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Veröffentlicht am 21.06.2025

sprachfick im kopp

bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann
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irgendwo zwischen ghettoslang und progressiver proletariatslyrik hat mir diesen titel ein zotiger bekannter, der selbst gut in dieses buch gepasst hätte, denn irgendwie ist alles ein bisschen abgefuckt, ...

irgendwo zwischen ghettoslang und progressiver proletariatslyrik hat mir diesen titel ein zotiger bekannter, der selbst gut in dieses buch gepasst hätte, denn irgendwie ist alles ein bisschen abgefuckt, und das buch ist stellenweise ein sprackfick für die hirnwindungen. der gute hatte aber auch komplett recht damit, dass ich mich beim lesen verdammt aaaaalt fühlen würde. zwar jetzt auch nicht über die maßen alt nach der letzten seite, aber ich hätte gut ein vokabelheft für all diese fremdsprache von jugendslang gebraucht, mit dem die kiddos heute so um sich ballern (bis ich raus hatte, dass molly keine mir noch nicht bekannte nebenfigur ist, hats gedauert). und weil auch die groß- und kleinschreibung keinen bumms gibt in "bruder, wenn wir nicht family sind, wer dann", setze ich diesen stil in meiner buchbesprechung fort.

vier jungs multikultureller abkunft adoleszieren in einer umgebung, mit der sie sich wenig verbunden fühlen, und so finden sie gemeinschaft untereinander und auf der straße; beim dealen, im rausch von drogen, alkohol, schlägereien und mädels. anerkennung voneinander, respekt von außenstehenden, die nicht "family" sind.

wie tagebucheinträge, die geschichten der jungs sind traurige, sind voller ernst, dabei ausweglos poetisch und mit einem verzweifelten humor getränkt. eine story so rau wie der norwegische winter, den hier und da ein durchdringender sonnenstrahl unterbricht.
nicht meine generation, aber mein lesegeschmack! Wer sich einlassen mag darauf, aus seiner bubble geholt zu werden und den horizont ungeahnt zu erweitern - read this book!

Veröffentlicht am 21.06.2025

Erinnert an "Marschlande" und "Zur See"

Stromlinien
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Enna und Jale richten ihr Leben nach der verbliebenen Zeit aus, in Jahren, Monaten, Tagen. Und jetzt sind es noch genau sechzehn Stunden, bis sich das lang erwartete Schicksal der Zwillinge erfüllen soll. ...

Enna und Jale richten ihr Leben nach der verbliebenen Zeit aus, in Jahren, Monaten, Tagen. Und jetzt sind es noch genau sechzehn Stunden, bis sich das lang erwartete Schicksal der Zwillinge erfüllen soll. Ein Aufwachsen ausgerichtet am Entlassungsdatum ihrer Mutter Alea aus der Haft.
Zur Stunde Null verschwindet nicht nur Jale, sondern auch Alea. Während Enna verbissen nach ihrer Schwester sucht, fahndet die Polizei im Falle eines nach einem auf der Elbe in seinem gesunkenen Motorboot ertrunkenen Mann.
Die Polizei will das Verschwinden von Alea und Jale mit dem Ertrunkenen in Verbindung bringen, und Enna, die keinen Grund hat, der Polizei Vertrauen zu schenken, muss sich auf sich selbst verlassen.
Sie, die noch nie ohne ihre Schwester war.
Auf der Suche nach Antworten steuert Enna mit ihrem Boot die Gewässer der Marschlande und taucht dabei tief in die Strudel ihrer Familiengeschichte ein.

Rebekka Franks „Stromlinien“ entknotet die verwobenen Stränge dreier Generationen. Facettenreiche Protagonistinnen tragen die Handlung durch mal sinnliche, mal stürmische Naturbeschreibungen, aber immer mit dem Auge auf die Flora und Fauna der Marschlande.
Schuld und Sühne, Familie, Zusammengehörigkeit und Ungebundenheit, Miss- und Vertrauen sind Worte, die mir unmittelbar einfallen. Das Buch hat einen tiefen Eindruck bei mir hinterlassen.
Zuletzt habe ich mich in Jarka Kubsowas „Marschlande“ und Dörte Hansens „Zur See“ in derart atmosphärischen Beschreibungen verloren, und wer die genannten Titel genossen hat, wird sicher auch in „Stromlinien“ ein Leseerlebnis vorfinden wie ich es tat.

Veröffentlicht am 21.06.2025

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Antifa
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Nachdem ich den Antifa-Film „Schulter an Schulter, wo der Staat versagte“ gesehen habe, hat mich auch ein Buch zum Thema interessiert, und da bot sich Richard Rohrmosers „Antifa. Porträt einer linksradikalen ...

Nachdem ich den Antifa-Film „Schulter an Schulter, wo der Staat versagte“ gesehen habe, hat mich auch ein Buch zum Thema interessiert, und da bot sich Richard Rohrmosers „Antifa. Porträt einer linksradikalen Bewegung“ an.

Rohrmosers Buch ist eine kompakte Zusammenfassung der Anfänge der Antifaschistischen Aktion im Kontext der beginnenden Radikalisierung auf rechter als auch linker Seite um 1918/19 und erneut 1932.
Besonders interessant fand ich, mit welch professionellen Methoden Anhänger:innen organisierter Antifa-Gruppierungen Informationen zu Mitgliedern der rechtsextremen Szene zusammengetragen haben und das Antifaschistische Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin gründeten. In der Erörterung der Aktivitäten speziell der norddeutschen Antifa gleichen sich Buch und Film. Die zunehmende Fremdenfeindlichkeit nach der Wiedervereinigung in den 1990er Jahren mit immens steigenden Gewaltstraftaten auf Ausländer:innen/Einwanderer:innen und Linke ist ein dunkles Jahrzehnt gewesen, an das auch ich mich rückblickend mit vielen auf Hauswände gesprühte „Türken raus“ erinnere.

Insgesamt fand ich das ein lesenswertes Taschenbuch, um sich einen Überblick über die antifaschistische Bewegung verschaffen möchte. Nach einem Gespräch mit einer Bekannten hat sich für mich jedoch abschließend die Frage eröffnet, warum der Untertitel des Buches das Wort „linksradikal“ beinhaltet. So wie nicht jede:r Konservative im Selbstverständnis NAtionalsoZI ist, so ist nicht jede:r Antifaschist:in radikal in ihrer:seiner linken Überzeugung. Falls es wen gibt, der mir die Frage beantworten kann: gerne her mit der Antwort!

Veröffentlicht am 21.06.2025

Was ist denn ein Liekesch?

Ein Liekesch für Jascha
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Ganz frisch in Deutschland, wird Jascha gastfreundschaftlich von seiner Sportlehrerin zunächst gebodyshamed - die findet nämlich seine Arme zu dürr und empfiehlt ihm Liegestütze. Er versucht sich das unbekannte ...

Ganz frisch in Deutschland, wird Jascha gastfreundschaftlich von seiner Sportlehrerin zunächst gebodyshamed - die findet nämlich seine Arme zu dürr und empfiehlt ihm Liegestütze. Er versucht sich das unbekannte Wort einzuprägen und fragt sich schon auf dem Heimweg, wie teuer so ein, was nochmal, eigentlich ist, wo man das bekommt, und zack!, hat Jascha das fremde Wort vergessen. Übrig bleibt ein Liekesch, doch auch seine Eltern wissen nicht, was dieses Liekesch sein soll. Am Sportgeschäft in der Nachbarschaft drückt sich der Junge am Schaufenster die Nase platt, um rauszufinden, ob es dort ein Liekesch zu kaufen gibt. Auf der anderen Seite der Scheibe sitzt Frank, der gerade mühsam einen Brief schreibt. Trotz Sprachbarriere freunden sich die beiden an und versuchen gemeinsam ein Liekesch für Jascha zu finden. Während Jascha Frank bewundert für seine große, trainierte Statur, hat Frank Sorgen, die sich nicht mit Muskelkraft bewältigen lassen – und so ergänzen sich der Kleine und der Große!

Was als Suche nach einem Gegenstand beginnt, endet mit einer Freundschaft zweier Menschen, die jeder für sich etwas ganz Persönliches suchen. Es ist ein dünnes Buch mit einer nachhallenden Geschichte, die richtig Spaß macht, und die schelmischen Illustrationen tragen gewinnend die Geschichte zu einem erheblichen Teil mit!

Veröffentlicht am 21.06.2025

Subtile Rollenkritik

Leichter Schwindel
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Endlos lange Seiten voller Aufzählungen der Erledigungen, die elendig langen Gänge des Supermarktes mit seinen dutzenden hunderten Artikeln. Unwichtige Dinge. Aber sind sie wirklich so unwichtig? Schließlich ...

Endlos lange Seiten voller Aufzählungen der Erledigungen, die elendig langen Gänge des Supermarktes mit seinen dutzenden hunderten Artikeln. Unwichtige Dinge. Aber sind sie wirklich so unwichtig? Schließlich sind sie Natsumis Welt, ihr ganzes Leben. Ein Hausfrauenleben.
Natsumi ist nicht unzufrieden mit diesem Leben. Ihre Ehe nimmt sie als gegeben hin und erledigt, was anfällt, zuverlässig. Hin und wieder jedoch reißt sie etwas aus der ewigen Aneinanderreihung von Pflichten und Routinen, trifft sie unvorbereitet wie ein reflektierter Sonnenstrahl, der das Auge blendet und verursacht ihr einen leichten Schwindel. Dieser Schwindel ist wie ein Blinzeln aus ihrem Alltag und lässt sie kurz innehalten. Innehalten worüber? Natsumi kann es nicht ganz erfassen. Das Unwohlsein des Schwindels manifestiert sich nie in Gedanken oder gar Worten, bleibt immer vage.

Der leichte Schwindel Natsumis darüber, wohin ihr Leben eigentlich führt, spiegelt sich in verschachtelten Sätzen wieder, die sich über eine ganze Seite oder länger erstrecken können. Die Gleichförmigkeit sich wiederholender Tage ist in eine ideale sprachliche Form übersetzt.
Unter dem Titel „Karui Memai“ erschien Mieko Kanais Werk zunächst als Fortsetzungsgeschichte in der Zeitung und 1997 als Buch bei Kodansha. Die Handlung spielt in Tokyo, könnte zur selben Zeit aber auch in Düsseldorf, Göttingen oder München stattfinden, die öde Begrenzung des Hausfrauenalltags war schließlich überall dieselbe. Wer jetzt aber denkt, „Leichter Schwindel“ ist ein Aufschrei gegen das Patriarchat und eine himmelwärts gereckte Faust, liegt weit entfernt. Mieko Kanais Geschichte ist subtil wie fein gemahlener Pfeffer, eher ein Kitzeln in der Nase denn ein lautstarkes Niesen.