Bewegend, bedrückend, dramatisch
Die Nickel BoysMein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings ...
Mein erstes Buch von Colson Whitehead, der hier eine reale Institution (eine ehemalige Schule für "schwererziehbare" Jungen, der in der mehr misshandelt als gelehrt wurde) im Rahmen eines fiktiven Settings (also mit fiktiven Charakteren) wieder aufleben lässt. Es sind die 1960-Jahre, und der junge, schwarze Elwood ist besessen von Dr. King und seinen Reden, seinem Streben nach Gerechtigkeit und Gleichheit, seinen Tugenden. Auch Elwood ist tugendhaft, ein guter Junge, dem eigentlich ein sozialer Aufstieg gelingen sollte. Doch ein wirklich unglücklicher Zufall verschlägt ihn in die bereits erwähnte Besserungsanstalt, er wird einer von ihnen, ein "Nickel Boy", eine billige Arbeitskraft, an der das sadistische "Lehr"personal sich austoben kann.
So weit, so Drama. Die Geschichte von Elwood ist wirklich sehr berührend, sein Schicksal bewegend. Er, der "gute" Junge, inmitten dieser - ja, was sind sie eigentlich, die anderen Nickel Boys? Schlechte Jungs? Wirklich? Hmmm... In erster Linie sind sie zunächst alle Opfer - der Willkür, der Brutalität, der ständigen Angst, bei irgendwas erwischt zu werden. Die Szenen, in denen die Bestrafungen beschrieben werden, sind teils sehr brutal.
Ergänzend zum Horror in der "Schule" erzählt ein alternder Elwood, wie er die Zeit nach dem Nickel erlebt hat, wie ihn das Erlebte beeinflusst hat und wie ihn die späte, in der Jetzt-Zeit des Buches (ich meine, es war 2014?) gemachte Enthüllung der vielen anonymen Jungenleichen auf dem ehemaligen Schulgelände im späten Alter dazu zwingt, sich nochmals mit diesen Schatten seiner Vergangenheit zu befassen.
Die Botschaften, die Whitehead her herüberbringt, sind kaum zu überhören: Neben der unerhörten Behandlung der Jungen, dem institutionellen Mißbrauch und Wegschauen so vieler Menschen ist es auch der Rassismus, der deutlich im Vordergrund steht: Die Rassentrennung der Gesellschaft allgemein sowie im "Nickel" im Besonderen, denn auch hier erging es den schwarzen Jungs noch eine ganze Ecke schlechter als ihren weißen Mithäftlingen. Das dritte Thema, das sich erst spät im Buch entfaltet und mich besonders angesprochen hat, ist das späte Trauma, das eine derartige Behandlung in jungen Jahren auslösen kann. Immer wieder schwappt sie bei vielen Debatten zu Mißbrauchsthemen hoch, die Frage: "Ja, aber warum haben die Opfer so lange geschwiegen?" Eine mögliche Erklärung hierzu liefert dieses Buch - zu diesem Aspekt hätte ich mir gerne noch ein paar weitere Ansätze gewünscht.
Bis hierher eigentlich eher drei Sterne, für wirklich gute Unterhaltung, die mich durchgehend interessiert hat - zum Ende hin hat Whitehead dann aber doch noch mal einen Twist ausgepackt, der das ganze Ausmaß von Schuld und Sühne nochmal so richtig aufzeigt und mir sehr gut gefallen hat. Da wurde ich dann auch emotional nochmal so richtig durchgeschüttelt, und das hat das Buch dann letztlich auf vier Sterne gehievt.
Zum Hörbuch: Torben Kessler liest sehr bedächtig, aber nicht einschläfernd - das Timbre der Stimme hat für mich gut zur Stimmung des Buches gepasst.