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Veröffentlicht am 13.08.2022

Traurig, poetisch, zart und verletzlich erzählt und trotzdem hoffnungsvoll

Dry
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Inhalt:
Christine Koschmieder erzählt die Geschichte ihrer Jugend in Leipzig, ihrer Familie und ihrer grossen Liebe. Sie schreibt vom Tod ihres Mannes, vom Trinken und Aufhören, der Sucht, der Ohnmacht ...

Inhalt:
Christine Koschmieder erzählt die Geschichte ihrer Jugend in Leipzig, ihrer Familie und ihrer grossen Liebe. Sie schreibt vom Tod ihres Mannes, vom Trinken und Aufhören, der Sucht, der Ohnmacht als alleinerziehende Mutter und als immer wieder verlassene Tochter. Und ausserdem von Freundschaft, Liebe, Glück und Hoffnung.

Meine Meinung:
Dieses Buch habe ich nicht in unsere Ferien mitgenommen, weil ich als Erscheinungstermin den 17.8. im Kopf hatte und das Buch also direkt nach unserem Urlaub lesen wollte. Hätte ich es doch nur mitgenommen, spielt es doch mehrheitlich in Leipzig und ich habe nachgeschaut: ich bin an den meisten erwähnten Orten gewesen/vorbeigegangen oder war in unmittelbarer Nähe davon, was mir beim Lesen mehrmals Gänsehaut beschert hat.
Das im Buch vorherrschende Gefühl ist eine Mischung aus Aufbruchstimmung und einer tiefen Traurigkeit. Immer wieder war ich zu Tränen gerührt ob der beschriebenen Szenen und Schicksale und ich konnte das Buch kaum mehr aus der Hand legen. Scheinbar immer gelingt es der Protagonistin in dieser autofiktionalen Erzählung, auch noch den widrigsten Umständen zu trotzen, irgendwie weiterzumachen und sich selber und nach und nach auch ihre Kinder über Wasser zu halten. Doch dies gelingt nur mit Alkohol, mit Mustern, die ihr selber vorgelebt worden sind und immer dann, wenn es gerade wieder scheint, als wäre ein nächster Hügel erklommen, kommt auch schon der nächste Abgrund. Ich kann mir die enorme Stärke und Entschlossenheit gar nicht vorstellen, die vonnöten sind, sich selber - mitten in einer Pandemie - in eine Suchtklinik einzuweisen und dann noch auf Social Media aus diesem neuen Alltag zu berichten.

Erzählsprache:
"Dry", das sind Erinnerungen und Metaphern und sie sind so erzählt, wie der ganze Anfang des Buches, welcher sich mit dem Leben als junge Erwachsene, der ersten Liebe, dem ersten Kind, dem Krebstod des geliebten Mannes und dem weiteren Familienalltag befasst und auch in die eigene Kindheit und Jugend blicken lässt: nämlich Episodenhaft und aus einzelnen Fragmenten bestehend, manchmal ganz nahe am Geschehen dran, manchmal mit Abstand auf die Figuren blickend und sich letztendlich zu einem trüben Mosaik mit einzelnen Lichtblicken zusammensetzend. Die Sprache ist sanft und zart und sehr poetisch, Koschmieder deutet oft nur an, umschreibt und webt so langsam ein dichtes Netz aus Gefühlen, aus Bildern, aus dicken und dünnen Fäden, welche die Geschichte und ihre Figuren tragen. Sie macht sich damit enorm angreifbar, verletzlich und lässt sehr tief blicken in ein Leben, einen Alltag, der so oder ähnlich ihr Leben und ihr Alltag ist und war.

Meine Empfehlung:
"Dry" hat mir sehr nachdenklich und traurig stimmende Lesestunden beschert, mich gefesselt, immer mal wieder zum Schmunzeln gebracht und mir auch Hoffnung gegeben. Diese zarte, verletzliche Geschichte ist sicher keine leichte Kost, von mir gibt es aber eine sehr herzliche Empfehlung für dieses aussergewöhnliche Buch.

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Veröffentlicht am 30.06.2022

Traurig und hoffnungsvoll zugleich

Die hundert Jahre von Lenni und Margot
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Inhalt:
Lenni ist siebzehn Jahre alt und unheilbar krank. Ihr einziger Freund ist der Klinikpater Arthur, mit dem sie sich über das Leben und Sterben austauscht. In einem Kunstkurs trifft sie unerwartet ...

Inhalt:
Lenni ist siebzehn Jahre alt und unheilbar krank. Ihr einziger Freund ist der Klinikpater Arthur, mit dem sie sich über das Leben und Sterben austauscht. In einem Kunstkurs trifft sie unerwartet auf die dreiundachtzigjährige Margot und die beiden unterschiedlichen Frauen beschliessen, ihre gemeinsamen hundert Jahre mit einem Kunstrprojekt zu würdigen im Rahmen dessen sie für jedes dieser hundert Jahre ein Bild malen und sich die dazugehörige Lebensgeschichte erzählen. So reisen wir mit Margot in eine belagerte Stadt im zweiten Weltkrieg, erleben mit Lenni eine glückliche Kindheit und begleiten die beiden Figuren durch zahlreiche Höhen und Tiefen in ihrer Biografie.

Meine Meinung:
"Die hundert Jahre von Lenni und Margot" habe ich schon lange beim Bloggerportal angefragt und mich dann riesig gefreut, dass das Buch nach mehreren Anläufen (es ist wohl auf dem Postweg verloren gegangen, evtl. sogar zweimal) bei mir angekommen ist. Eine wunderschöne Rezension (und einer der Gründe, weshalb ich es kaum mehr erwarten konnte, das Buch endlich lesen zu dürfen) findet ihr bei der lieben Jamie von Librovore.
Mich persönlich hat die Geschichte sofort für sich eingenommen. Marianne Cronin erzählt einfühlsam und liebevoll von zwei todkranken Frauen, die in einem Krankenhaus einen eher eintönigen Alltag erleben, bis sie diesen mit ihren Bildern, ihren Geschichten und vor allem ihrer Freundschaft immer bunter, voller, lebenswerter gestalten dürfen.
Die Ausflüge in Margots Vergangenheit, ein Leben voller Verluste aber auch Begegnungen mit Seelenverwandten und zahlreiche glückliche Momenten, haben mir besonders gut gefallen. Auch sehr für sich eingenommen haben Lennis wenige Erinnerungen an ihre Familie und ihre wunderschönen, zu Herzen gehenden und vor allem auch sehr unterhaltsamen Gespräche mit Pater Arthur. Dieser Diener Gottes erkennt schnell, dass sich Lenni nicht mit Allgemeinplätzen und auch nicht mit gemeinsamen Gebeten oder Bibelmetaphern zufrieden gibt, sondern dass die junge Frau täglich und mit einer enormen Willensstärke die Wahrheit wissen und Antworten auf die schwierigsten, intimsten und gewichtigsten Lebensfragen finden will. So entstehen Gespräche, die provokativ und traurig sind, aber auch immer wieder für hoffnungsvolle Momente sorgen und Lenni aber auch Pater Arthur in ihrer jeweiligen Lebenssituation Halt geben.

Erzählsprache und Aufbau:
Cronin hat sich mit ihrem Erstlingswerk einem sehr schwierigen Thema gewidmet und dies mit sehr viel Feingefühl gemeistert. Ihre Figuren wirken dabei wie mitten aus dem Leben gegriffen, haben Ecken und Kanten, trauern, sind wütend, hadern, geniessen und lachen zusammen. In diesem Buch geht es um die Liebe und Freundschaft, um Seelenbekannte, Verluste, das Leben und das Sterben und um alle möglichen, bunten Beziehungen und Lebensentwürfe.
Lenni und Margot erzählen ihre Geschichten jeweils in der Ich-Perspektive und dabei wird es immer wieder sehr emotional. Dabei schafft Cronin es stets, bildhaft zu bleiben, ohne ausschweifend zu werden, ihre Figuren sind nie pathetisch, es bleibt viel Raum für Humor, einige Leerstellen bleiben offen und die Geschichte verströmt Hoffnung und Zuversicht.

"Genau genommen", sagte Pippa und legte endlich den Pinsel ab, "stirbst du nicht".
"Nicht?"
"Nein."
"Kann ich also nach Hause?", fragte ich.
"Was ich meine, ist: Im Moment stirbst du nicht. Jetzt im Moment lebst du."
(S. 56)


Meine Empfehlung:
Für die letzten dreissig Seiten dieses Buches habe ich enorm lange gebraucht, weil meine Tränen die Sicht auf die Buchstaben pausenlos verschleiert haben. Und obwohl dieses Buch unendlich traurig ist, ist es doch so schön und hoffnungsvoll erzählt und zeigt auf, dass es im Leben vor allem darauf ankommt, glückliche, bewegende aber auch traurige Momente zu sammeln und mit lieben Menschen zu teilen. Von mir gibt es eine sehr herzliche Leseempfehlung für diesen buchigen Schatz.

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Veröffentlicht am 25.05.2022

Spannend und sehr unterhaltsam erzählter Jugendkrimi

Rory Shy, der schüchterne Detektiv - Der Fall der Roten Libelle (Rory Shy, der schüchterne Detektiv, Bd. 2)
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Inhalt:
Matilda ist gar nicht mal so traurig darüber, dass ihre Eltern über die Osterferien verreist sind. So kann sie nämlich - lediglich von ihrer Nachbarin Frau Zeigler mit köstlichem Essen und spannenden ...

Inhalt:
Matilda ist gar nicht mal so traurig darüber, dass ihre Eltern über die Osterferien verreist sind. So kann sie nämlich - lediglich von ihrer Nachbarin Frau Zeigler mit köstlichem Essen und spannenden TV-Abenden versorgt - gemeinsam mit Rory Shy in einem neuen, brisanten Fall, einem Kunstdiebstahl mit schwerer Körperverletzung, ermitteln. Einmal mehr sind ihre gesellige Art und ihr Mut genau die Faktoren, welche Licht ins Dunkel bringen.

Meine Meinung:
Sicher erinnert ihr euch an meine begeisterte Rezension zum ersten Band der Rory-Shy-Reihe. Den zweiten Band habe ich mir vom Liebsten (aka "Osterhasen") zu Ostern gewünscht und habe ihn mehrheitlich zu Hause auf Balkonien gelesen. Das Buch ist nämlich so schön gestaltet, dass ich es nitgendwohin mitnehmen wollte. Entsprechend lange habe ich für die Lektüre gebraucht, aber ich habe jede Seite geniessen können.
Die eigentliche Hauptfigur Matilda ermittelt erneut in einem abenteuerlichen und gefährlichen Fall und ist nicht selten mit ihrer unkomplizierten, offenen Art genau die Hilfe, die Rory Shy, der zu schüchtern ist, um Befragungen durchzuführen oder zu telefonieren, für seine Arbeit braucht.
Der Fall führt Matilda ans Filmset ihrer Lieblingsserie "Mörderische Ehefrauen", welche sie sich täglich mit Frau Zeigler ansieht. Und Rory Shy kommt sogar zu einem Gastauftritt in der Serie, den er aufgrund seiner Schüchternheit nur mit einem kleinen Schwips bewältigen kann.
Einzig die vielen Lügen, welche Matilda der gutgläubigen Frau Zeigler auftischt/auftischen muss, um tagelang wegzubleiben, finde ich ein wenig gar dreist, schliesslich könnte Matilda ihr einfach sagen, dass sie auf eigene Faust ermittelt und Rory Shy komplett aus dem Spiel lassen. Ansonsten hat mir das Buch aber sehr gut gefallen und mich mit seinem Witz bestens unterhalten. Die wundervollen Figuren (unter anderem Matildas änglicher Hund Dr. Herkenrath oder Rorys charmante und ebenfalls sehr schüchterne Liebste Charlotte) haben es mir wieder angetan und ich freue mich schon riesig auf den nächsten Band der Reihe.

Meine Empfehlung:
"Der Fall der roten Libelle" ist wunderbar unterhaltsam und spannend erzählt, führt ganz viele weitere Figuren mit tollen Hintergrundgeschichten ein und macht einen Abstecher in die Kunstwelt und ans Set der Serie "Mörderische Ehefrauen". Von mir gibt es eine sehr, sehr herzliche Empfehlung.

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Veröffentlicht am 20.04.2022

Sehr düster, spannend und bewegend

Hagebuttenblut
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TW: Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Alkoholismus, Drogenkonsum

Hagebuttenblut - Lina Bengtsdotter

Die Charlie Lager-Serie
1. Löwenzahnkind
2. Hagebuttenblut
3. Mohnblumentod

Inhalt:
Charlie Lager ...

TW: Sexualisierte Gewalt, Vergewaltigung, Alkoholismus, Drogenkonsum

Hagebuttenblut - Lina Bengtsdotter

Die Charlie Lager-Serie
1. Löwenzahnkind
2. Hagebuttenblut
3. Mohnblumentod

Inhalt:
Charlie Lager stösst eher zufällig auf einen ungelösten Vermisstenfall und reist widerwillig und äusserst ruhelos in ihre Heimat Gullspång, um die Ermittlungen neu aufzurollen. Bei der Suche nach Hinweisen zum drei Jahrzehnte zurückliegende Verschwinden der sechzehnjährigen Francesca begegnen ihr einige Geister aus der Vergangenheit und immer mehr Erinnerungen aus ihrer Kindheit und Jugend werden sehr präsent. Dabei entdeckt sie nicht nur zahlreiche Geheimnisse sondern erfährt auch erschreckende Dinge über ihre Mutter.

Meine Meinung:
Beim Tippen der Rezension habe ich bemerkt, dass dieses Buch heute vor einem Jahr erschienen ist und ich muss ehrlich sagen, dass mir dies kurz Gänsehaut beschert hat. Das passt irgendwie sehr gut zum Buch, denn in "Hagebuttenblut" wird nichts dem Zufall überlassen, die Handlug knüpft nahtlos an "Löwenzahnkind" an, alte Bekannte und viele neue Figuren tauchen auf und Charlie Lager gibt sich auf gefährliche Spurensuche. Nicht nur ihre eigenene Vergangenheit wird immer fassbarer, auch viele weitere Geheimnisse aus und um Gullspång kommen ans Tageslicht.
Am liebsten würde ich sofort noch einmal "Mohnblumentod" lesen und die Geschichte nun mit dem Vorwissen aus den ersten beiden Bänden erleben. Sicher würden dabei noch mehr Dinge über Charlie Lager und ihre Familie klar und ich werde in den nächsten Tagen wohl zumindest noch einmal intensiv im Buch blättern.
Charlie Lager und ihre manchmal schroffe, äusserst intelligente und scharfsinnig kombinierende Art mag ich sehr gerne. Auch die anderen Figuren sind passend und facettenreich beschrieben und so düster es in Gullspång auch ist, so gerne reise ich trotzdem dahin, um einen weiteren grandios konstruierten und bis ins letzte Details stimmigen Fall an Charlie Lagers Seite aufzuklären.

Stimmung und Sprache:
Lina Bengtsdotter erzählt diese ausgeklügelte und tragische Geschichte mit einer Sprache, die vor Dunkelheit nur so trieft. Es scheint nie hell zu werden in Gullspång, die meisten Menschen im kleinen Ort sind sehr arm, die wenigen reichen Menschen sind um so unglücklicher und die Geheimnisse, welche alle mit sich tragen, sind unendlich abgründig. Diese Sprache ist etwas ganz Besonderes, sie kann sehr kalt und abweisend wirken, aber trotzdem blickt Bengtsdotter ihren Figuren stets mitten ins Herz. Sie beschreibt einfühlsam und nachvollziehbar, welche Schicksale die Menschen mit sich tragen und zu dem machen, was sie sind.

Meine Empfehlung:
Von mir gibt es eine dringende Empfehlung für "Hagebuttenblut" und die ganze Reihe und ausnahmsweise empfehle ich es wirklich sehr, die Bücher chronologisch zu lesen. Leider ist die Trilogie mit Mohnblumentod komplett, aber Lina Bengtsdotter schreibt an einem neuen Buch mit einem neuen Ermittlerteam.

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Veröffentlicht am 27.03.2022

Warmherzig und poetisch erzählt

Baba Dunjas letzte Liebe
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Inhalt:
Baba Dunja lebt im fiktiven, Tschernobyl nachempfundenen Ort Tschernowo, einem Teil der sogenannten Todeszone. Sie ist einige der wenigen Rückkehrerinnen, welche stur und einfach ihr restliches ...

Inhalt:
Baba Dunja lebt im fiktiven, Tschernobyl nachempfundenen Ort Tschernowo, einem Teil der sogenannten Todeszone. Sie ist einige der wenigen Rückkehrerinnen, welche stur und einfach ihr restliches Leben in der verstrahlten Gegend, ihrer Heimat, verbringen. Ohne fliessendes Wasser und mit einer nur teilweise funktionierenden Telefonverbindung leben die bereits alten und kranken Menschen als eingeschworene Gemeinschaft, welche sich vor der Radioktivität in ihrem selbstgezogenen Gemüse und im Brunnenwasser nicht mehr zu fürchten brauchen, zusammen. Alle paar Wochen fährt die längst pensionierte ehemalige Hilfsschwester Baba Dunja, die als eine Art unfreiwillige Dorfvorsteherin fungiert, mit dem Bus in die Stadt, um einige Einkäufe zu tätigen und die Post zu holen. Der beschauliche und stets ein wenig gleichförmige Alltag der nebeneinanderher existierenden aber in ihren Überzeugungen zusammenhaltenden Menschen wird jäh erschüttert, als ein Vater mit seiner jungen und gesunden Tochter in die Gegend ziehen will, was von den Bewohnerinnen Tschernowos, die zwar ihre eigenen Krankheiten und ihren eigenen bevorstehenden Tod akzeptiert haben, aber dieses Risiko für ein gesundes Kind nicht zulassen können, mit allen Mitteln verhindert wird. Die Ereignisse überschlagen sich und locken einige dieser von der restlichen Gesellschaft zugleich bewunderten, bemitleideten und gefürchteten Menschen aus ihrer Reserve. Auch todgeweihte Menschen lieben und leben noch, wollen sich Träume erfüllen und ihren Frieden finden.

Meine Meinung:
"Baba Dunjas letzte Liebe" stand schon jahrelang auf meiner Wunschliste. Durch die aktuellen Ereignisse in der Ukraine erschüttert, habe ich mich dazu entschieden, dieses Buch zu kaufen und sofort zu lesen. Die sehr berührende und kurzweilige Lektüre hat mir ganz viele Einblicke in das Leben von Tschernobyl-Rückkehrerinnen beschert, orientiert sich Alina Bronsky doch an historischen Fakten und den realen Geschichten der Menschen, welche sich - des Risikos bewusst, aber ohne etwas zu verlieren zu haben - in ihrer alten Heimat, der heutigen Todeszone um Tschernobyl niedergelassen haben und in fast kompletter Unabhängigkeit und Freiheit ihre restlichen Jahre erleben wollen.

Figuren:
Innerhalb von so wenigen Seiten gelingt es Alina Bronsky, eindrückliche Charakterskizzen der Bewohner
innen von Tschernowo zu erstellen. Da ist Baba Dunja, die bedächtig, überlegt und voller Dankbarkeit für die Schätze, welche ihr Garten und die umliegenden Wälder hergeben, ihren Alltag begeht und voller Sehnsucht zu ihrer Tochter und der Enkelin, welcher sie noch nie begegnet ist, Briefe nach Deutschland schreibt. Sie hinterfragt dabei zwar stets ihre Qualität als Mutter, sendet ihrer Tochter aber im gleichen Atemzug die schönsten, optimistischsten Berichte in die Ferne, damit sich diese auf keinen Fall Sorgen machen muss. Sie ist eine Art Bürgermeisterin wider Willen und kümmert sich nicht nur um die täglichen Sorgen, Nöte und Bedürfnisse ihrer Nachbar*innen, sondern kommuniziert auch permanent mit den Toten, welche die friedliche Umgebung immer noch bewohnen.
Auch Marja, die sich gefühlt nur von den von Baba Dunja gekochten Gerichten und mitgebrachten Medikamenten ernährt und stets ihrem verstorbenen Mann nachtrauert, obwohl er sie geschlagen hat, nimmt eine wichtige Rolle in der Geschichte ein. Ihr Hahn und ihre gute Seele lassen sie zuerst ein Festmahl und später einen zweiten Frühling erleben und sie steht für die Hoffnung in einer selbstgewählten, todgeweihten Schicksalsgemeinschaft.
Besonders gut unterhalten haben mich die Szenen, in denen Sidorow, der über das einzige und eigentlich nie funktionierende Telefon verfügt und der krebskranke Petrow, dessen entschlossenes Handlung zum entscheidenden Wendepunkt der Geschichte führt, vorkommen. Das Ehepaar Gavrilow übernimmt die Rolle der neureichen Zugezogenen und Lenotschka die der ewig vor sich hinstrickenden Frau, welche nie Kinder bekommen wollte.

Schreibstil:
Alina Bronsky schafft es, diverse existenzielle Themen und zutiefst menschliche Regungen und Dramen, aber auch ganz viel Humor, Zusammenhalt und wunderschöne Naturschilderungen in diesem so kurzen Büchlein unterzubringen. Die Geschichte scheint langsam und poetisch erzählt und ist dennoch durch die enorme Vielschichtigkeit sehr dicht gewoben, wirkt aber nie überladen, sondern vielmehr sehr schlicht. Ein ganz bewonderes Gewicht erhält die nur durch Briefe und Erinnerungen aufrecht erhaltene Beziehung zwischen Baba Dunja und ihrer Tochter Irina sowie Baba Dunjas Enkelin Laura. Diese in ihrer Schönheit und Tragik einzigartige Familienstudie hat mich tief berührt.

Meine Empfehlung:
Voller Begeisterung empfehle ich euch diesen unaufgeregt erzählten Aussteigerroman, der gleichzeitig auch ein Familienroman und eine Art Krimi ist. Die einfühlsamen und warmherzigen Charakterstudien, die am Rande mitschwingende Gesellschaftskritik und die mitten ins Herz treffende und mit ihrer Schönheit und ihrer mit dem Leben und Sterben versöhnende Sprache haben mich komplett für sich eingenommen und auf die weiteren Bücher von Alina Bronsky neugierig gemacht.

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