Anrührend
Ein Koffer voller HoffnungRomane, die auf zwei Zeitebenen spielen, in der Gegenwart und irgendwann in der Vergangenheit, sind ja seit längerer Zeit absolut im Trend. Während in der Folge dann meist beide Geschichten relativ ...
Romane, die auf zwei Zeitebenen spielen, in der Gegenwart und irgendwann in der Vergangenheit, sind ja seit längerer Zeit absolut im Trend. Während in der Folge dann meist beide Geschichten relativ oberflächlich bleiben, war dies das erste Buch nach diesem Strickmuster, das mich ganz von sich überzeugen konnte.
Ella Sand ist gebürtige Norwegerin, schreibt aber in New York für Magazine. Ein Tragödie ruft sie zurück nach Bergen in die Heimat: Ihre Eltern sind bei einem Autounfall ums Leben gekommen. Ella empfand ihr Elternhaus als lieblos und hatte nur noch wenig Kontakt zu ihnen. Nun gilt es sich um die Beerdigung, die Firma und den Verkauf des Hauses zu kümmern. Doch wer ist die ältere Untermieterin ihrer Eltern, die sich so entschlossen in Ellas Leben drängt und ihr ihre eigene Lebensgeschichte regelrecht aufzwingt? Immer mehr wird Ella in den Sog der Erzählung der Mieterin namens Rakel Teller gezogen und mit ihr der Leser. Rakel wurde als deutschstämmige Jüdin und Ungarn geboren. Um Rakel und ihren Bruder zu retten, verschicken ihre Eltern die Kinder aus Furcht vor den Nazis mit der Nansen-Hilfe nach Norwegen. Nach und nach entfaltet sich ein ganzes Panorama aus Entwurzelung, Tragödien, aber auch auf Seiten Rakels von unbändigem Lebenswillen. Auch aus Norwegen müssen die jüdischstämmigen Kinder weiter fliehen. Rakels Bruder erlebt dies nicht mehr, er fällt einer Lungenkrankheit zum Opfer. Spät begreift Rakel, dass auch ihre Eltern nicht mehr am Leben sind.
Nach dem Krieg kehrt Rakel zurück nach Norwegen und bringt ein uneheliches Kind zur Welt, das sie in ihrer Verzweiflung weggibt. Aus ihrer Ehe mit dem norwegischen Arbeiter Ellef bekommt sie zwei Kinder, Marie und Erik. Doch Rakel bleibt eine Heimatlose und kann sich mit dem Schicksal als Hausfrau nicht abfinden. In ihrer Ehe kriselt es. Aus Angst, Ellef könne ihr bei ihrer Trennung die Kinder nehmen, flieht sie nach New York, um bei ihrer Freundin Hannah aus Kindertagen zu wohnen. Doch Hannah bleibt unauffindbar und Rakel muss sich allein durchschlagen, immer in der Furcht, Ellef könnte sie aufspüren. Dennoch gelingt es ihr, endlich zu studieren, ihren Traum von einer Anstellung als Lehrerin zu erfüllen und eine zweite Liebe zu finden. Doch noch immer gärt ihre Vergangenheit in ihr. Als sie ein Koffer mit seltener jüdischer Literatur und einem Brief eines Mitmieters aus Ungarn erreicht, dem sie als Kind sehr verbunden war, beschließt sie nach Bergen zurückzukehren. Und dort schließt sich der Kreis, denn Ellas Mutter ist das uneheliche Kind, das Rakel einst als junge Frau zur Adoption freigab.
Von Entwurzelung und von der Fähigkeit, niemals aufzugeben, weiterzumachen und neue Wurzeln zu bilden, erzählt dieses Buch auf wirklich anrührende und fesselnde Weise. Obwohl Ellas Geschichte vergleichsweise wenig Raum einnimmt, bleibt auch sie nicht blass, sondern gewinnt echte Konturen. Atmosphärisch dicht wird das Leid der aus ihrer Heimat geflohenen Kinder geschildert und wie diese noch als Erwachsene die Spuren dieser Tragödie in sich tragen.