Meiner persönlichen Meinung nach wollte Lottie Moggach mit „Ich bin Tess“ keinen Internet Roman schreiben. Mir scheint das Buch ist aus der Hauptfigur heraus entstanden und diese junge Frau setzt in ihrer Schrägheit und tragischen Komik Maßstäbe. Denn mit anderen zu kommunizieren findet für Leila hauptsächlich vor dem Computer statt, ansonsten meidet sie Menschen. Leila versteht alles wörtlich, ist Empathie befreit, kennt keine Konventionen, verhält sich bisweilen unhöflich und wirkt ruppig im Umgang. Ihre Direktheit paart sich mit der Naivität einer emotional Unreifen, die im starken Kontrast zu ihrer Intelligenz steht.
Leila verdient ihr Geld mit ihrer Detailversessenheit, indem sie Softwarefehler findet und sagt was sie denkt, auch in den unpassendsten Situationen. Schließlich kennt sie nur schwarz und weiß. Ganz oder gar nicht. Was sich in endlosen World of Warcraft Spielen widerspiegelt. Das Alleinsein macht Leila wenig aus, ihre Scheuklappenmentalität ist denkwürdig. Zudem ernährt sie sich miserabel, ist übergewichtig und Bekleidungsfragen hält sie für deutlich überbewertet. Keine Protagonistin von der Stange, also. Ihre Verkopftheit, die soziale Interaktion führt manchmal zu peinlichen Situationen. Oft trifft sie irrationale Entscheidungen aufgrund zwischenmenschlicher Missverständnisse. Dabei hat sie einen so klaren Verstand, der auf Logik und Sachbezogenheit aufbaut.
Gerne möchte Leila ihr rationale Seite und ihr Wissen mit Gleichgesinnten teilen und so sucht sie sich nach dem dahinscheiden der Mutter ein Internetforum auf, dessen User sich philosophischer Fragen verschrieben haben. Hier findet Leila zum ersten Mal in ihrer Außenwelt Anerkennung. Sie tritt sogar mit dem ominösen Gründer der Gruppe in direkten Kontakt. Von Angesicht zu Angesicht stellt ihr Adrian die seltsame Frage, ob sie bereit wäre einer sterbewilligen Frau ein verlängertes Leben im Internet zu schenken, damit Freunde und Verwandte von ihrem Ableben unbehelligt bleiben. Wozu Ihnen Kummer machen?
Geschmeichelt von Adrians warmen Worten stimmt Leila dem Ansinnen zu. Sofort beginnt die Tu- und Denkmaschine mit der Arbeit. Ohne Tess zu kennen, forscht sie deren soziales Umfeld aus. Tess ist in vielem das genaue Gegenteil von Leila. Schön, beliebt und erfolgreich. Die Männer lieben Tess. Doch kapitulieren sie vor der bipolaren Störung, die Tess beseelt. Sie will unbedingt sterben. Leila nennt den Todeszeitpunkt ganz in ihrer rationale Denktradition: „Das Auschecken“ und ein Spiel der Identitäten im Internet beginnt, in der Leila ihre seelische Leere mit dem Leben einer ihr im Grunde Fremden aufzufüllen beginnt: Tess, die bald darauf verschwindet. Aber ist Tess auch wirklich tot?
Mit „Ich bin Tess“ hat Lottie Moggach ein außergewöhnliches Romandebut vorgelegt. Dabei geht sie mit der „Ich“-Erzählerin Leila ein enorm hohes Risiko ein. Denn Leila ist anders, fast scheint es, sie befände sich mit ihrer beziehungskillenden Ader auf dem falschen Planeten. Leilas Eigenwilligkeit spiegelt sich natürlich auch im Erzählstil wieder, der auf Emotionen lange Zeit verzichtet und etwas sprunghaft daher kommt. Dafür ist er eben authentisch.
Hätte der Verlag gut daran getan, den Leser mit einem psychologischen Etikett für die Protagonistin vorzuwarnen? Vielleicht. So werden viele Uneingeweihte anfänglich durch den Roman stolpern, um die üblichen Fixpunkte eines Romans wiederzufinden. Also Gefühle und Spannung. Den zweiten Punkt liefert das Buch im Übermaß. Gefühle gibt es in der Schlussphase. Die Szene, als Leila versucht einen im Grunde unbekannten Mann mit rationalen Argumenten versucht an sich zu binden und eine peinliche Abfuhr erlebt hat mich wirklich berührt. Da habe ich die ganze Tragik Leilas begriffen, sie gefühlt, miterlebt und erlitten.
Insgesamt konnte mich das Buch überzeugen. Ich habe selten in Romanform eine so genaue Charakterstudie über Menschen, wie Leila gelesen. Ihre Entwicklung, dieser Sog, den die Internetaktivitäten auf den weiblichen Computer Nerd Leila hat, das immer stärkere Vergessen des eigenen, schwach ausgeprägten „Ich‘s“ und das bereitwillige Auffüllen der eigenen Leere mit dem Leben einer Lebensmüden kommt authentisch daher und ist hervorragend geschrieben.
„Ich bin Tess“ ist dabei viel weniger ein Internet Roman, als ein psychologisches Abenteuer, dass so nur durch das Internet stattfinden kann. Hier wird manipuliert, betrogen und gelogen. Die eigene Identität mutiert im virtuellen Raum zur Knetmasse oder einem Rettungsring in der Beziehungslosigkeit. Ganz nach Belieben. So ergeht oder gestaltet es auch Leila, die von sich und ihrer tiefen Entwicklungsstörung weniger weiß, wie von dem Ausgehverhalten und dem Männergeschmack einer wildfremden Frau.
Ich habe dem Roman im Grunde wenig vorzuwerfen. Das Leben der Hauptfigur hat mich einfach gepackt. Allerdings wird durch die gewählte „Ich“-Erzählperspektive Potenzial bei dem meiner Meinung nach nicht minder interessanten Tess und Adrian verschenkt. Lottie Moggach hat es anders entschieden und mir einen sehr unterhaltsamen Roman geschenkt.