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Veröffentlicht am 13.10.2019

Gerne wieder, gerne mehr!

Nach Notat zu Bett
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Das vorliegende "Tagebuch" beschreibt ein Jahr im Leben eines misanthropischen, sich nach mehr Anerkennung sehnenden Autors. Angelegt an die Tagebücher "großer Männer aus der Vergangenheit" (von F. Kafka ...

Das vorliegende "Tagebuch" beschreibt ein Jahr im Leben eines misanthropischen, sich nach mehr Anerkennung sehnenden Autors. Angelegt an die Tagebücher "großer Männer aus der Vergangenheit" (von F. Kafka über R. Burton bis hin zu A. Speer), verkommt der Inhalt größtenteils zur wahnwitzigen Nichtigkeit: Was wurde gegessen (fast ausschließlich Gerichte, die in ihrer alltäglichen Dekadenz an Mahle vergangener Zeiten erinnern), mit wem wurde kommuniziert (ferndmündlich oder per Brief), wem wurde die Aufwartung gemacht, wie war der (Durch)schlaf, wie das aktuelle Gesundheitsbefinden, wie lief der Fortschritt am aktuellen Buch? Was wurde außerdem konsumiert? Jede Menge Alkohol (Eichmaß etwa "heute nur eine Flasche Rotwein"). Dazu die gewohnten Alltagsbeobachtungen à la Strunk: Kommentare von und zu anderen Menschen, Personengruppen, Fernsehsendungen, Prominenten, Büchern. Der typische biographische Hauch schimmert hier und da durch, aber zumindest beim Alkoholkonsum hoffe ich, um des Autors willen, auf maßlose Übertreibung. Cheers!

Klingt vielleicht öde, belanglos, ohne Überraschungen - hätte es auch werden können, wenn sich irgendwer daran versucht hätte. Aber das ist Strunk, und was soll ich sagen? Auf amazon habe ich in der Rezension von "UlivonBoedefeld" diesen treffenden Satz gelesen: "Wer Strunk begreift, kann die Zeit zwischen Geburt und Tod recht erbaulich gestalten." Und so ist es. Humor ist Ansichtssache usw. usf., aber für Strunk braucht es vermutlich mehr als eine bestimmte Geschmacksfrage, es braucht die Bereitschaft, dahin zu gehen, wo es weh tut, für alle Beteiligten. Umso schöner, wenn der Schmerz dann nachlässt. Ergibt wenig bis gar keinen Sinn? Macht nichts, tut die "Intimschatulle" auch nicht. Dann aber irgendwie doch. Strunk eben.

Sicher nichts für das erste Kennenlernen mit dem Heinzer, es ist schon speziell. Für mich als mittlerweile halbwegs erprobte Strunk-Kennerin war jeder Blick in die Schatulle ein Genuß. Helmuth Zierl, Ficksahne, die "Fragen des Tages", die Google-Suchverläufe, Spock undundund oderoderoder. Highlighteinspieler: der Jugendflirt Meike Kohl-Richer. Grandios.

Gehört wie immer, na klar, als Audiobuch. Gelesen wie immer, na klar, vom Autor selbst. Diese Worte! Diese Schnauze! Diese Sprüche! Gerne wieder, gerne mehr!

Veröffentlicht am 13.10.2019

Schade!

Kintsugi
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Ach, schade. Da habe ich mir deutlich mehr von versprochen, dass ich mehr drin bin, mehr mitleide, mehr "dabei bin". Aber dieses Buch wollte mich irgendwie nicht richtig mitnehmen. Da war diese kühle Distanz, ...

Ach, schade. Da habe ich mir deutlich mehr von versprochen, dass ich mehr drin bin, mehr mitleide, mehr "dabei bin". Aber dieses Buch wollte mich irgendwie nicht richtig mitnehmen. Da war diese kühle Distanz, die immer zwischen uns stand.

Kintsugi ist es "kleines" Buch, begrenzt in Sachen Raum und handelnder Charaktere. Ein Kammerspiel in einem Haus an einem See in der Uckermark, mit vier Menschen, die einander seit 20 Jahren zugewandt sind und sich in- und auswendig kennen. Denken sie zumindest. Doch weder Max und Reik, das hausbesitzende schwule Paar, noch Reiks bester Freund Tonio oder seine Tochter Pega - von Beginn an von dem Trio quasi co-aufgezogen - sind so ganz ehrlich. Nicht gegenüber den anderen, aber auch nicht immer gegenüber sich selbst. Und so kommen sie dann doch ans Tageslicht, die verborgenen Dinge, die den Dynamiken der Gruppe ganz neue Richtungen verleihen.

Das hörte sich alles ganz toll an, und ging auch gut los. Ich war voll und ganz bereit, mich komplett auf die vier einzulassen. Aber ich kam einfach nicht richtig ran. Die Charaktere blieben mir fremd, sie haben keine Gefühle in mir ausgelöst - und das ist es, was ich von Büchern erwarte. Die Dynamiken zwischen den Figuren, ihre Bewegungen zueinander hin und wieder weg - ich stand am Rande und habe es zur Kenntnis genommen. Mehr leider nicht.

Stilistisch war das größtenteils okay, grob untereilt ist das Buch in vier große Kapitel, in denen jede Figur abwechselnd einen langen Monolog halten darf. Diese geben Einblicke in Vergangenes und die daraus entstandenen Konsequenzen. Hier und da wurde mir etwas zu viel ausgeholt, die Charaktere erschienen mir dann zu weit weg. Zwar waren sie auch in diesen Szenen fast nie allein, dann aber doch - Interaktion findet nur wenig statt, die Handlung spielt sich auf einer tieferen, inneren, sehr intimen Ebene ab - und eben da bin ich nicht richtig rangekommen.

Die psychische Erkrankung eines Charakters wurde etwas - für mich - zu stark metaphorisch behandelt. Was mich persönlich überfordert hat, waren die Stilbrüche zwischen den großen Kapiteln. Als eine Art Bindeglied wird eine kürzere Szene in Form eines Theaterstücks dargestellt. Plötzlich reden alle vier durcheinander, es herrscht regen Treiben, Aktivität überall - das war mir zu plötzlich zu viel - als ob plötzlich die Linse aufgerissen wird, mir die Totale bunt und grell entgegen springt und ich keine Sonnenbrille dabei habe.

Schließlich hatte mir das letzte Kapitel zu sehr etwas von "Kreis schließen". Der Titel, "Kintsugi", bedeutet die Kunst, zerbrochene Teeschalen mit Goldlack zu reparieren. Und Brüche, wieder Zusammengekittetes usw. waren auch der rote Faden. Da hätte ich mir am Ende noch etwas mehr Bruch gewünscht - so ergab sich eine Kette, in der Charakter 1 Charakter 2 beleuchtete usw., bis das letzte Kapitel den "Schlussbogen" spannte. Ich hatte gehofft, dass es genau so nicht kommt, das war mir zu "rund".

Abgesehen davon liest sich die Geschichte sich sehr gefällig, und ich bin mir sicher, dass andere Menschen daran sicher mehr Freude haben werden als ich. Ich kann auch nicht sagen, dass es mir überhaupt nicht gefallen hat - es hat mich nur nicht besonders angesprochen und leider zu kalt gelassen.

Veröffentlicht am 25.09.2019

Trifft genau meinen Geschmack.

Brüder
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>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)

>>>Nominiert für den Deutschen Buchpreis 2019 (Shortlist)<<<

Meine Begegnung mit diesem Buch möchte ich wie folgt beschreiben: Stellt euch vor, ihr habt ein Blind Date. Die Person, mit der ihr euch treffen werdet, ist euch nicht bekannt, aber ihr habt eine grobe Vorstellung von ihr, vielleicht, weil ihr ahnt, wer sie sein könnte, vielleicht, weil ihr ein bestimmtes Bild vor Augen habt. Jedenfalls stimmt euch eure Vorahnung optimistisch. Dann kommt ihr zum Date und stellt fest, dass es sich doch um eine ganz andere Person handelt. Ihr seid im ersten Moment enttäuscht, bleibt aber doch und nehmt das Date an. Schon nach kurzer Zeit stellt ihr fest, dass die euch zuvor unbekannte Person sehr nett und interessant ist. Ihr redet, tauscht euch aus, ihr "klickt" - das Date wird ein voller Erfolg und am Ende seid ihr überglücklich und gleichzeitig traurig, weil der Abend zu Ende ist.

So in etwa war das mit "Brüder" und mir. Nach Lesen des Klappentextes hatte ich so eine Art Parallelgeschichte über zwei Halbbrüder erwartet, die sich sich zufällig (?) treffen und ihre Gemeinsamkeiten und Unterschiede erforschen. Oder sowas in der Art. Bisschen Familiendrama, bisschen Exotik, bisschen Ostalgie - beide Brüder wuchsen in der DDR auf, haben je eine weiße Mutter und einen schwarzen Vater, also wird sicher Rassismus oder Identitätsfindung im sozialistischen Bauernstaat und der Nach-Wende-Zeit das beherrschende Thema sein? Und dann kam alles anders. Nicht ganz anders, aber ziemlich.

Erste Überraschung: Frau Thomae erzählt ihre Geschichten hintereinander. Nicht nur strukturell, also erste Hälfte Mick, der stets getriebene Lebemann, der Berufsjugendliche, der Nicht-Festleger und Nie-Ankommer, zweite Hälfte Gabriel, der Geordnete, Geerdete, Gemachte.

Auch zeitlich folgen die Geschichten aufeinander. Micks Geschichte beginnt tatsächlich in seiner DDR-Jugend, lässt sich dann aber schnell auf die Zeit nach der Wende ein, mit unserem Hauptcharakter als Animateur der Berliner Technoszene der 90er Jahre, von Party zu Party und Frau zu Frau. Bis zum großen Crash. Der echt bitter ist. Gabriels Strang setzt zeitlich danach ein, und hat, grundsätzlich irgendwie ähnlich, dann aber doch ganz anders, eher den großen Bogen vom Aufbau bis zum Niedergang der perfekten Illusion, möglicherweise bedingt durch eine identitätsleere Midlifecrisis, zum Inhalt. Auch Gabriel erleidet einen Crash - der zu den denkwürdigsten Ausrastern zählt, die ich überhaupt je gelesen habe.

Dritte Überraschung: Die unterschiedlichen Erzählweisen. Micks Part springt zwischen verschiedenen Erzählstimmen in dritter Person hin und her. Zwar übernimmt Mick den überwiegenden Part, doch es kommen zahlreiche weitere Personen zu Gehör, kleinere und größere Rollen, die teils nur Kurzauftritte haben, trotzdem sehr genau gezeichnet sind. Hat mich hier und da an die Erzählweise meiner geliebten Reihe "Das Leben des Vernon Subutex" erinnert, auch wenn Frau Thomae weit weniger zynisch/böse als Frau Despentes schreibt (was nicht heißen soll, dass Frau Thomae nicht dahin geht, wo es weh tut, denn das tut sie durchaus).

Im zweiten Teil sind es Gabriel und seine Frau Fleur, die abwechselnd aus der Ich-Stimme ihre eigene und gemeinsame Geschichte wiedererzählen, was sich im Laufe der Erzählung zu einem sehr intimen und hintergründigen Beziehungsporträt auswächst, das mir alleine als Geschichte schon gereicht hätte. Ich kann trotzdem nicht sagen, welcher Teil mir besser gefallen hat, beeindruckt haben mich beide auf ihre ganz eigene Art.

Diese drei Besonderheiten haben das Buch für mich sehr interessant und gleichzeitig sehr zugänglich gemacht. Hatte ich anfangs mehr Parallelen erwartet - die sich in den Geschichten der beiden Halbbrüder, so unterschiedlich sie auch sein mögen, durchaus finden lassen - waren es vor allem diese "gleichzeitigen" Unterschiede, die mich mit jeder Seite mehr begeistert haben.

Jackie Thomae schreibt genau so, wie ich es liebe. Sie erschafft Charaktere, die echt sind, die Macken haben, Ecken und Kanten, die real sind. Die den Plot, die Geschichte bestimmen und vorantreiben, durch ihre Echtheit. Weil sie manchmal richtig ätzend sind. Weil sie Angst haben. Weil sie richtig Mist bauen - und sich nicht mal dafür schämen. Oder rechtfertigen. Und sie Beziehungen jeglicher Art durchleben und -leuchten: Paare, Freunde, Bekannte, Eltern-Kind, Kind-Eltern, andere Verwandschaftsverhältnisse.

Jackie Thomae packt zahlreiche Themen aufs Tableau, große Themen, einige davon habe ich bereits erwähnt: Identität, Herkunft, Rassismus, Liebe, Treue, Selbstfindung, Zwänge. Und sie erzählt davon - aber stets auf erfrischende Art und "Nebenbei"-Weise. Hier kommt kein Holzhammer zum Einsatz, eher eine freundliche Einladung, sich doch mal neben Frau Thomae zu setzen und mit ihr zu sinnieren und subtil zu hinterfragen: Und, wie ist das bei dir so? Erzähl doch mal!

Es gibt da noch zwei, drei Specials, die das Werk weiter würzen. Zum einen dieses herrliche Bonmot, das im Teil über Mick vorkommt, den man durchaus als "schwanzgesteuert" bezeichnen kann. Das wird er mit folgenden Worten angesprochen: "[...]Du bist so schwanzgesteuert wie ein Typ, den sich eine verbitterte Frau ausgedacht hat." Ha! Sehr schön. Auch schön: Irgendwann kommt auch Idris, der Vater der beiden Halbbrüder mal ins Bild. Und schließlich der Epilog, hach, was soll ich sagen - ich hatte wirklich Tränen in den Augen. Die letzten Seiten haben mich den Roman endgültig lieben lassen, denn das Ende war - für mich - absolut perfekt.

Tl;dr: Ein wunderbares Leseerlebnis. Jackie Thomae erzählt unaufgeregt und doch aufwühlend. Eine beeindruckende, unaufgesetzte, facettenreiche Charakterstudie, mit Themen und Inhalten, die sehr aktuell sind, das Buch aber eher subtil begleiten als permanent bestimmen. Ich hab's sehr gerne gelesen, für mich ganz genau das Richtige.

Veröffentlicht am 19.09.2019

"Tripping mit Karig" - gerne wieder!

Dschungel
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Das war ein gut und schnell wegzulesender, teils richtig fesselnder Roman, eine Mischung aus Abenteuer- und Reisebericht, Coming-of-Age-Story und Selbstfindungstrip plus unverpackte Gedanken über das Reisen ...

Das war ein gut und schnell wegzulesender, teils richtig fesselnder Roman, eine Mischung aus Abenteuer- und Reisebericht, Coming-of-Age-Story und Selbstfindungstrip plus unverpackte Gedanken über das Reisen im 21. Jahrhundert und die Möglichkeiten, Grenzen und Verfremdung eigener Erinnerungen. Puh, ganz schön viel auf einmal, aber Friedemann Karig gelingt es in seinem Romandebüt, das mit kleinen Abstrichen alles gut unterzubringen.

Die Geschichte wird vom namenlosen Ich-Erzähler referiert, dessen bester Freund Felix im Dschungel in Kambodscha unterwegs ist und sich seit Wochen nicht gemeldet hat. Felix' sehr präsente Mutter bittet den Erzähler, nach ihrem Sohn zu suchen, und der macht sich, trotz abratender Worte seiner Lebensgefährtin Lea und eigener Unlust auf den Weg. Was folgt, ist eine abenteuerliche Suchreise in exotisches Gebiet, die sehr anschaulich ist. Parallel dazu wird in Rückblenden die Geschichte von Felix und dem Erzähler beleuchtet: Wie die beiden Jungs beste Freunde wurden, miteinander Kindheit, Pubertät und Erwachsenenalter durchmachten, mit allen Höhen (wortwörtlich) und auch vielen Tiefen.

Wie schon eingangs erwähnt, spielen hier viele Themen eine Rolle, das stört den Lesefluss aber kaum. Mich hat schon direkt das erste Kapitel stark in seinen Bann gezogen, da geht es um Höhenangst, oder besser: die Angst vor der Sucht, in den Abgrund zu springen. Ich kenne dieses Gefühl, nur zu gut. Und ich komme mich immer komisch vor, wenn ich versuche, es jemandem zu erklären. Hier, in diesem ersten Kapitel, habe ich mich sofort und richtig verstanden gefühlt. Da hatte das Buch also gleich mal einen dicken Sympathiebonus bei mir gesammelt.

Die Schreibe von Karig hat mir grundsätzlich gut gefallen. Klar schüttelt er hier und dort vielleicht eins, zwei Mal zuviel am pseudophilosophioschen Baum, aber erstens passte das meist zu den Figuren (Aussteiger, Hippies, alternative Weltenbummler usw), zweitens war der Roman so flott und mitreißend erzählt, dass diese Fetzen schnell wieder "vorbei" waren. Einzig der für mich zu übermäßige Gebrauch von Songzitaten ging mit irgendwann auf die Nerven. Ja, gut das Dschungelthema, mit dem Dschungelbuchsong, dem Dschungel in Kambodscha und dem Jugendlager "Dschungel", hm, okay. Aber "Luc(c)a", "Freak", "Northing Compares 2U", noch ein Popsong, noch einer, noch einer, ach Herr Karig, wenn ich Bock auf Popsongs habe, die die Handlung betonen sollen, gucke ich "Moulin Rouge!", da gibt's wenigsten Ewan McGregor dazu. Für Bücher rate ich, bei dieser inflationären Verwendung, dann doch lieber: Show, don't sing!

Die Flashbacks in die Kindheit hingegen haben mir gefallen, genau die Mischung aus "klingt echt" und "bleibt rätselhaft", die sie vermutlich erzeugen sollten. Die ganze Thematik "(Ohn)Macht des Gedächtnis" finde ich grundsätzlich sowieso total spannend.

Mit dem Twist und dem Ende bin ich ein wenig am Hadern. Keine Spoiler, keine Angst, nur soviel: Ich habe den Twist tatsächlich nicht kommen sehen, zumindest nicht in diesem Ausmaß. Und ich bin mir nicht sicher, ob es daran liegt, dass ich zu sehr beim Erzähler und seiner Sicht der Dinge war - so gesehen wäre das dann ja durchaus clever konstruiert. Das Ende selbst, nun ja - irgendwie zwar stimmig und schlüssig, irgendwie aber auch unbefriedigend, weil etwas zu legendenhaft. Aber vielleicht sollte das genau so. Lieben muss ich es ja trotzdem nicht.

Geliebt habe ich zwei andere Aspekte, für mich die stärksten Momente des Buchs: Zum einen die Betrachtung des Reisens sowie unter ökologischen als auch philosophischen Aspekten. Das hat natürlich inhaltlich bei sowieso voll ins Schwarze getroffen, und noch dazu habe ich mich über viele Formulierungen gefreut, wie der "Bulemie des Reisens" oder den Stillstand der Mobilität.

Aber am besten gefallen haben mir - Kinder, nicht weiterlesen - die Beschreibungen der Drogentrips. Dieser vollkommen unsinnige, unzusammenhängende Quatsch, der total albern klingt und dämlich, der aber, wenn man das kennt, so viel Sinn ergibt. Ich habe mich sehr über diese Passagen amüsiert.

So gesehen ordne ich dieses Buch als sehr unterhaltsamen Rausch ein, oder, um noch eine Floskel zu bedienen: Ich bin gut drauf gekommen. Tripping mit Karig - gerne wieder.

Veröffentlicht am 19.09.2019

Sehr unterhaltsam und zum Nachdenken anregend

Die Zeuginnen
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Ganz ehrlich: Meine einzige Erwartung an das Buch war, dass es mir mehr von Gilead berichtet, denn alles, was wir aus Buch 1, dem "Report der Magd" erfahren haben, war die zwar sehr beeindruckende, aber ...

Ganz ehrlich: Meine einzige Erwartung an das Buch war, dass es mir mehr von Gilead berichtet, denn alles, was wir aus Buch 1, dem "Report der Magd" erfahren haben, war die zwar sehr beeindruckende, aber doch eingeschränkte Sichtweise eben jener Magd. Was das angeht, hat das Buch meine Erwartungen deutlich erfüllt: Dank Frau Atwoods toller Wahl der drei sehr unterschiedlichen Erzählerinnen bietet es drei neue und "frische" Blickwinkel auf das Leben innerhalb und außerhalb des totalitären Regimes von Gilead. Hinzu kommt, zu meiner großen und überraschenden Freude, dass mich die Geschichte von Anfang bis Ende total gefesselt und in ihren Bann gezogen hat. Ich habe wirklich jeden freien Moment zum Weiterhören genutzt.

Wir folgen hier drei Erzählerinnen und ihren jeweiligen speziellen Pespektiven: Zunächst einer mächtigen Tante, die Einblicke in die Anfänge von Gilead gibt, in ihre persönliche "Verwandlung" von einem selbstständigen Individuum zu einem Systemzögling und in ihren Alltag tief inmitten dieses Netzes aus Macht, Betrug und Mißbrauch, das die Basis von Gilead bildet. Zweitens folgen wir einer anderen Frau innerhalb des Systems, einer, die die Zeit "vorher" nicht kennt und die Gileads Struktur als normal und "von Gott gewollt" akzeptiert. Die dritte Zeugin ist ein Teenager von außerhalb, ein Mädchen, das sich der Ungerechtigkeit Gileads bewusst ust und diese verachtet. Sie kommt recht frech, und rebellisch, fast "verzogen" herüber, was angesichts der "besonderen" Umstände, unter denen sie aufwuchs/erzogen wurde und die im Laufe der Geschichte klarer werden, für mich durchaus Sinn ergab.

Die Identität der drei Frauen wird im Laufe der Geschichte ebenfalls gelüftet (ich kam früh dahinter, aber das hat die Sache eher noch spannender gemacht), ebenso wie die Verhältnisse, in denen sie zueinander stehen. Ab einem gewissen Punkt nimmt die Geschichte dann nochmals kräftig Fahrt auf, der Epilogue verbindet beide Bücher auf nette Art.

Frau Atwood nimmt sich in ihrem Werk verschiedener Themen an, manchen sehr direkt, anderen eher subtil. Abgesehen von der ganzen Thematik um die allgemeine Unterdrückung und den Mißbrauch der Frauen in Gilead haben mir besonders die Aspekte gefallen, die durch die Geschichten und Handlungen der drei Zeuginnen aufgeworfen wurden. So wie: Wenn dein Land beginnt, sich in einen totalitären Staat zu verwandeln (und Warnzeichen dafür gibt es ja aktuell an verschiedenen Stellen), wie würdest du reagieren? Klar ist es einfach, "Protest!" zu schreien, aber was, wenn es dafür schon zu spät ist? Und, wenn du in so ein System hineingeboren und vom ersten Tag an gehirngewaschen wirst (siehe Nord Korea), würdest du die Ungerechtigkeit überhaupt als solche erkennen, wäre dir überhaupt bewusst, dass du unterdrückt wirst? Denn wenn dir das gar nicht klar ist, dann wirst du dagegen auch nicht vorgehen, und wie könnten dich Außenstehende dann für deine Passivität verurteilen? Und, wenn du siehst, wie solche Dinge in einem anderen Land passieren, was für Konsequenzen hätte das für dich? Oder ist, sagen wir mal, dein entspannter, fauler Sommerurlaub in der Türkei wichtiger als der Boycott eines der wichtigsten Wirtschaftszeige dieses Landes, um so zu protestieren? Charakter 1, 2 oder 3, wähle jetzt, was würdest du tun?

Das alles hat mich schwer zum Nachdenken angeregt, und da das Buch ein flottes Tempo vorlegt und auch sonst leicht zugänglich ist, hoffe ich, dass es eine breitere Leserschaft erreicht, die sich mit solchen Fragen sonst vielleicht nicht beschäftigt.

Das Hörbuch selbst ist gut produziert, mir drei passenden und gut unterscheidbaren Stimmen - vor allem Leslie Maltons Lesung der Tante hat mir sehr gut gefallen.

Alles in allem ein höchst unterhaltsamer Roman mit gewissen Thrillerelementen und viel Stoff zum Nachdenken und/oder zur Selbstreflexion. Eine Kombination, die ich sehr liebe und die mir hier durchgängig gefallen hat.