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Veröffentlicht am 01.04.2025

Wie Geschöpfe der Mythen

Pearly Everlasting
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1903 fotografierte der Naturfotograf William Lyman Underwood in einem Holzfällercamp mitten in den Wäldern von Maine/USA eine Mutter, die nicht nur ihre neugeborene Tochter, sondern auch ein verwaistes ...

1903 fotografierte der Naturfotograf William Lyman Underwood in einem Holzfällercamp mitten in den Wäldern von Maine/USA eine Mutter, die nicht nur ihre neugeborene Tochter, sondern auch ein verwaistes Bärenjunges stillte. Die kanadische Autorin Tammy Armstrong fand dieses Foto in Underwoods Memoiren und ließ sich zu einer faszinierenden fiktiven Geschichte inspirieren. Sie schob den Ort der Handlung von Maine ins jenseits der Grenze gelegene kanadische New Brunswick, wo auch ihre Vorfahren dereinst in Holzfällercamps arbeiteten.

Im „falschen Frühling 1918“ findet der Koch eines kanadischen Holzfällercamps ein verwaistes Bärenjunges. In der kargen Hütte der Familie erhält der kleine Bär den Namen Bruno und wird zusammen mit der neugeborenen Tochter Pearly Everlasting wie ein Zwillingspaar aufgezogen. Mutter Eula nährt sogar beide an der Brust. Das Verhältnis von Pearly und Bruno ist emotional sehr eng. Sie beschützen einander und haben eine besondere Art der Kommunikation.
Pearly erzählt dem Bären selbsterfundene Geschichten, alte Schäferzahlen „Yan, tan tether… pip, azer,sezar…“ und singt ihm ein eigenes Lied

„Und Bruno, mein Bruder, mein Zwilling, noch viel älter, weil Bären aus Mythen bestehen, aus Gestirnen, tiefen Höhlen und den langen Geschichten ihrer Flucht vor den Menschen.“ S. 67

Das Leben im rauen Holzfällercamp, mitten in der Waldeinsamkeit ist extrem hart und spartanisch. Wenn die Arbeit die Leute nicht umbringt, dann die Grausamkeit von Wetter und Wildnis. Vater Edon sorgt in der Camp-Küche um das leibliche Wohl der hart arbeitenden Männer, während Mutter Eula sich als Heilerin um die Verwundungen der Arbeiter kümmert. Denn ein Arzt kommt nur zweimal im Winter ins Camp.
Pearlys Familie und die Arbeiter des Camps bilden eine engverbundene Gemeinschaft in Armut und unter gefahrvollen Arbeitsbedingungen. Diese Gemeinschaft schließt den wilden jungen Bären ganz natürlich mit ein.

Von der Außenwelt, jenseits des Camps, wissen die Kinder - die große Schwester Ivy und Pearly -nichts. Dafür leben sie hautnah an der Natur als einzige Kinder im Camp.
Die warme Atmosphäre in der Gemeinschaft, die Verbundenheit zum Land und auch zum althergebrachten Aberglauben, der tief in den Menschen wurzelt, wird sehr eindringlich geschildert. Ist es doch gerade die mythische Gestalt des tödlichen Old Jack, dessen Bild Pearly ständig begleitet.

“Verhext zu werden war tief in den Vorstellungen der Männer verwurzelt, je nachdem, wo die Männer herkamen, hatte jeder sein ganz eigenes Verständnis von Vorzeichen, seinen Aberglauben und Amulette.“ S. 27

Der größte Teil der Handlung spielt zur Zeit der großen Depression „Great Depression“ Anfang der 1930iger Jahre. Pearly ist mittlerweile im Teenager-Alter und kennt noch immer nichts anderes als das Camp. Doch nun endet ihr karges, aber idyllisches Leben. Das Camp bekommt einen neuen Leiter. Aus Profitgier verschärft dieser brutal die Arbeitsbedingungen. Und einen Bären will er im Camp absolut nicht akzeptieren.

Nachdem Bär Bruno verschleppt wurde, ist Pearly extrem besorgt um sein Schicksal. Kurzentschlossen folgt sie seinen Spuren durch die eisige, schier endlose kanadische Wildnis, um ihn zu befreien und heim zu bringen. Die bitterkalte, winterliche Außenwelt hält viele schlimme, lebensbedrohliche Herausforderungen für das ungleiche Paar bereit. Doch auch vom Holzfällercamp aus macht sich jemand auf, um die beiden zu finden.



Fazit:
Die Geschichte wird zumeist aus der Ich-Perspektive der jungen Pearly Everlasting geschrieben. Die Ergänzung durch die Einschübe vom jungen Holzfäller Ansell oder dem Tierarzt fand ich gut, um Abwechslung hinein zu bekommen.

Die kleine Welt des Holzfällercamps wird sehr authentisch mit allen brutalen Härten, aber auch mit dem großen Zusammenhalt geschildert. Beeindruckend fand ich die mythischen Geschichten z.B. über die teuflische Kreatur Old Jack, mit denen Pearly aufwächst und deren Bilderwelt sie intensiv begleiten. Den Wert dieser Geschichten und des Aberglaubens zeigt der einzige Kontakt Pearlys nach außen auf. Gelegentlich kommen zwei Frauen ins Camp. Eine Frau, die Liederfängerin genannt wird, ist Ethnologin, die mit ihrer Begleiterin Ebony alte Volksweisen und Geschichten von Leuten wie Eula sammelt, bevor diese Quellen versiegen.
Wir sehen hier eine Welt, die nur wenige Jahre später durch den Einsatz großer Maschinen verschwinden wird.

Pearly ist ein sehr eindrucksvoller Charakter: rau, entschlossen, durchsetzungsstark, bodenständig. Die Liebe zu ihrem Bärenbruder lässt sie jedwede Ängste überwinden. Dabei weiß man manchmal nicht, was die größere Herausforderung ist – der Weg durch die eisige, einsame Winterlandschaft mit den Extremtemperaturen oder die kleine Stadt. Die Stadt bleibt für Pearly eine Bedrohung und ein Mysterium. Für die Bewohner der Stadt hingegen sind Pearly und der Bär wie Wesen aus einer Parallelwelt, Geschöpfe der Mythen.

Ein weiterer wichtiger Charakter ist Bruno. Er ist kein Haustier, sondern ein selbstständiges Wesen mit eigenem komplexen Empfinden und Verständnis. Er zeigt das unerklärliche Band auf, das zwischen zwei Wesen mit und auch ohne eine gemeinsame Sprache bestehen kann.
So prallt Old Jack, die dunkle, tödliche Macht der alten Welt auf die Grausamkeit der Zivilisation. Was für eine erschütternde Reise die Pearly da durchlebt, ihren Bären und auch irgendwie sich selbst findet. Tröstlich empfinde ich die Figur des vom Blitz gezeichneten Ansell, der wie ein Hoffnungsträger Pearly entgegen strebt.

Sehr gefallen haben mir die poetische Sprache und die märchenhaften Bilder, die ausgleichend zur unerbittlichen Realität wirkten. Dies ist eine Geschichte über Gier und Armut, über Liebe, Seelenverwandtschaft und Widerstandsfähigkeit. Für diese spannende Mischung aus Coming-of-Age und Abenteuerroman kann ich eine absolute Leseempfehlung geben.

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Veröffentlicht am 22.03.2025

Die Rivalin Vivaldis

Die Melodie der Lagune
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Der Titel dieses Buches mutete anfangs in meinen Ohren eher wie ein seichter Trivialroman an. Was für ein Irrtum, denn es verbirgt sich dahinter die fiktionale Bearbeitung einer sehr fesselnden historischen ...

Der Titel dieses Buches mutete anfangs in meinen Ohren eher wie ein seichter Trivialroman an. Was für ein Irrtum, denn es verbirgt sich dahinter die fiktionale Bearbeitung einer sehr fesselnden historischen Frauenbiographie. Im Original trägt der Roman den Titel „The Instrumentalist“.

Harriet Constable, die hier ihr Romandebüt vorlegt, ist Journalistin und Dokumentarfilmerin. Das Thema Musik liegt ihr, denn sie wuchs in einem sehr musikalischen Haushalt auf. Ihre Mutter ist klassische Cellistin.
Im Zentrum des Romans steht die Venezianerin Anna Maria della Pietà, in der Musikgeschichte auch bekannt als Anna Maria dal Violin.

Venedig 1696 – eine junge Mutter, die sich prostituieren muss, um zu überleben, eilt mit ihrem Baby zu einer Aussparung in der Mauer des Waisenhauses Ospedale della Pietà, eine Art Babyklappe, für ungewollte weibliche Säuglinge gedacht. Nachdem sie bei einer Hinterhof-Hebamme entbunden hat und sich nicht überwinden konnte, das Kind im Kanal zu ertränken, wie es viele andere tun, muss sie sich nun von der Tochter trennen. Denn wenn der Säugling zu groß für diese schmale Klappe wäre und daneben läge, wäre er dem Tod geweiht.

Als die Nonnen des Waisenhauses für Mädchen das Baby auf der anderen Mauerseite in Empfang nehmen, finden sie bei ihm auf einem Papier geschrieben: „Geh süßes Kind. Du sollst wissen, dass du geliebt wurdest“ und eine halbe Spielkarte. Die andere Hälfte behält die Mutter, wie eine letzte Verbindung.

Alle neu aufgenommenen Säuglinge werden mit einem Brandzeichen markiert, erhalten Vornamen mit dem Anhang “della Pietà“, werden karg und streng aufgezogen. Es erwarteten sie harte Arbeiten im Haus.
“Als Nächstes die morgendlichen Aufgaben: waschen, schrubben, nähen, bügeln, Gemüse putzen, Wasser kochen, scheuern, sauber machen. Erst nach dem Mittagsgebet haben die Mädchen frei.“ S. 25

Die positive Seite dieses Waisenhauses ist, dass den Mädchen eine gediegene musikalische Erziehung mitgegeben wird. Jedes Mädchen wird neben dem Gesang in mindestens einem Instrument unterrichtet. Die talentiertesten Mädchen können es ins Orchester schaffen. Die anderen Mädchen werden verheiratet. Nicht selten sind sie Objekte der Begierde der reichen Patrone des Waisenhauses. Doch die Alternativen zu diesem Schicksal sind aufgrund der großen Armut in der Republik Venedig in der Regel noch schlimmer.

Die kleine Anna Maria wächst mit ihren beiden Lieblingsfreudinnen Agata und Paulina wie Schwestern in dieser Gemeinschaft auf. Im Laufe der Jahre lernt sie nicht nur Violine zu spielen, sondern auch Cello, Oboe, Flöte, Mandoline, Cembalo u.a..
Anna Maria ist ein ganz besonderer Charakter. Sie erlebt das Hören von Musik als Farbwahrnehmung, ist also Synästhetikerin. Das Spielen eines Instrumentes kann für sie zum wahren Feuerwerk der Farben werden. Schon in ganz jungen Jahren erfasst sie ein großer Ehrgeiz. Das Geigenspiel möchte sie virtuos beherrschen. Sie träumt davon, als das jüngste Mitglied zum weltberühmten Orchester des Waisenhauses genannt „figlie di coro“ berufen zu werden.

Die historischen „figlie di coro“ (dt. „Töchter des Konservatoriums“) galten in der Republik Venedig und über die Grenzen hinaus als das angesehenste Orchester. Die Mädchen des Orchesters wurden vom Maestro unterrichtet und durften in Basiliken und Palazzi spielen. So verdienten sie Geld für das Waisenhaus und wurden zudem mit Ruhm und Geschenken bedacht. Oft spielten sie hinter einem Sichtschutz, um nur gehört und nicht gesehen zu werden, weil viele körperlich beeinträchtigt waren durch Geburtsfehler, Krankheitsfolgen (z.B. Pockennarben) oder auch Zeichen von Brutalität und Vernachlässigung. Wieder ein Tribut an das harte Leben, das sie sonst führten.

Neben der Begeisterung für die Musik und dem Ehrgeiz ist es auch die Angst, die Anna Maria zu diesem Wunsch Orchestermitglied zu werden, antreibt.
„Musik soll wie ein Schutzschild sein.“ S. 39
Denn die Mädchen mit musikalischen Talent sind sicher vor dem Verheiraten und dem mystischen unheimlichen Rabenmann, von dem die Mädchen raunen.
Alles ändert sich in dem Moment, als Anna Maria die Favoritin des Maestros wird. Eine besondere Rolle in der Geschichte des Ospedale della Pietà spielt nämlich sein bekanntester Musiklehrer und Maestro, der rothaarige Teufelsgeiger Antonio Vivaldi, der von 1703 bis 1715 Musikdirektor war. Das Orchester des Ospedale war sein kreatives Testfeld, Inspiration und vielleicht auch mehr.

Das Verhältnis zwischen Meister und Schülerin wird sehr ambivalent dargestellt. Anfangs ist die Haltung Vivaldis recht unbarmherzig, bald wird Anna Maria schon mit 8 Jahren seine Musterschülerin, eine Art Wunderkind. Schließlich beginnt der Lehrer seine Schülerin sozial zu isolieren, indem er ihren übergroßen Ehrgeiz negativ beeinflusst und auf sich fixiert. Zudem wird das junge Mädchen von Ruhm und Geschenken fast berauscht.
Doch die ehrgeizige, hochbegabte Anna Maria entwickelt sich persönlich wie auch musikalisch weiter. Es kommt zu einem dramatischen Wendepunkt für beide.

Fazit:
Harriet Constable ist ein vielschichtiger Roman gelungen. Als Leser*in glaubt man, das karge, aber vor Musik vibrierende Waisenhaus, die Palazzi wie auch die schmuddeligen Ecken, die Kanäle, das bunten Treiben Venedigs wie auch die brutalen Realitäten im 17. Jahrhundert zu sehen und zu hören. Sie lässt sich von realen Begebenheiten inspirieren und spinnt eine fiktionale Geschichte darum herum. Denn über die persönliche, emotionale Entwicklung der historischen Violinistin Anna Maria ist nichts bekannt. Daneben erzählt sie eine Coming-of-age Geschichte, die sehr stark geprägt ist von jugendlichem Ehrgeiz, Ängsten und der Verlockung des Ruhms.

Die Autorin hat den Charakteren Leben eingehaucht, zeigt ihre hellen, aber auch dunklen Seiten. Anna Maria spricht geradeheraus, ist sehr eigensinnig und überschwänglich, was es ihr in jenen Zeiten und ihrer Position nicht leicht macht. Dass die Autorin einen synästhetischen Aspekt dem großen Talent des Mädchens beifügt, erklärt deren Obsession. Sie gibt sich mit der Musik, vor allem der Geige dieser Farbenwelt hin.

Ihr Überlebenswille, Ehrgeiz, die beste Violinistin zu werden, und daraus resultierende sehr harte persönliche und soziale Entscheidungen gerade gegenüber den Freundinnen in Krisenzeiten haben sie mir zeitweise fast unsympathisch gemacht. Aber der Verlauf der Geschichte zeigt ihre Entwicklung und eine versöhnende Wendung.

Beim Stichwort Vivaldi sind mir vorher vor allem die "Vier Jahreszeiten" und die Violinkonzerte in den Sinn gekommen. Wie groß der Einfluss des Ensembles eines Waisenhauses auf sein Werk war, ahnte ich nicht. Allerdings kommt der Maestro in diesem Roman nicht wirklich sympathisch rüber.
Immerhin, Vivaldi widmete Anna Maria über 30 Violinkonzerte. Aber sein Verhältnis zu seinen vorpubertären Schülerinnen ist geprägt von Manipulation, Ausbeutung und Missbrauch.

Constable rückt mit der Geschichte der Anna Maria della Pietà auch einen zugleich spannenden wie auch traurigen Aspekt der Musikgeschichte ins Zentrum. Die Mädchen dieses damals europaweit bekannten Orchesters boten dem Komponisten eine Art Testfeld und „Brutkasten“ für seine Werke. Sie waren mehr als Musikantinnen, sondern nahmen aktiv teil am Schaffensprozess neuer Werke. Die jungen Mädchen probierten als Erste die neuen Stücke. Vermutlich schrieben sie Noten ab und halfen bei der Komposition. Ihr Beitrag war enorm.

Die Autorin schildert, wie auch die hochtalentierte Anna Maria eigene Kompositionsideen beiträgt. Sie hat das große Glück, gefördert zu werden. Doch eigene Ideen und Werke werden ihr – wie anderen Frauen in der Kunst - missgönnt, nicht zugestanden, weggenommen oder vernichtet. Eigene Kompositionen der Anna Maria della Pietà sind verschollen, wie die vieler anderer Musikerinnen.

Der Spannungsbogen der Handlung wird gut gehalten, denn Anna Marias Leben scheint oft wie ein Tanz auf einem schmalen Grat zwischen dem Ruhm auf der einen Seite und dem Abgrund auf der anderen. Das Erzähltempo nimmt gerade im letzten Viertel des Romans deutlich zu, als die persönliche Entwicklung des Mädchens und die Vorstellungen des Maestros kollidieren. Da ergeben sich unerwartete Wendungen.

Eine wunderbare Geschichte über eine historische junge Frau, die ihren Weg gegangen ist, die ich nur empfehlen kann.

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Veröffentlicht am 11.03.2025

Ein Hase verändert die Prioritäten

Hase und ich
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Dieses Buch kommt in Deutschland zur perfekten Jahreszeit heraus. Denn es wird auf jeden Fall seine Leserschaft dazu inspirieren, draußen in der Natur die Augen aufzuhalten, um vielleicht einen Hasen beobachten ...

Dieses Buch kommt in Deutschland zur perfekten Jahreszeit heraus. Denn es wird auf jeden Fall seine Leserschaft dazu inspirieren, draußen in der Natur die Augen aufzuhalten, um vielleicht einen Hasen beobachten zu können. Und gerade im Frühling sind sie nicht nur in der Dämmerung, sondern mit viel Glück auch einmal tagsüber zu sehen.

Das wunderschöne Cover und die herrlichen Illustrationen von Denise Nestor auf den Umschlagseiten und den Kapitelanfängen versprechen nicht zu viel. Es ist eine magische Geschichte, höchst poetisch erzählt.
Chloe Dalton verfasst hier ein perfektes Memoir, das sich auf einen ganz besonderen Wendepunkt ihres Lebens fokussiert. Mir gefällt auch der deutsche Titel besser als der englische Originaltitel „Raising a Hare“. Denn es steht hier nicht nur ein Hase im Fokus, sondern auch die persönliche Entwicklung der Erzählerin angestoßen durch diese Begegnung.

Eigentlich arbeitet die britische Autorin Chloe Dalton als politische Beraterin und gilt als Expertin für Außenpolitik. Zwar befindet sie sich außerhalb des Scheinwerferlichtes, ist jedoch stets in akuten Situationen, unter hohem Zeitdruck international unterwegs.
Doch als die ganze Welt aufgrund der Pandemie runterfährt und dicht macht, wird auch sie ausgebremst. Sie kehrt in das ländliche, idyllische England zurück, wo sie ein altes, kleines Cottage für ihre Zwischenstopps restaurieren gelassen hatte. Hier muss sie sich zunächst auf die reduzierte Geschwindigkeit des Lebens einstellen, was ihr nicht leicht fällt. Anfangs fehlt ihr ihre bewegte, urbane Existenz.

Auf einem ihrer langen, ländlichen Spaziergänge findet sie im freien Feld ein frisch geborenes Feldhasenkind. Im Englischen wird dies als „Leveret“ bezeichnet, im Deutschen als Junghase. Da es gänzlich ohne mütterlichen oder natürlichen Schutz auf dem Pfad liegt, ringt sie sich trotz anfänglicher Bedenken Stunden später dazu durch, es mitzunehmen.
Bereits in diesem Moment entsteht eine Beziehung zwischen Mensch und Tier. In ihren Plänen hat natürlich so ein hilfloses Jungtier überhaupt gar keinen Platz. Dabei bringt sie ja eine Menge Fähigkeiten mit, die nun vonnöten sind: nämlich Krisen zu bewältigen, sehr exakt zu beobachten, analytisch scharf zu denken, Informationen sammeln, auswerten und umsetzen. Denn der telefonisch zurate gezogene Experte macht ihr wenig Hoffnung. So hinreißend die wilden Feldhasen sind, so sind sie doch nie domestiziert worden. Es gibt so gut wie keine Erfahrungen über die Aufzucht.

Ab diesem Moment startet ein sehr zerbrechliches Zusammensein. Der Lebenszyklus des so verletzlichen, heranwachsenden Hasen strukturiert von nun an Daltons Tagesablauf und Leben streng: von den Schlaf- und Fütterungszeiten, Gewohnheiten, Empfindlichkeiten. Der Hase lässt sie zur Ruhe kommen und schenkt dafür seine Nähe.

Zentral ist für Dalton, dass sie dem Hasen Sorge, Platz und Freiheit bieten will, ohne ihn zu vermenschlichen oder zum Haustier zu machen. Er soll später wieder in die Natur entlassen werden können. Dies ist ein Grund, weshalb sie dem Hasen auch keinen Namen gibt.

Die Erfolgsaussichten scheinen gering, die verfügbare Literatur mit den notwendigen Informationen ist mau. Dabei arbeitet die Autorin sehr gründlich und betreibt Literaturstudien vom Alten Testament, Altertum, mittelalterliche Bestiarien, Mythen, Legenden, naturwissenschaftliche Abhandlungen. Während ihrer ständigen Beobachtungen des Tieres merkt sie, dass Vieles, was über diese geheimnisvollen Tiere egal ob im Volksglauben, (englischen) Sprichwörtern, in Geschichten oder auch in der Naturwissenschaft berichtet wird, nicht ihren Erfahrungen bei der Aufzucht entspricht.
Und öfters hilft weniger ein Sachbuch, als z.B. ein Blick auf ein uraltes Gedicht von William Cowper (1731-1800) „Epitaph on a Hare“ das als wertvolle Orientierung dient.
Tatsächlich herrschte früher der Aberglaube, dass Hexen in Hasengestalt ihr Unwesen treiben oder die nachtaktiven Hasen als Handlanger hätten. In früheren Jahrhunderten wäre vielleicht – so mutmaßt Chloe Dalton - ein solcher Verdacht auf sie gefallen, weil sie mit Hasen unter einem Dach lebt.

„In meinen Augen war das Hasenjunge noch viel zu klein, um die Last von so viel Geschichte, Aberglauben und Erwartungshaltung zu tragen, also beschloss ich, es einfach nur Hase sein zu lassen.“ S. 104

So viele berührende Momente teilt die Autorin mit uns, vom Koriander liebenden Hasen, der aufs Bett hüpft und mit den Läufen auf die Kissen klopft und auch irgendwann die Mauer überspringt und in die Felder verschwindet. Der Hase ist als Protagonist nicht zu schlagen, man ist ihm als Leserin verfallen.

Chloe Dalton lernt durch die aufwändige Aufzucht und ihre Studien sehr viel über Hasen, über die Tiere im Allgemeinen und am Ende auch über sich selber. All ihre Beobachtungen und Bemühungen öffnen und verändern ihren Blick auf die Natur. Sie hat einen neuen Zugang zur Natur - und auch zu sich selber gefunden. Sie kommt aus dieser Zeit als anderer Mensch hervor. Ihre Überzeugungen und Prioritäten im Leben haben sich verschoben. Ohne ein Wort gelingt es dem Hasen, ihren Charakter zu verändern.

„Die feuchten Pfotenabdrücke, die sie an regnerischen oder taunassen Morgen auf dem Fußboden hinterlässt, verdunsten innerhalb weniger Minuten. Im Gegensatz dazu ist der emotionale Fußabdruck, den sie bei mir hinterlassen hat, immens.“ S. 288

Zauberhaft ist, wie exakt und detailliert, bildhaft, liebevoll und auch sehr poetisch sie ihr Zusammenleben mit dem Hasen beschreibt. Ihre Darstellungen spiegeln den Respekt vor der Natur und die Liebe zu dem Tier wider und wirken sehr inspirierend. Ihr bildhafter, poetischer und eindrücklicher Sprachstil wurde für mein Empfinden sehr ansprechend ins Deutsche übersetzt.

Als Leser
in kann man viele spannende Informationen mitnehmen. Da man sich beim Lesen gefühlsmäßig sehr mit der Autorin und dem Hasen verbindet, nimmt man das Gelernte mit Anteilnahme auf und ist bereit, seine Ansichten zu überdenken. So wie sich Chloe Daltons Augen öffnen für die Gefahren der Feldhasen in der freien Natur und vor allem in landwirtschaftlich genutzten Räumen, werden sich auch die Leser*innen dessen bewusst. Es ist an der Zeit mögliche Lösungen zu finden, bevor die Feldhasen gänzlich verschwinden. „An der Ernte klebt Blut“ und das ließe sich ändern.

Die Bedrohung ist groß, denn die Sterberate der Junghasen liegt bei 50% in den ersten 28 Tagen. Großbritannien hat 80% seines Bestandes an Hasen durch Jagd und Landwirtschaft im letzten Jahrhundert verloren. In Deutschland sieht es nicht viel anders aus. Die hiesigen Bestände des Feldhasen haben seit den 80er Jahren um 75 Prozent abgenommen.

Ich habe voller Ehrfurcht mit Chloe Daltons Bericht diese magische Zeit mit dem kleinen Hasen miterlebt und blickte dem Ende des Buches voller Sorge um den Hasen (grundlos) entgegen. Dabei habe ich doch gelernt, dass Feldhasen einen Heimatinstinkt haben.

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Veröffentlicht am 03.03.2025

Liebe zum Land, zur Mutter und zur Sprache

Russische Spezialitäten
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Dimitrij Kapitelman fasst in seinem Roman familiäre wie auch sehr aktuelle und große politische Themen an. Denn der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, rechtsextremistische Verhältnisse im Osten ...

Dimitrij Kapitelman fasst in seinem Roman familiäre wie auch sehr aktuelle und große politische Themen an. Denn der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine, rechtsextremistische Verhältnisse im Osten Deutschlands und die Identitätssuche in migrantisch gefärbten Familien bewegen das Land und reißen auch in Familien tiefe Gräben.
Diese schwierigen Themen gelassen, leicht und sogar mit Sprachwitz zu erzählen, beweist schon ein großes Maß an schriftstellerischem Können. Dabei ist Dimitrij Kapitelmans Muttersprache nicht Deutsch, sondern Russisch. Und gerade seine Liebe zu seiner Muttersprache ist ein weiteres zentrales Thema dieses Buches.

Die kleine Familie Kapitelmann kommt 1994 als „jüdische Kontigentflüchtlinge“ aus der Ukraine nach Deutschland. Da ist der in Kyjiw geborene Sohn Dimitrij acht Jahre alt. Sein Vater Leonid ist eigentlich Mathematiker, kam aber in der Sowjetunion als Jude beruflich im wissenschaftlichen Bereich nicht weit. In Leipzig eröffnet er das Магазин (dt. Magazin), einen kleinen Laden mit ukrainischen und russischen Spezialitäten.

Im ersten Teil des Buches wird die Geschichte der Familie in lebhaften kleinen Episoden erzählt, immer wieder mit Zeitsprüngen. So erleben wir die Eröffnung des Ladens in Leipzig und wie Onkel Jakob über das Parkett Linoleum legt und mit Leim überklebt (Wir werden Jakob noch mal wieder treffen). Mit wechselnder Elternbegleitung sehen wir Dimitrij nach Kyjiw fahren, um Nachschub an Spezialitäten für den "Magazin" zu besorgen. Wir lernen Kunden, Freunde und Bekannte kennen. Die Darstellung wird mit Humor, Wortwitzen und Absurditäten des Alltags gewürzt.

Das Магазин schenkt der Familie ein spärliches Einkommen. Noch wichtiger scheint es, dass es ihnen einen Ort der Sicherheit und Wärme bietet in einer Außenwelt rechtsextremer Bedrohungen. Manchmal scheint das Magazin wie ein sentimentales, nostalgisches Paralleluniversum. Kunden sind meist Exil-Osteuropäer – liebevoll „Nashi“ genannt (auch im ukrainischen наші, frei übersetzt „die Unsrigen“) - und Ostdeutsche mit Neigung zu DDR-Nostalgie.

Der russische Überfall auf die Ukraine beendet dies endgültig. Mit dem unrentabel gewordenen Magazin geht diese Zeit unter.

Eng verwoben sind für Dimitrij die Liebe zur Mutter, die Liebe zur Muttersprache und die Liebe zu seiner Geburtsstadt Kyjiw. Doch hier erleben wir eine zunehmende Entfremdung. Früher konnte die Mutter dem Sohn noch bildliche „Sterne vom Himmel pflücken“, doch nun hockt sie kettenrauchend, manchmal noch üppig und "kyjiw-kompatibel" geschminkt vor dem Bildschirm und saugt Kreml-Propaganda aus dem russischen Fernsehsender.
Dabei verbindet sie, die in Moldawien geboren ist und in Kyjiw heiratete, außer der russischen Sprache gar nichts mit dem russischen Staat. Trotzdem lauscht und glaubt sie selbst den krudesten Propagandainhalten und Geschichtsverdrehungen Putins, die die Wahrheit fälschen und so verführerisch einfache Erklärungen anbieten, warum sie immer Recht haben und von der Welt verkannt werden. Ohne Faktencheck werden alle Narrative eingesaugt.

Da Dimitrij sehr an seiner Geburtsheimat hängt, wehrt er sich gegen diese Lügen. Der Konflikt zwischen Mutter und Sohn, die sich eigentlich sehr lieben, ist sehr schmerzhaft für die gesamte Familie. Angriffskrieg, Autoritarismus und Propaganda beginnen die Familie zu spalten
Diese familiäre Zerrissenheit, die Wahrheitsfälschung, die Suche nach der Zugehörigkeit in den Zeiten des Krieges sind große Motive der Erzählung.

Doch auch Dimitrijs geliebte Muttersprache wird politisch vereinnahmt. Er will nicht von ihr lassen, ringt um sie. Sprache ist eben nicht nur ein Mittel, um miteinander zu kommunizieren. Sie stiftet auch Identität. Doch sein Verhältnis zu ihr ist zunehmend belastet. Er findet, dass die Sprache nicht Eigentum des Kreml-Regimes ist, auch wenn gerade sie immer als Kriegsgrund aufgeführt wird. So wird auch das Verhältnis zur Sprache zu einer Art politischer Emanzipation.

„Seit diesem Krieg weiß ich überhaupt nicht, was Sprache eigentlich ist. Was sie soll. Was sie ist. Ob sie gehört, wem sie gehört, wohin sie gehört. Wie sehr Sprache der Zeit hörig ist.“ S. 9

Dass Kapitelman ein Mensch der Sprache ist, zeigt sein spielerischer Umgang mit der deutschen Sprache. Ja, während des Erzählprozesses spielt er frech und kreativ mit allen Sprachen: der Deutschen, Russischen und auch Ukrainischen. Er kreiert neue Wörter und arbeitet mit vielen Sprachbildern.

"Ein kleiner, für immer mutter-sprachlich verängstigter Teil von mir freut sich darüber, auf Anhieb das richtige russische Wort für russische Radikalisierung gefunden zu haben. Sich etwas anatmen bedeutet, dumme Dinge in den Kopf zu nehmen und sich zu verändern." S. 130

Im zweiten Teil des Buches macht sich Dimitrij auf den Weg in die kriegsgeschundene Ukraine und hofft mit dieser Reise das Weltbild der Mutter verändern zu können.
In Kyjiw trifft er alte Freunde, erlebt den von Ängsten geprägten Alltag der Menschen vor Ort und ihre Gedanken. Die Erlebnisse färben die Erzählweise und zeigen ein sehr realistisches, extrem bewegendes Bild einer Stadt im Krieg. Nach Lachen und Wortwitz ist einem nicht mehr zumute. Während Dimitrij bei Luftalarm im Bunker sitzt, fragt seine Mutter per Handy nur nach Salo, dem geschätzten ukrainischen Speck. Der Sohn fährt nach Butscha und Borodjanka, erlebt berührende und verstörende Begegnungen.

Natürlich verständigt er sich In der Ukraine nur mit Russisch: Niemand stört sich daran. Doch die Menschen haben nun einen Widerwillen, die Sprache der Täter zu benutzen oder an die Kinder weiterzugeben, ein Ergebnis des Krieges.

Der zweite Teil des Buches hätte nach meinem Geschmack gern noch länger sein dürfen. Doch nicht nur der Blick in die Ukraine ist bedeutsam. Auch wie sich das Leben dieser ukrainisch-moldawisch-jüdischen Familie in Ostdeutschland gestaltet, ist hochaktuell.
Denn das Leben der Kapitelmans und ihrer Nachbarn mit Migrationshintergrund wird stark von den Neo-Nazis beeinflusst. Auch wenn Dimitrij den netten Rentner trifft, mit dem man sich austauschen könnte „was seitdem alles schieflaufe und wofür er eben nicht auf die Straße gegangen sei 1989.“ S. 96

Während die russische Propaganda gern Nazis in der Ukraine verortet, wird der Rechtsextremismus in Ostdeutschland gepflegt. Ihre Parteiplakate hängen überall.

„Dreißig Jahre Deutschland, kein Jahr ohne Hakenkreuze.“ S. 182

Menschen mit Migrationshintergrund leben hier gefährlich. Auch wenn man wie der Autor mittlerweile nur noch einen deutschen Pass führt, ist es schwer, Deutschland unter diesen politischen Bedingungen als Heimat zu empfinden. Das kann man als Leser sehr gut nachvollziehen.

Invasion und Krieg auf der einen Seite, Hass und Hetze auf der anderen Seite, zugedröhnt von Propaganda – so wird die Suche nach der persönlichen Identität zu einem Lauf durch ein Minenfeld.

Trotz allem erzählt Kapitelman mit einem sehr persönlichen Stil empathisch, liebevoll, poetisch, und mit freundlichem Sarkasmus gewürzt. Mit Ironie, Sprachwitz, humorvollem Surrealismus fängt er die oft bizarre Realität ein. Im zweiten Teil schwingt verständlich die leise Trauer und Verzweiflung mit.
Mich haben die vielen Bilder beeindruckt, die er entwirft, und die einem noch lange nachgehen. So wie Onkel Jakob, der sich erst mit der Entsorgung des sowjetischen Leims befreien kann.

„Das ist sowjetisch-russischer Leim, der löst sich nicht. Was er einmal hatte, lässt er nicht mehr los!“ – „Der Leim ist nicht Putin, Onkel Jakob“, feixe ich (S. 99)

Am Ende ging mir so nach, dass der Titel des Buches vordergründig auf die Spezialitäten des Ladens anspielt. Aber wenn ich mir die Motive des Romans und die Sprachkunst so anschaue, könnte der Titel auch eine Anspielung auf eine weitere grausame russische Spezialität sein, andere Völker mit Krieg und Genozid zu überziehen.

Hier ist dem Autor ein sehr persönliches, berührendes und wichtiges Buch gelungen.

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Veröffentlicht am 15.02.2025

Ein Mikrokosmos im Faschismus

Ginsterburg
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Arno Frank führt uns in die fiktive deutsche Kleinstadt Ginsterburg, wo wir zu drei Zeitpunkten, in den Jahren 1935, 1940 und 1945 die Entwicklung der Bevölkerung verfolgen können.

1935, zwei Jahre nach ...

Arno Frank führt uns in die fiktive deutsche Kleinstadt Ginsterburg, wo wir zu drei Zeitpunkten, in den Jahren 1935, 1940 und 1945 die Entwicklung der Bevölkerung verfolgen können.

1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung hat sich der Alltag bereits deutlich verändert.
Die jung verwitwete, politisch eher links orientierte Buchhändlerin Merle hat noch große Ressentiments gegenüber den nationalsozialistischen Machthabern. Sie zieht allein und sehr liebevoll ihren sensiblen, sehr naturverbundenen Sohn Lothar auf. Anfangs fremdelt Lothar sehr mit der Hitlerjugend in seinem Ort, die mit Ignoranz und Brutalität glänzt. Doch mit seiner Faszination für das Fliegen wird er bald an deren Angel hängen.

Die Gunst der Stunde ergreift der Blumenhändler Gürckel, macht Geschäfte, reichert Machtpositionen an, steigt so zum Kreisleiter auf und bringt Grundstücke und Gebäude in seinen Besitz. Er verhilft auch Eugen, der sich an seinem Kriegsveteranen-Vater abarbeitet, zum Posten des Schriftleiters der ehemals jüdisch geleiteten Ginsterburger Lokalzeitung. Den ganzen Verlauf des Romans wird Eugen ausschweifend und inbrünstig an der Chronik des Ortes schreiben.

Ein weiterer Profiteur ist der Papierfabrikant Jungheinrich. Er weiß auszunutzen, dass man für Granaten auch Papier braucht. Auch der Arzt Hansemann lebt seine „medizinischen Forschungsinteressen“ im Osten aus.
Zu den Verlierern gehören z.B. der jüdische Zeitungsverleger, der schwule Filmvorführer und der geistig behinderte Fritz

1940 haben sich die jüdischen Mitbürger selbst aus dem Ort entfernt, durch Flucht oder Suizid. Der Krieg scheint weit weg zu sein. Dafür laufen die Geschäfte der Profiteure prächtig. Kritische Stimmen sind verstummt oder haben sich korrumpieren lassen. Man hat sich mit den Gegebenheiten arrangiert oder angepasst, wenn man nicht sowieso voller völkischer Begeisterung mitschwingt. Es ist deutlich zu merken, wie das Geschehen die Menschen verändert hat.

Fazit:
Ich halte das Thema an sich, wie das alltägliche Leben der Menschen bis ins Detail von der Machtergreifung verändert wurde, vom kleinen Kind bis zum Greis, vom Gesunden bis zum Kranken für ungemein wichtig.

Die Blicke auf drei verschiedene Jahre: 1935, zwei Jahre nach der Machtergreifung, 1940 nach Kriegsbeginn, 1945 kurz vor dem Zusammenbruch und Kriegsende sind eigentlich eine gute Idee, um Entwicklungen zu verdeutlichen. So werden an verschiedenen Protagonisten die Gewinner und Verlierer des Systems, die Korrumpierung der Menschen, seelische Auswirkungen, ihre persönlichen Verstrickungen aufgezeigt.

Der am besten gezeichnete Charakter ist für mich der Junge Lothar. Der junge Naturliebhaber, fasziniert vom Fliegen, entrinnt seiner Mutter zunehmend. Er ist sehr sensibel und liebevoll dargestellt und kann kein Wesen leiden sehen. Allerdings ist seine Entwicklung nicht so anschaulich dargestellt, dass ich verstehe, wie es dazu kommt, dass er später emotionslos Bomben auf Städte fallen lässt. Dabei ist es doch gerade so wichtig, dass man genau das nachvollziehen kann.

Unter die fiktiven Charaktere mischen sich tatsächliche historische Personen mit ihrem Realnamen wie Lothar Sieber und Erich Barmin. Gerade dieser Lothar Sieber wird zu einem äußerst wichtigen Protagonisten. Ohne Erwähnung z.B. in einem Vor- oder Nachwort ist das so in meinen Augen absolut nicht in Ordnung, zumal sogar das Testament des realen Lothar Sieber wortgetreu übernommen wird.

Lediglich angedeutet in kurzen Erwähnungen oder kleinen Bildern werden die Vernichtung der Juden, politische und rassische Verfolgung und andere Grausamkeiten. Alles scheint wie auch der Krieg nur in der Ferne stattzufinden.

Es gibt nur wenige Momente, die mich wirklich bewegt und erschüttert haben, wie der blutige Wahnsinn und rauschhafte Blutdurst der Soldaten beim Töten der Kraniche, die lapidare Hinrichtung von Zwangsarbeitern und des britischen Kriegsgefangenen, welcher sich wie ein Menetekel vom Beginn des Buches an auf Ginsterburg zubewegt.
Ansonsten haben die Protagonisten anscheinend kaum greifbare Zweifel oder Emotionen. Mir fehlen da persönliche Entwicklungen, Einsichten, Widerstand. Die Beziehungen der Charaktere sind oft wenig nachvollziehbar, teilweise banal und berühren mich so nicht. So möchte man doch unbedingt miterleben, wie es zu Lothars Entwicklungswende kommt, wie Protagonisten plötzlich eine Beziehung beginnen etc.

Die Darstellung der Charaktere ist gelegentlich recht grob skizziert und oberflächlich, manchmal auch klischeehaft z.B. die Nazizwillinge des Kreisleiters. Manche Figuren erscheinen redundant (z.B. die Zirkusleute). Viele Entscheidungen und Entwicklungen der Charaktere an denen man gerne teilhaben würde, werden nur nacherzählt (z.B. Wendepunkte bestimmter wichtiger Personen, Entwicklungen von persönlichen Beziehungen).

Die Erzählperspektive wechselt öfter. Am Anfang hatte ich die Hoffnung, dass die Darstellung von Merle und ihrem Sohn Lothar tiefer dringt, leider entgleiten dem Autor diese Fäden.
Mir ist es deshalb leider nicht gelungen, mich mit einem der Charaktere näher zu verbinden.
Der Schreibstil erinnerte mich etwas an den Stil der 30iger und 40iger Jahre, was ja eigentlich passen würde. Zeitweise ist der Stil recht anschaulich und stimmungsvoll. Aber oft scheint die Geschichte vor sich hin zu mäandrieren und immer wieder Schleifen zu den vielen Nebenfiguren zu ziehen.

Das Ziel des Autors Arno Frank ist Parallelen aufzuzeigen zwischen der heutigen politischen Situation und der, die zur NS-Zeit geführt hat mit den entsprechenden Folgen für die Menschen. Die normale Bevölkerung wird zu Mitläufern, Mittätern, Denunzianten. Am Ende mündet es alles direkt in der Katastrophe. Das ist eine sehr wichtige Absicht, die mich persönlich hier aber nicht wirklich überzeugen konnte.

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