Geht unter die Haut
Bis einer stirbt„Früher war alles besser“ – wie oft hört man diesen Satz, wie oft hat man ihn vielleicht schon selbst gedacht. Was ich mir immer wieder denke: Früher war vor allem vieles schwerer. Themen zu recherchieren ...
„Früher war alles besser“ – wie oft hört man diesen Satz, wie oft hat man ihn vielleicht schon selbst gedacht. Was ich mir immer wieder denke: Früher war vor allem vieles schwerer. Themen zu recherchieren oder auch verschiedene Produkte zu bestellen war nicht mit einem Klick erledigt, so wie es heute ist. Das macht vieles einfacher, aber auch gefährlicher – denn leider zählen Drogen zu den Dingen, an die man online problemlos gelangen kann. Isabell Beer hat ein Buch über ihre bislang längste Recherche geschrieben, in dem sie die Geschichte von Josh und Leyla erzählt, die sie online in einer Drogen-Community kennengelernt hat.
In vielen Büchern wird der Umgang mit Drogen meiner Meinung nach zu nachlässig gehandhabt. Ermittler, die meist gebrochene Existenzen sind und nur mit Hilfe von Alkohol und Tabak überleben können. Missbräuchlicher Alkoholkonsum, auch bei und von Jugendlichen, wird beschönigt oder verharmlost. Dieses Buch ist das krasse Gegenteil – weil es die Realität darstellt. Dem Leser wird gezeigt, dass es nicht DAS Ereignis gibt, welches einen in die Drogenszene abrutschen lässt. Vielmehr sind es viele kleine Gegebenheiten, die man anfangs nicht damit verknüpft. Die beiden Jugendlichen geben Einblicke in ihre Kindheit und reden generell sehr offen über die Geschehnisse.
Sehr authentisch zeigt dieses Buch, wie einfach es heutzutage ist, an Drogen zu kommen, ohne dass das Umfeld etwas davon mitbekommt. Es ist kein Bahnhof von Nöten, keine Hinterhofgasse und auch kein zwielichtiger Kiosk. Das Internet allein reicht schon aus. Mir selbst war das so gar nicht bewusst; in dieser Hinsicht hat mir die Autorin buchstäblich die Augen geöffnet. Aber auch, dass Josh und Leyla kein Geheimnis aus den Konsequenzen machen: soziale Isolation, den Drang, seine Grenzen immer ein Stückchen weiter zu drücken bis hin zum Kontrollverlust und die Selbstzerstörung, die sich jedoch erst viel später offenbart. Das zeichnet alles ein sehr reales Bild. Um dieses zu komplettieren, kommen nicht nur die beiden drogenabhängigen Jugendlichen zu Wort, sondern auch andere Betroffene und deren Eltern.
Isabell Beer ist es wichtig, Menschen und besonders Jugendliche aufzuklären. Sie möchte mit diesem Buch Lösungen vorgeben, insbesondere auch bereits abhängige Menschen zu schützen und ihnen einen sicheren Raum für den Konsum zu geben. Sie zeigt auf, dass sich die drogenpolitischen Zielsetzungen ändern müssen und auch in der Gesellschaft der Wandel von Stigmatisierung in Akzeptanz vorgenommen werden muss. Durch sogenannte „Konsumräume“ wird zum Beispiel dieser Ansatz in einigen Städten schon verfolgt.
Persönliches Fazit: Dieser Tatsachenbericht geht wirklich unter die Haut und ich brauchte viel länger für das Buch als normalerweise für andere. Ich musste es verinnerlichen, sacken lassen und darüber nachdenken, so sehr hat es mich betroffen gemacht. „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ von Christiane F. kann in den Schulen als Pflichtlektüre nun durch dieses zeitgemäße und nicht weniger erschreckende Buch ersetzt bzw. ergänzt werden.