Wie Geschöpfe der Mythen
Pearly Everlasting1903 fotografierte der Naturfotograf William Lyman Underwood in einem Holzfällercamp mitten in den Wäldern von Maine/USA eine Mutter, die nicht nur ihre neugeborene Tochter, sondern auch ein verwaistes ...
1903 fotografierte der Naturfotograf William Lyman Underwood in einem Holzfällercamp mitten in den Wäldern von Maine/USA eine Mutter, die nicht nur ihre neugeborene Tochter, sondern auch ein verwaistes Bärenjunges stillte. Die kanadische Autorin Tammy Armstrong fand dieses Foto in Underwoods Memoiren und ließ sich zu einer faszinierenden fiktiven Geschichte inspirieren. Sie schob den Ort der Handlung von Maine ins jenseits der Grenze gelegene kanadische New Brunswick, wo auch ihre Vorfahren dereinst in Holzfällercamps arbeiteten.
Im „falschen Frühling 1918“ findet der Koch eines kanadischen Holzfällercamps ein verwaistes Bärenjunges. In der kargen Hütte der Familie erhält der kleine Bär den Namen Bruno und wird zusammen mit der neugeborenen Tochter Pearly Everlasting wie ein Zwillingspaar aufgezogen. Mutter Eula nährt sogar beide an der Brust. Das Verhältnis von Pearly und Bruno ist emotional sehr eng. Sie beschützen einander und haben eine besondere Art der Kommunikation.
Pearly erzählt dem Bären selbsterfundene Geschichten, alte Schäferzahlen „Yan, tan tether… pip, azer,sezar…“ und singt ihm ein eigenes Lied
„Und Bruno, mein Bruder, mein Zwilling, noch viel älter, weil Bären aus Mythen bestehen, aus Gestirnen, tiefen Höhlen und den langen Geschichten ihrer Flucht vor den Menschen.“ S. 67
Das Leben im rauen Holzfällercamp, mitten in der Waldeinsamkeit ist extrem hart und spartanisch. Wenn die Arbeit die Leute nicht umbringt, dann die Grausamkeit von Wetter und Wildnis. Vater Edon sorgt in der Camp-Küche um das leibliche Wohl der hart arbeitenden Männer, während Mutter Eula sich als Heilerin um die Verwundungen der Arbeiter kümmert. Denn ein Arzt kommt nur zweimal im Winter ins Camp.
Pearlys Familie und die Arbeiter des Camps bilden eine engverbundene Gemeinschaft in Armut und unter gefahrvollen Arbeitsbedingungen. Diese Gemeinschaft schließt den wilden jungen Bären ganz natürlich mit ein.
Von der Außenwelt, jenseits des Camps, wissen die Kinder - die große Schwester Ivy und Pearly -nichts. Dafür leben sie hautnah an der Natur als einzige Kinder im Camp.
Die warme Atmosphäre in der Gemeinschaft, die Verbundenheit zum Land und auch zum althergebrachten Aberglauben, der tief in den Menschen wurzelt, wird sehr eindringlich geschildert. Ist es doch gerade die mythische Gestalt des tödlichen Old Jack, dessen Bild Pearly ständig begleitet.
“Verhext zu werden war tief in den Vorstellungen der Männer verwurzelt, je nachdem, wo die Männer herkamen, hatte jeder sein ganz eigenes Verständnis von Vorzeichen, seinen Aberglauben und Amulette.“ S. 27
Der größte Teil der Handlung spielt zur Zeit der großen Depression „Great Depression“ Anfang der 1930iger Jahre. Pearly ist mittlerweile im Teenager-Alter und kennt noch immer nichts anderes als das Camp. Doch nun endet ihr karges, aber idyllisches Leben. Das Camp bekommt einen neuen Leiter. Aus Profitgier verschärft dieser brutal die Arbeitsbedingungen. Und einen Bären will er im Camp absolut nicht akzeptieren.
Nachdem Bär Bruno verschleppt wurde, ist Pearly extrem besorgt um sein Schicksal. Kurzentschlossen folgt sie seinen Spuren durch die eisige, schier endlose kanadische Wildnis, um ihn zu befreien und heim zu bringen. Die bitterkalte, winterliche Außenwelt hält viele schlimme, lebensbedrohliche Herausforderungen für das ungleiche Paar bereit. Doch auch vom Holzfällercamp aus macht sich jemand auf, um die beiden zu finden.
Fazit:
Die Geschichte wird zumeist aus der Ich-Perspektive der jungen Pearly Everlasting geschrieben. Die Ergänzung durch die Einschübe vom jungen Holzfäller Ansell oder dem Tierarzt fand ich gut, um Abwechslung hinein zu bekommen.
Die kleine Welt des Holzfällercamps wird sehr authentisch mit allen brutalen Härten, aber auch mit dem großen Zusammenhalt geschildert. Beeindruckend fand ich die mythischen Geschichten z.B. über die teuflische Kreatur Old Jack, mit denen Pearly aufwächst und deren Bilderwelt sie intensiv begleiten. Den Wert dieser Geschichten und des Aberglaubens zeigt der einzige Kontakt Pearlys nach außen auf. Gelegentlich kommen zwei Frauen ins Camp. Eine Frau, die Liederfängerin genannt wird, ist Ethnologin, die mit ihrer Begleiterin Ebony alte Volksweisen und Geschichten von Leuten wie Eula sammelt, bevor diese Quellen versiegen.
Wir sehen hier eine Welt, die nur wenige Jahre später durch den Einsatz großer Maschinen verschwinden wird.
Pearly ist ein sehr eindrucksvoller Charakter: rau, entschlossen, durchsetzungsstark, bodenständig. Die Liebe zu ihrem Bärenbruder lässt sie jedwede Ängste überwinden. Dabei weiß man manchmal nicht, was die größere Herausforderung ist – der Weg durch die eisige, einsame Winterlandschaft mit den Extremtemperaturen oder die kleine Stadt. Die Stadt bleibt für Pearly eine Bedrohung und ein Mysterium. Für die Bewohner der Stadt hingegen sind Pearly und der Bär wie Wesen aus einer Parallelwelt, Geschöpfe der Mythen.
Ein weiterer wichtiger Charakter ist Bruno. Er ist kein Haustier, sondern ein selbstständiges Wesen mit eigenem komplexen Empfinden und Verständnis. Er zeigt das unerklärliche Band auf, das zwischen zwei Wesen mit und auch ohne eine gemeinsame Sprache bestehen kann.
So prallt Old Jack, die dunkle, tödliche Macht der alten Welt auf die Grausamkeit der Zivilisation. Was für eine erschütternde Reise die Pearly da durchlebt, ihren Bären und auch irgendwie sich selbst findet. Tröstlich empfinde ich die Figur des vom Blitz gezeichneten Ansell, der wie ein Hoffnungsträger Pearly entgegen strebt.
Sehr gefallen haben mir die poetische Sprache und die märchenhaften Bilder, die ausgleichend zur unerbittlichen Realität wirkten. Dies ist eine Geschichte über Gier und Armut, über Liebe, Seelenverwandtschaft und Widerstandsfähigkeit. Für diese spannende Mischung aus Coming-of-Age und Abenteuerroman kann ich eine absolute Leseempfehlung geben.