gelernt, dass sie eine Beziehung mitgestalten können. Im Erwachsenenalter sorgen nahe Beziehungen dann für Unsicherheiten und Probleme, die in Depressionen münden können.

Hier will Stefanie Stahls Ratgeber ansetzen und für Klarheit sorgen; will erklären, warum Betroffene mit ausgeprägtem Autonomiebestreben immer wieder aus Beziehungen ausbrechen, warum Betroffene eine irre Verlustangst entwickeln. Der Ratgeber will aber auch Lösungsansätze liefern, die das und nicht mehr sind – Ansätze. Ich merke bei diesen Büchern immer wieder, dass sie zwar geeignet sind, um ein generelles Verständnis seiner Problematiken zu bekommen und zu verstehen, was einen als Betroffenen so sehr belastet, aber die Anregungen, sich selbst einfach nur etwas besser unter die Lupe nehmen zu müssen, funktioniert eben nicht so einfach und würde viele Therapeut:innen arbeitslos machen, wenn man nur einen Ratgeber dafür durchlesen müsste.

Ich persönlich würde dieses Buch in zwei Phasen einteilen. Die erste Hälfte des Buches ist durchaus ein Kompass für Menschen, die eine Bindungsstörung bei sich vermuten. Zu Beginn einer Therapie kann es sehr helfen, seine Gefühle und die daraus entstehenden Reaktionen damit zu verorten. Die zweite Hälfte des Buches sehe ich eher als Erinnerung für Menschen, die in ihren therapeutischen Maßnahmen bereits vorangeschritten sind, eventuell eine Therapie bereits abgeschlossen haben und lediglich immer nur mal wieder eine Auffrischung ihrer Methodenkiste benötigen.

Veröffentlicht am 04.12.2024

Eine Frau, eine Stadt, ein Wille

Tsunenos Reise
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Tsuneno kommt Anfang des 19. Jahrhunderts als drittes Kind einer Priesterfamilie in der schneereichen Provinz Echigo zur Welt. So wie ihre Brüder ihren vorgezeichneten Weg als Tempelpriester einschlagen, ...

Tsuneno kommt Anfang des 19. Jahrhunderts als drittes Kind einer Priesterfamilie in der schneereichen Provinz Echigo zur Welt. So wie ihre Brüder ihren vorgezeichneten Weg als Tempelpriester einschlagen, steht Tsuneno bevor, früh verheiratet zu werden.
Sie soll in ihrem Leben fünf Mal verheiratet werden und in keiner ihrer Ehen Glück erfahren.

Tsuneno ist in den Augen ihrer Familie eine aufmüpfige Frau, sie träumt von einem aufregenden Leben in Edo und bricht irgendwann mit ihren Brüdern, um sich diesen Traum zu erfüllen.
Doch so schillernd Tsuneno sich ihr neues Zuhause vorgestellt hat, so schwer fällt es ihr, ohne die Unterstützung ihrer Familie und eines Ehemannes in der Hauptstadt Fuß zu fassen. Ihr Wille ist stärker als ihre Entbehrungen, und sie versucht sich ein selbstbestimmtes Leben aufzubauen.

Die Briefe von Tsuneno sind ein Zeugnis, das nicht nur die Stationen einer eigenwilligen Frau dokumentiert, sondern in Teilen auch die brisante Phase Japans, in welcher der Westen durch seine hohe militärische Überlegenheit die Öffnung des bis dahin abgeschotteten Japans für einen freien Handel erzwingt, die Samuraiherrschaft beendet und das Shogunat auflöst.

Möglich wurde der Einblick in das Leben Tsunenos durch die vielen Briefe wie auch Haushaltsbücher, die ihre Familie aufbewahrt hat und Amy Stanley, die mit viel Fachwissen, das bis in die Details des Alltags japanischer Familien reicht, Tsunenos Leben in dieser ungewöhnlichen Biografie rekonstruiert hat.
Tsuneno auf ihrer Reise zu begleiten, war mir ein besonderes Vergnügen, und ich kann dieses Buch allen japanophilen Leuten, die gerne lesen, nur sehr ans Herz legen!

Veröffentlicht am 04.12.2024

Eine ungleiche Freundschaft mit Träumen

Pi mal Daumen
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Oscar ist mit seinen gerade einmal 16 Jahren an der Uni etwas deplatziert, nicht aber mit seinem dicken Gehirn. Und während er mit seiner Fähigkeit, mathematische Formeln zu verstehen, hier am richtigen ...

Oscar ist mit seinen gerade einmal 16 Jahren an der Uni etwas deplatziert, nicht aber mit seinem dicken Gehirn. Und während er mit seiner Fähigkeit, mathematische Formeln zu verstehen, hier am richtigen Ort ist, ist Moni genau das nicht. Schon in der Einführungsveranstaltung des Mathematikstudiums wirkt Moni mit ihren vielen Taschen, in denen drei halbe Alltage drin stecken, und dem Kind auf dem Arm höchst deplatziert.
Doch Oscar und Moni vereint in diesem Studium eins: Beide wollen sich ihren Lebenstraum erfüllen. Während Moni mit über 50 Jahren sich einfach nur beweisen will, dass sie nicht dumm ist, strebt Oscar danach, seinen Namen mit einem Durchbruch in der Mathematik unsterblich zu machen.

Oscar ist ein höchst eigenwilliger Charakter. Er hat keine Freunde, ein distanziertes Verhältnis zu seinen Eltern, strikte Routinen und eine Abneigung gegen Leute ohne Durchhaltevermögen, die man nächste Woche sowieso nicht mehr im Vorlesungssaal sehen wird. Und auch wenn Oscar Moni Kosinsky anfangs dazu zählt, gewöhnt er sich an ihre chaotische Anwesenheit, und aus den ungleichen Studierenden werden Freunde.

Ich hab die Lesezeit mit Oscar und Moni sehr genossen und wollte gar nicht, dass es vorbei ist. Gerne hätte ich noch hundert weitere Seiten voller abstruser Situationen mit den beiden haben mögen. Diese zwei Charaktere sind ein Paradebeispiel dafür, dass sich auch die unterschiedlichsten Menschen gegenseitig etwas geben können, wenn sie sich nur ein wenig füreinander interessieren und sich die Mühe machen, sich wirklich kennenzulernen, und wieder einmal zeigt Alina Bronsky, dass ihre erdachten Figuren ihre größte Stärke in den Geschichten sind, die sie um diese herum schreibt.

Veröffentlicht am 04.12.2024

Die Geister, die uns quälen

Dschinns
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Bin ich dankbar für den feministischen Buchclub? - Ich bin. Sonst wären mir einige wichtige Details aus unserem aktuellen Buch total durchgegangen.
Aber zurück auf Anfang:
Im August stand „Dschinns“ von ...

Bin ich dankbar für den feministischen Buchclub? - Ich bin. Sonst wären mir einige wichtige Details aus unserem aktuellen Buch total durchgegangen.
Aber zurück auf Anfang:
Im August stand „Dschinns“ von Fatma Aydemir auf dem Plan:

Dreißig Jahre hat Hüseyin als Gastarbeiter in Deutschland geschuftet, den Lebensabend will er in Istanbul verbringen, inklusive Eigentumswohnung. In dem Moment, in dem alles neu eingerichtet ist, erleidet Hüseyin einen Herzinfarkt und stirbt. Nach moslemischem Brauch muss der Verstorbene noch am selben Tag in der Erde begraben werden, also reisen seine Frau Emine und die vier Kinder schnellstmöglich nach Istanbul zur Beerdigung. Tief in Gedanken macht sich jedes Familienmitglied auf den Weg. Ihre Sehnsüchte, Ängste, Wünsche und Sorgen sind unterschiedlich, doch sie alle eint jeweils ein individueller Verlust, der schon lange vor dem Tod des Vaters da war.

Mal in Rückblenden, mal im Hier und Jetzt des Romans erzählen Hüseyin, Emine, Sevda, Hakan, Peri und Ümit kapitelweise ihre Geschichte. Durch den Tod des Familienoberhaupts wagen sie sich an das bisher Ungesagte. Vernachlässigung, Queerness, Identität, Verlorenheit und Verlust sind die Lebensthemen, über die sie für sich selbst jeweils nachgrübeln. Nicht gesagt wird, wofür man noch nicht bereit ist. Was gesagt wird, entfacht einen Streit, der zum ersten Mal die Familientraumata adressiert, und was sich dabei offenbart, wird unfreiwillig direkt wieder unter Schweigen begraben.

Mehr kann ich zu diesem Roman nicht sagen, ohne zu viel seines Inhalts zu verraten. Ich konnte gar nicht anders, als mich auf jede:n der Protagonist:innen einzulassen. Auch wenn ich mit manchen mehr Vibe hatte als mit anderen, so ging mir ausnahmslos jede der Stories nahe. Der rege Austausch mit den anderen Buchclubmitgliedern hat mir zudem geholfen, manche Wendung besser einordnen zu können und ein größeres Verständnis für die Gesamtheit des Romans aufzubauen.
Mir hat das Buch über die Maßen gefallen, und ich möchte euch sagen: wenn ihr das bisher noch nicht gelesen habt – holt es nach!