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Veröffentlicht am 14.05.2019

Eindringlich und vielfältig

Wir sind ja nicht zum Spaß hier
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Ich sag's mal so: Irgendwann, so nach ca. einem Drittel des Buches, habe ich angefangen, die Texte, die mir "richtig gut" gefallen haben, im Inhaltsverzeichnis mit einem Kreuz zu versehen. Jetzt bin ich ...

Ich sag's mal so: Irgendwann, so nach ca. einem Drittel des Buches, habe ich angefangen, die Texte, die mir "richtig gut" gefallen haben, im Inhaltsverzeichnis mit einem Kreuz zu versehen. Jetzt bin ich durch und habe wohl so rund 2/3 der Texte markiert. Die vorliegende Auswahl umfasst ein "Best of" aus verschiedenen Publikationen, für die Herr Yücel tätig war. Es gibt zahlreiche alte/ältere Texte, grob thematisch sortiert, einen (wirklich sehr eindringlichen) Themenblock über die Türkei während der 2013er Proteste und der Zeit danach (der Unterschied in Stimmung, Sprache und Intention zwischen den hoffnungsvollen, optimistischen Texten aus 2013, und den Texten nach dem Putsch ist schon bedrückend) sowie einige wenige Texte aus seiner Zeit im Gefängnis.

Er schreibt eindringlich, sehr vielfältig (sowohl, was die Themenauswahl als auch die Darstellungsform angeht) und mit einem mir sehr genehmen bissigen Humor (der, wie wir ja wissen, nicht von allen verstanden bzw. gerne auch mal instrumentalisiert wird - was dann, am wohl bekanntesten Beispiel des "kontroversesten" Textes dieses Bandes "Super, Deutschland schafft sich ab", eine wundervolle ironische Metaebene bekommt, wenn diese "Kritik" den Kern dieses satirischen Textes bestätigt...).

Grundsätzlich haben mir gerade diese Texte am besten gefallen, in denen er die Finger selbstkritisch in deutsche Wunden legt und/oder sich sozialen/gesellschaftlichen Themen zuwendet. Eines der Highlights war für dabei die Aufzählungen der Verfehlungen bisherigen Bundespräsidenten (Jasager, Ausrutscher, Saubermänner) - geschrieben zum Ende der "Ära Wulff", dem ja nachgesagt wurde, er habe "das präsidiale Amt beschädigt"... gut, dass Herrn Yücel da noch ein paar ganz andere Kaliber einfallen. Andere Highlights: Dieses verdammte, beschissene "Aber" (zur Instrumentalisierung der Charlie-Hebdo-Opfer durch rechte Individuen, denen linke Satire sonst am Allerwertesten vorbei geht, die aber am lautesten brüllen, wenn sie, aus welchen Gründen auch immer, Flagge gegen Andersgläubige zeigen können) und "Lasst die Bälle hüpfen" - eine wunderbare Replik auf sexistische Berichterstattung im Frauenfußball. Sehr schön auch die satirisch-bösen Länderporträts, hier am Beispiel von Italien, Kroatien und Österreich.

Nun, Herr Yücel ist und bleibt wohl für viele ein Politikum mit hohem Aufregerpotenzial, was ja auch die teils völlig substanzlosen 1-Stern-"Kritiken" auf Amazon beweisen. Schön wäre es, sich bei einer Rezension von sowas etwas frei zu machen, oder es zumindest nicht zum einzigen Gegenstand der Rezension zu machen. Aber wer kann das schon? Ich selbst ja auch nicht, gebe ich ganz offen zu, denn ohne dieses ganze "Drumherum" wäre ich vermutlich gar nicht auf das Buch aufmerksam geworden - wobei, wer weiß, ob es ohne dies "Drumherum" überhaupt jemals veröffentlicht worden wäre.

Mir hat's jedenfalls sehr gut gefallen. Und ich freue mich, dass Herr Yücel wieder frei ist. Und hoffentlich bald wieder schreibt, seine Stimme wird gebraucht. Und die Mission geht sowieso weiter: #freealljournalists

Veröffentlicht am 14.05.2019

Ich bin total begeistert.

Heftig deftig
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Heutzutage denke ich ja oft: "Wozu brauche ich überhaupt noch Kochbücher, bei dem Überangebot an Rezepten und Tipps online, die so schnell zur Verfügung stehen?" Und dann stolpere ich durch Zufall über ...

Heutzutage denke ich ja oft: "Wozu brauche ich überhaupt noch Kochbücher, bei dem Überangebot an Rezepten und Tipps online, die so schnell zur Verfügung stehen?" Und dann stolpere ich durch Zufall über so ein Werk und weiß wieder genau, warum es manchmal eben doch ein Buch sein muss: Weil es manchmal nicht nur um "das schnelle Rezept mal eben", sondern um das Kennenlernen eines neuen, großen Themas geht.

Das Thema hier ist Umami, der fünfte Geschmackssinn, das sogenannte "Fleischige", das Würzige, das Deftige, also das, was in den meisten unserer Küchen in Westeuropa vornehmlich durch den Einsatz von Geschmacksverstärkern wie künstlichem Glutamat hervorgekitzelt wird. Darauf kann ich gut verzichten (also, auf das künstliche Glutamat), und Copien zeigt, wie das geht, wie man Umami nicht nur auf natürliche, sondern dazu auch noch auf ganz vegane Weise erzeugt.

Nun muss ich sagen, dass wir erst zwei Rezepte aus der recht umfangreichen Sammlung ausprobiert haben, aber schon die waren so unfassbar gut, mmmmh. Kochsud plus Marinade für Sojasteaks zum Grillen waren so lecker, würzig und deftig - ich habe endlich "meine" vegane Grillalternative für alle Gelegenheiten gefunden. Unfassbar lecker, fanden auch meine eher omnivoren Mitgriller - "Wie, da ist kein Fleisch dran, aber das schmeckt doch so?" Ja, willkommen in der Welt der Würzzauber ;)

Als Zweites haben wir das vegane Kimchi angesetzt. Das ist ja schon fast mehr Kunst als Kochen. Die Einkäufe, die Vorbereitungen, das Ansetzen und spätere Beobachten, wie es blubbert und "arbeitet" - hey, ich koche nicht nur, ich fermentiere jetzt. Ergebnis: Ein scharfer-saurer Kohl, der grandios schmeckt und so ziemlich jede Mahlzeit nochmal toppen kann. Viele weitere Rezepte werden sehr bald ausprobiert, meine to-do-Liste ist gut gefüllt :)

Hinzu kommt die generelle Aufmachung, Gliederung und Gestaltung des Buches. Copien erklärt erstmal ein bisschen was Grundsätzliches, sehr strukturiert, sympathisch und hilfreich. Verschiedene Zubereitungsarten werden erläutert, ein "Grundstock" aufgebaut, es gibt eine Liste, welche Zutaten untereinander ausgetauscht werden können - gerade Letzteres finde ich super praktisch, wenn man was nicht mag oder nicht da hat. Die Rezepte sind grob in Gruppen unterteilt, wobei hier weder Menüfolge noch Hauptzutat, sondern einzig und allein die Zubereitung (gebraten, gegrillt, geräuchert usw) ausschlaggebend ist.

Zwei Extras noch, die mir sehr zusagen und die ich so auch noch nicht oft in Kochbüchern gesehen habe: Bei Gewichtsangaben bezieht sich Copien ausdrücklich auf die direkt zu verarbeitende Menge, also ohne "Abfall" - 400 g Kartoffeln sind die 400 g, die dann auch im Topf landen, denn jeder schält anders. Klingt ja bestechend logisch. Und: er kocht nach Mis en Place, also erst alles komplett vorbereiten, bevor es ans eigentliche Zubereiten geht (nix mit "Während das Öl in der Pfanne erhitzt, schnell drei Kilo Zwiebeln schälen" oder ähnlicher Stumpfsinn der, zumindest bei mir, sowieso nie klappt).

Ein Wort noch für alle Bilderfans: Es gibt nicht zu jeden Rezept ein Bild des fertigen Gerichts. Mir persönlich ist das nicht so wichtig, ich finde eine gute Anleitung wichtiger, und die ist hier gegeben. Aber viele mögen oder brauchen Bilder zur Orientierung, deshalb wollte ich es nicht unerwähnt lassen.

Fazit: Ein sehr lohnenswertes Buch, das genau die Art von Rezepten vereint, nach denen ich schon länger gesucht habe. So, und jetzt habe ich Hunger.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Lesenwert und sehr informativ

#ichbinhier
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Gut zusammenfasstes, ansprechend lesbares Buch über verschiedene Themenkomplexe zu Hatespeech im Internet (v.a. auf Facebook).

Im Mittelpunkt steht die namensgebende Gruppe #ichbinhier, deren Mitglieder ...

Gut zusammenfasstes, ansprechend lesbares Buch über verschiedene Themenkomplexe zu Hatespeech im Internet (v.a. auf Facebook).

Im Mittelpunkt steht die namensgebende Gruppe #ichbinhier, deren Mitglieder (nach schwedischem Vorbild) den mühsamen Kampf gegen Hasskommentare auf facebook (hier vor allem auf den großen, meist unmodierten Medienseiten) angenommen haben. Gemeinsam versuchen sie, Fake News zu entlarven, Hass zu entkräften und allgemein für eine bessere Diskissionskultur zu sorgen. Von der Idee und Gründung der Gruppe über ihre bisherige Geschichte bis hin zum status quo und den bislang schon erreichten Erfolgen und weiteren generellen Zielen erzählt dieses Buch.

Gleichzeitig gibt es einen guten Überblick über "Hass im Netz". Es gibt einen geschichtlichen Rückblick (u.a. mit 4chan und Gamergate), erklärt Bedeutung und Vorgehensweisen von Trollen (ob "privat" oder im großen Stil organisiert), auch Bots und Botfabriken sind ein großes Thema (auch im Hinblick auf jüngere Ereignisse, wie die Einflußnahme auf den jüngsten US-Wahlkampf oder weitere aktuelle Themen). Diesen Überblick würde ich unbedingt allen empfehlen, die die ganze Thematik mit einem "ach, so schlimm kann das doch alles gar nicht sein" abtun (oder sich dem Thema überhaupt erstmal nähern wollen und nicht wissen, wie oder wo) - hier wird gut erklärt, warum das alles genauso so, wenn nicht noch schlimmer ist, als viele Menschen meinen.

Ein weiteres Thema ist der sehr kritische Blick auf die Rolle von Facebook (und Google). Auch hier wird gut erläutert, warum das Unternehmen, gerade nach den Vorfällen der jüngsten Zeit, so viel Kritik erfährt und warum es sich seiner Verantwortung noch lange nicht genug stellt. Abgerundet wird das Ganze durch praktische Tipps zum Umgang mit Trollen und Hasskommentaren.

Lesenwert und sehr informativ, auch wenn mir vieles davon bekannt war - die Zusammenfassung hat als Auffrischung richtig gut getan.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Ein wichtiges Buch, das gar nicht weit genug verbreitet werden kann.

Inside AfD
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Ein gutes, wichtiges, und sehr informatives Buch. Teils Sachstandbericht der Lage in Ostdeutschland und der Nach-Wende-Generation, teils Abbitte und Gewissenserleichterung und ganz viel Abrechnung mit ...

Ein gutes, wichtiges, und sehr informatives Buch. Teils Sachstandbericht der Lage in Ostdeutschland und der Nach-Wende-Generation, teils Abbitte und Gewissenserleichterung und ganz viel Abrechnung mit und Warnung vor der AfD. Wobei das vielleicht nicht ganz treffend formuliert ist, schwingt doch in Abrechnung immer etwas von Rache mit, von verbitterter Nachrede nach dem enttäuschenden Verlust von Idealen. Darum geht es Franziska Schneider nicht in erster Linie - natürlich ist sie enttäuscht, dass die Partei, in die sie einst aus Unzufriedenheit gegen vorherrschende wirtschafts- und europapolitische Politik eintrat, sich so extrem gewandelt hat. Und natürlich sind da viele Vorwürfe gegen die, die es - unabsichtlich, aus eigener Machtgier oder berechnender Kalkulation - so weit haben kommen lassen. Aber zum großen Teil ist dieses Buch auch eine Abrechnung mit der Autorin selbst: Wie konnte ich mich soweit verbiegen, wieso habe ich mich so weit treiben lassen? Und da wirkt es als mahnendes Beispiel, als Warnung für alle, die nach wie vor mit dieser Partei liebäugeln. Wobei mir, bei allem Lob, auch nicht alles gefällt, z.B. finde ich die Darstellung von Frau Petry als zu positiv, und auch die grundsätzliche libertäre Einstellung von Frau Schreiber ist nicht meins. Abgesehen davon ist das Buch aber sehr ansprechend geschrieben.

Franziska Schneider, immerhin die ehemalige Vorsitzende der Jungen Alternative Sachsen, hat den Absprung geschafft. Sie war mutig und stark genug, sich selbst und ihre Wandlung zu hinterfragen und endlich auch die Kritik von außen anzunehmen. In diesem Buch stecken, neben zahlreichen interessanten Fakten und Verweisen, auch viel ungeschönte Selbstreflexion und Bedauern. Stimmen wie ihre müssen noch lauter werden, damit es auch der letzte desillusionierte Mensch hört, der nach wie vor glaubt, mit einer Stimme für die AfD könnte man eine Art von "Protest" ausüben. Wahr ist: Er oder sie stärkt damit nur die Neurechten.

Für politisch interessierte Menschen ist das natürlich nichts Neues. Vieles in dem Buch findet sich so oder ähnlich auch an anderer Stelle, sei es in Artikeln, Magazinen oder Büchern. Trotzdem ist dieses Buch durchaus eine Bereicherung, denn zum einen bietet der Blickwinkel von ganz innen natürlich noch einmal ganz neue Perspektiven. Zum anderen dient die ganz persönliche Geschichte von Frau Schreiber gut als warnendes Beispiel. Nicht zuletzt sind es natürlich die kleinen Extra-Insider-Happen, die auch dieses Werk bietet (u.a. hat Frau Schreiber die ganze Debatte um Verfassungsschutzchef Hans-Georg Maaßen ja überhaupt erst richtig ins Rollen gebracht, indem sie seine geheimen Treffen mit Frauke Petry hier öffentlich gemacht hat).

Drei inhaltliche Punkte möchte ich besonders hervorheben:

- ziemlich am Anfang beschreibt Franziska Schreiber - geboren 1990 in Dresden - die Gefühlslage vieler ostdeutscher Menschen, vor allem auch der Nach-Wende-Generation, die den rasanten Aufstieg der AfD im Osten überhaupt erst ermöglicht haben. Das war ein für mich sehr erhellendes Kapitel mit vielen neuen Informationen und Aspekten, die ich so tatsächlich noch nie bedacht habe. Ähnliches habe ich nach Trumps Wahl zum Präsidenten der USA gelesen - wie konnte es soweit kommen, warum hat er in bestimmten Gebieten so viele Stimmen erhalten, was ist da mit den Leuten los? Da geht es um mehr als verletzten Stolz, eher um das Gefühl, nicht beachtet und/oder nicht gefragt/mitgenommen, also vergessen worden zu sein. Das hat mich an diesen Teil des Buches erinnert, der einiges, wenn doch für mich nicht nachvollziehbarer, so doch bis zu einem gewissen Grad verständlicher bzw. erklärbarer macht.

- das Leben in der rechten Filterblase, mit der Partei als Familienersatz (die biologische hat schließlich längst kein Verständnis mehr) wird sehr detailliert beschrieben. Schreiber hadert nach wie vor mit der Frage, wie sie sich überhaupt soweit treiben lassen konnte und übernimmt den Großteil der Verantwortung dafür durchaus selbst, zeigt jedoch gleichzeitig, wie die Partei und ihre Blase das nicht nur begünstigt, sondern regelrecht befördert hat. Erschreckend.

- noch erschreckender ist nur das, was eigentlich sowieso klar ist, auch wenn die AfD es nach wie vor (mal mehr, doch immer weniger halbherzig) versucht, anders darzustellen: Es ist eine Partei, die nicht nur rechtsextreme Züge hat, sondern geradezu unterwandert ist. Verbindungen zu PEGIDA, der Identitären Bewegung, der NPD, Die Freiheit undundund... in diesem Buch sind zahlreiche Beispiele zu finden. Seien es persönliche Verstrickungen (wer bekleidet welches Amt) oder "verbale Ausfälle" (wer hat was gesagt und mit welchen Konsquenzen? Spoiler: in 95% der Fälle gab es keine) - hier ist alles noch einmal wunderbar zusammengefasst. Man liest es, möchte Max Liebermann zitieren und fasst sich an den Kopf.

Ein wichtiges Buch, das gar nicht weit genug verbreitet werden kann.

Veröffentlicht am 14.05.2019

Eine schier unglaubliche Geschichte

Die Hungrigen und die Satten
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Eine schier unglaubliche Geschichte, die mich - ich kann es nicht besser beschreiben - ziemlich mitgenommen hat. Im Sinne von: gepackt, abgeholt, beeindruckt. Ganz kurz umschrieben geht es vordergründig ...

Eine schier unglaubliche Geschichte, die mich - ich kann es nicht besser beschreiben - ziemlich mitgenommen hat. Im Sinne von: gepackt, abgeholt, beeindruckt. Ganz kurz umschrieben geht es vordergründig um die nahe, leider nur allzu vorstellbare Zukunft, in der Europa seine Grenzen abgeschottet hat und Millionen Menschen in Riesenflüchtlingslagern in Afrika vor sich hin vegetieren. Ohne Perspektive oder Hoffnung auf irgendwas nutzen 150.000 von ihnen die Anwesenheit eines deutschen Fernsehstars, um medienwirksam in Richtung Europa zu marschieren.

Ich hatte von Beginn an 1.000 Fragen, die sich, neben dem ganz allgemeinen wieso, weshalb, warum, so ziemlich alle mit der Logistik dieses Unterfangens beschäftigten. Und fast alle Fragen wurden im Laufe dieses Buches mehr oder weniger ausführlich beantwortet oder zumindest soweit erklärt, dass ich zufrieden war. Allein das hat mich schon sehr beeindruckt.

Das Buch wird oft als Satire beschrieben, doch das trifft es für mich nicht ganz. Auch würde ich es nicht in erster Linie als "Humor" einsortieren. Natürlich sind fast alle Charaktere sehr überspitzt gezeichnet, an der Grenze zum Albernen, und ich kann durchaus nachvollziehen, dass das vielen Lesenden auf die Nerven gegangen ist - hatte ich in anderen Büchern auch schon so. Hier nicht, aus zwei Gründen: Zum einen finde ich, als medieninteressierter Mensch, die grotesken Zeichnungen der Medienschaffenden herrlich absurd. (Allein die Gedankengänge einer Astrid von Roëll sind so verbogen, abgedreht und treffsicher neben allem, was guten Geschmack oder gesunden Menschenverstand ausmacht, dass es fast zu schön ist, um wahr zu sein - und dann surft man ein wenig auf www.topfvollgold.de und denkt sich "ach ne, geht noch schlimmer". Die Passagen der von Roëll gehören übrigens für mich auch für die am besten gelesenen Kapitel von Christoph Maria Herbst, wie er das vorträgt, ist allergrößtes Kino.)

Der zweite Grund, warum ich auch nach 300+ Seiten das gruselige Englisch und die grenzenlose Naivität von Nadeche Hackenbusch ertragen konnte: Sie ist dadurch auch ein bisschen mein "Engel im Elend" geworden, mein kleiner Lichtblick, der zum leicht genervten Augenrollen, aber eben auch leicht verschmitzen Grinsen inmitten all dieses Trübsals animiert. Denn das große Ganze, das eigentliche Thema dieses Buches, ist alles andere als lustig. Deshalb konnte ich auch nicht wirklich laut lachen, an keiner Stelle - was allerdings nicht als negative Kritik zu verstehen ist! Ein paar amüsante Running Gags haben mir durchaus Freude bereitet (die Ergüsse der von Roëll, oder die "eigentlich zuverlässige Anke"...), aber "Lol"? Dafür war es mir zu ernst, zu "real", zu bedrohlich, zu "wie soll das ausgehen"? Dafür brauchte ich Nerv-Nadeche und Co., zur Auflockerung von meinen düsteren Gedanken, die diese Thematik, diese Idee, diese Beschreibung in mir ausgelöst hat. So gesehen empfand ich das absurd-alberne hier sehr willkommen.

Oben habe ich geschrieben, dass es vordergründig um den Zug geht. Der Zug als Symbol für Menschen, die so wenig Perspektiven haben, dass sie sich auf dieses schier unmögliche Unterfangen einlassen. Und wie gehen wir, die reichen Nationen damit um, außer, es als TV-Highlight des Jahres zu begaffen und gaaanz viele Werbeeinnahmen zu generieren? Ja, hier wird ein ganz großer Spiegel aufgefahren. Hier wird die Flüchtlingspolitik zynisch-böse kommentiert. Der kluge Innenminister Leubl bringt es auf den Punkt, wenn er (in etwa) sagt: Die Flüchtlinge kommen, und sie werden das Land verändern, so oder so. Entweder, weil sie dann irgendwann da sind, oder, weil die durch den Treck noch mehr erstarkten Rechten sie irgendwie daran hindern. Der Zug wird Deutschland also auf jeden Fall zu einem anderen Land machen, die Frage ist nur, zu welchem... Das hat gesessen. Wie auch einige der großen Plotpoints [achtung inhaltlicher SPOILER: (view spoiler)] und natürlich das Ende.

Ein sehr beeindruckendes, kluges, goteskes, aber auch böses und zynisches Buch, das mich sehr nachdenklich gemacht hat, nicht zuletzt, weil es so real scheint. In Er ist wieder da hat Timur Vermes 2012 durchgesponnen, wie "leicht" ein wiederauferstandener Hitler in der heutigen Zeit erneut aufsteigen könnte. 2012 schien das noch sehr überspitzt und grotesk, wie schnell er Medien und Menschen für sich gewinnen konnte. 2018 schaue ich mir rechte Politiker und Parteien und die mediale Aufmerksamkeit, die sie erhalten, an, und es schüttelt mich. Und jetzt dieses Buch, auch wieder so nah dran, so "was wäre wenn...". Schauen wir mal, was die nächsten fünf Jahre passiert und treffen uns dann hier wieder. Mir ist jetzt schon ein bisschen mulmig.

Um mit positiven Vibes zu enden: Christoph Maria Herbst, yeah! Super gelesen, und da war einiges gefordert: Sehr viele Sprechrollen, Stimmungen, Dialekte. Und er hat sie alle gut geliefert, das war eine Freude, da zuzuhören.