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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 12.03.2019

4,5 Sterne: Hoch spannender, wendungsreicher Thriller mit starker weiblicher Hauptfigur

Todeskäfig (Ein Sayer-Altair-Thriller 1)
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Special Agent Sayer Altair wird zu einem Mordfall gerufen: Ein Mädchen wurde in einem Käfig tot aufgefunden, sie ist verdurstet. Ungewöhnlich ist, dass sie nicht alleine ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Special Agent Sayer Altair wird zu einem Mordfall gerufen: Ein Mädchen wurde in einem Käfig tot aufgefunden, sie ist verdurstet. Ungewöhnlich ist, dass sie nicht alleine war: Ein kleiner Welpe leistete ihr Gesellschaft und kann lebend geborgen werden. Auf Sayer, die zur leitenden Ermittlerin gemacht wird, lastet großer Druck. Dann taucht ein Hinweis auf, dass ein weiteres Opfer gerade ebenfalls in einem Käfig um Leben und Tod kämpft. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band 1 der Reihe um Agent Sayer Altair, Band 2 wird auf Englisch voraussichtlich im Juli erscheinen
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 496
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Sicht geschrieben (Sayer), einzelne Kapitel aus der Sicht der Opfer oder anderer Ermittler
Kapitellänge: angenehm kurz
Tiere im Buch: +/- Hundewelpen und Kätzchen werden in diesem Buch gequält und in einem Fall sogar getötet. Gleichzeitig werden die Tiere von anderen Personen aber sehr liebevoll umsorgt und behandelt. Einmal nimmt eine Person einen Welpen ungesichert im Beiwagen eines Motorrades mit – vollkommen unverantwortlich und lächerlich gefährlich meiner Meinung nach. Da konnte ich nur den Kopf schütteln!

Warum dieses Buch?

Im Vorfeld habe ich sehr viel Gutes über dieses Buch gehört, daher wollte ich es unbedingt lesen. Auch der Klappentext und die Leseprobe konnten mich sofort überzeugen.

Meine Meinung

Einstieg (♥)

Der Einstieg ist mir sehr leicht gefallen, sofort war ich in der Geschichte angekommen. Wir begleiten zwei Polizisten zu einem Einsatz, der gänzlich anders abläuft, als diese ihn sich vorgestellt haben. Ein Cliffhanger schürt schon am Beginn die Neugier. Hier gibt es keine lange, langweilige Einleitung, sondern einen direkten, interessanten Einstieg – so muss das sein!

Schreibstil (+)

Den Schreibstil empfand ich als sehr angenehm und flüssig. Für einen Thriller ist er optimal geeignet, weil er gleichzeitig sehr anschaulich und atmosphärisch ist und genauso gut Emotionen vermitteln wie Spannung erzeugen kann. Auch Humor blitzt immer wieder durch, was mir sehr gut gefallen hat. Bei alledem ist die Sprache angemessen komplex und wirkt niemals zu einfach oder gar lieblos – ich war absolut glücklich mit dem Schreibstil und bin bestimmt auch deshalb so schnell mit dem Buch vorangekommen.

„Hinter dem Absperrband hatte sich bereits eine kleine Schar von Schaulustigen zusammengefunden, deren neugierige Gesichter in der Abenddämmerung im Licht der Einsatzfahrzeuge abwechselnd rot und blau aufleuchteten.“ E-Book, Position 237

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Mit „Todeskäfig“ erfindet die Autorin das Rad nicht neu, aber sie macht vieles richtig. Ellison Cooper hat sich einen kreativen, wendungsreichen und unterhaltsamen Plot ausgedacht, durch den sich ihr Thriller von anderen abhebt. Ich habe mich immer sehr darauf gefreut, abends wieder in Sayers Welt einzutauchen und mit ihr auf Mörderjagd zu gehen. Besonders gut gelungen sind die Beschreibungen der polizeilichen Ermittlungen. Man ist bei jeder Entdeckung ganz nah dran am Geschehen und kann den Ermittelnden über die Schulter schauen. Dabei sind die Erkenntnisse häufig wirklich absolut überraschend und unerwartet – es handelt sich hier glücklicherweise nicht wie bei Chris Carters „Blutrausch“ um Dinge, die man sich als Leserin schon vor zwanzig Seiten zusammengereimt hat. Ich habe gelesen, dass manche die detaillierte Ermittlungsarbeit langweilig fanden – ich hingegen war fasziniert davon und sehr interessiert daran. Themen wie Trauer, Einsamkeit und Freundschaft werden mit für einen Thriller angemessener Tiefe behandelt – dennoch ist hier natürlich noch Luft nach oben. Kleinere Widersprüche und Ungereimtheiten kann ich problemlos verzeihen.

Zwischendurch werden immer wieder interessante Studien und Informationen über Serienkiller eingestreut. Laut Autorin handelt es sich hierbei um echte, wissenschaftliche Fakten. Ich war daher ziemlich begeistert von den neuen Erkenntnissen, die ich hier gewinnen konnte. Das Ende und den Showdown fand ich ebenfalls gelungen, auch wenn es nicht besonders innovativ, sondern eher thrillertypisch ausfällt.

„Wissenschaftliche Studien belegen, dass Menschen, die etwas Warmes zu trinken in der Hand haben, automatisch entspannter sind und daher auch eher bereit zu reden.“ E-Book, Position 2265

Protagonistin und Figuren (+/-)

Die Hauptfigur hat mir sehr gut gefallen. Sie ist eine starke, unabhängige Frau, die Motorrad fährt und beruflich sehr erfolgreich ist. Sayer ist intelligent, sehr sympathisch und hat glaubwürdige Stärken und Schwächen. Ich konnte mich sehr gut in sie hineinversetzen, ihr Verhalten fast immer nachvollziehen und habe ihr sehr gerne über die Schulter geschaut. Sehr geschätzt habe ich an ihr auch, dass sie sehr empathisch ist und sich oft nichts sagen lässt, sondern selbstbewusst eigene Entscheidungen trifft und zu diesen steht. Nur selten konnte ich ihr Verhalten oder das anderer Figuren nicht nachvollziehen und fand es unrealistisch oder sehr unklug. Ein Beispiel: An einer Stelle fand ich, dass die schlimmen Verletzungen einer Figur extrem verharmlost werden, weil getan wird, als hätte sich junge Person nur wenige Tage später ihr schweres Schicksal akzeptiert. Das finde ich absolut unglaubwürdig, hier hätte man mehr in die Tiefe gehen müssen.

Auch bei den Nebenfiguren merkt man, dass die Autorin sich bemüht hat, sie dreidimensional zu zeichnen und verschiedene Facetten von ihnen zu zeigen. Jedoch ist das leider oft nicht gelungen – einige Figuren wirken austauschbar und blass, statt einzigartig, lebendig und unvergesslich. Sie hätten in jedem „typischen“ Thriller vorkommen können. Leider konnten sie mich nicht so berühren und sich in mein Herz schleichen, wie ich mir das gewünscht hätte. Ein Beispiel für einen Thriller mit ganz wunderbaren Charakteren ist Daniel Coles „Hangman“ – ich kann euch die Reihe nur wärmstens ans Herz legen.

„Wenn der Partner angeschossen wurde, drückten einem alle ihr Beileid aus, aber unter dem Mitgefühl schwang auch noch etwas anderes mit. Eine unausgesprochene Frage. ‚Warum hast du ihm keine Deckung gegeben? Warum warst du nicht für ihn da?‘“ E-Book, Position 1836

Spannung & Atmosphäre (♥)

„Todeskäfig“ – kaum zu glauben, dass es sich hier um ein Debüt handelt! – macht vieles richtig, auch was den Spannungsaspekt betrifft. Durch die kurzen Kapitel und die atmosphärische Spannung, die die Autorin von Beginn an aufbaut und das ganze Buch über halten kann, entsteht ein hohes Tempo. Ich bin nur so durch das Buch geflogen, die relativ hohe Seitenzahl (fast 500) habe ich dabei kaum bemerkt. Die Autorin legt gekonnt viele falsche Fährten (nicht nur einmal bin ich einer solchen gefolgt) und verwöhnt uns mit vielen unerwarteten Wendungen und gelungenen Cliffhangern, die nicht zu dramatisch und konstruiert wirken. An den richtigen Stellen wurde gekürzt und der Inhalt kurz zusammengefasst – auch das fand ich beim Lesen sehr angenehm. Die Atmosphäre ist oft von Unruhe geprägt, voller Neugier rätselt man mit und versucht die Bösen zu entlarven. Die Stimmung im Buch hat mich sehr an „Blutrausch“ von Chris Carter erinnert – nur ohne die Schwächen des genannten Thrillers.

Feministischer Blickwinkel (♥)

In dieser Kategorie muss ich ein Herz vergeben: Zum einen wird auf Vielfältigkeit geachtet, da die Hauptfigur dunkelhäutig ist, zum anderen hat sich die Autorin nicht nur für eine starke, intelligente Protagonistin entschieden, sondern generell viele Frauen in Führungspositionen eingesetzt. In vielen (vor allem von männlichen Autoren geschriebenen) Thrillern ist das Geschlechterverhältnis oft sehr unausgewogen – nicht jedoch hier: Frauen leiten die Ermittlungsarbeiten, sind leitende Rechtsmedizinerinnen, Direktorinnen des FBI oder schlicht stark und mutig. Anti-feministische Männer und Chauvinisten wie der Profiler wirken in solch einem Umfeld ungefährlich und lächerlich. Für das Aufbrechen von Geschlechterstereotypen hat die Autorin ein großes Lob verdient. Alleine schon deswegen werde ich das Buch weiterempfehlen!

Mein Fazit

Mit „Todeskäfig“ hat Ellison Cooper das Rad nicht neu erfunden, aber sie hat einen unterhaltsamen, gelungenen Thriller geschrieben, der mit seinem flüssigen, anschaulichen Schreibstil, seiner starken, intelligenten Hauptfigur und seinem wendungsreichen, gelungenen Plot glänzen kann. Der Autorin gelingt es das ganze Buch über, das Tempo und die Spannung auf einem hohen Niveau zu halten, wodurch sich die Geschichte zu einem Pageturner voller falscher Fährten entwickelt. Das Miträtseln macht großen Spaß! Lediglich manchen Nebenfiguren hätte mehr Individualität gut getan, ihnen fehlt das gewisse Etwas, eine einzigartige, besondere Persönlichkeit. So bleiben einige leider blass und austauschbar. Ein großes Lob hat die Autorin dafür verdient, dass sie viele leitende Positionen mit starken Frauenfiguren besetzt und so in ihrem Thriller gegen die gläserne Decke anschreibt. Insgesamt kann ich euch „Todeskäfig“ also nur empfehlen: Taucht ein in Sayers Welt und geht mit ihr auf Mörderjagd – ihr werdet es nicht bereuen!

Den Folgeband werde ich auf jeden Fall auch lesen.

Empfehlung: Ellison Cooper schreibt wie Chris Carter – nur besser! Seinen Fans sei dieses Buch also wärmstens ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne
(Neben)Figuren: 3,5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Feministischer Blickwinkel: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir zufriedene viereinhalb Lilien!

Veröffentlicht am 10.03.2019

Überwältigende, bedrückende & inspirierende Biografie, die ihr euch nicht entgehen lassen solltet

Befreit
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Tara Westover wächst in einer Familie fundamentalistischer Mormonen auf, die weder an Bildung noch an die moderne Medizin glauben. Der paranoide Vater bereitet seine ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Tara Westover wächst in einer Familie fundamentalistischer Mormonen auf, die weder an Bildung noch an die moderne Medizin glauben. Der paranoide Vater bereitet seine Frau und Kinder jahrelang auf den Weltuntergang vor, setzt sie unglaublichen Gefahren aus und trichtert seiner Tochter immer wieder ein, wie eine „anständige“ Frau zu sein hätte. Dass es Tara Westover gelingt, aus dieser Welt auszubrechen, sich selbst genug Wissen anzueignen, um auf der Uni angenommen zu werden, und schließlich sogar zu promovieren, erscheint unglaublich. Und doch erzählt die Autorin in diesem Buch ihre wahre Lebensgeschichte…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Kiepenheuer & Witsch
Seitenzahl: 448
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben (Tara Westover)
Kapitellänge: meist mittel, manchmal kurz
Tiere im Buch: -! Es werden viele Tiere ohne schlechtes Gewissen getötet, um sie zu essen, oder auch verkauft, um geschlachtet zu werden. Zusätzlich wird ein Hund auf brutale, tierquälerische Weise und vollkommen grundlos getötet. Für Tierliebhaber ist dieses Buch daher nicht ganz so einfach zu verdauen.

Warum dieses Buch?

Als angehende Lehrerin liegt mir das Thema Bildung natürlich sehr am Herzen. Daher hat mich der Klappentext sofort neugierig gemacht. In reichen Ländern wie Österreich, die ein vergleichsweise gutes Schulsystem haben, wird der Zugang zu Bildung von uns und unseren Kindern oft als selbstverständlich angesehen. Dass hier eine Frau, die hart für ihre Bildung kämpfen musste, über dieses Thema spricht und uns dabei eine vielleicht völlig neue Sichtweise präsentiert, fand ich sehr interessant. Zudem wurde das Buch 2018 von Ex-Präsident Obama als Sommerlektüre empfohlen – eine Empfehlung, die ich nicht ignorieren wollte.

Meine Meinung

Einstieg (-!)

Der Einstieg stellt meinen größten Kritikpunkt dar: Es ist mir wahnsinnig schwer gefallen, einen Zugang zur Geschichte zu finden und ganz darin einzutauchen. Über mehrere Wochen und Monate habe ich mit diesem Buch gekämpft, habe es immer wieder weggelegt und überlegt, ob ich es abbrechen soll. Erst nach 150 Seiten, durch die ich mich trotz des einnehmenden Schreibstiles quälen musste, habe ich in die Geschichte gefunden. Woran das genau lag, kann ich nicht genau beschreiben – eventuell daran, dass die Handlung am Beginn nur sehr langsam fortschreitet oder daran, dass ich mich erst an den anspruchsvollen Schreibstil gewöhnen musste. Gebt nicht vor Seite 150 auf – es lohnt sich!

„‘Was ist College?‘, fragte ich.
‚College ist eine extra Schule für Leute, die zu dumm waren, es beim ersten Mal zu lernen“, sagte Dad.“ Seite 70

Schreibstil (♥)

Tara Westover hat einen anspruchsvollen Schreibstil, dieses Buch kann also auf keinen Fall nebenbei gelesen werden. Es dauerte etwas, bis ich mich an die Sprache gewöhnt hatte, doch dann habe ich sie lieben gelernt. Die Autorin schreibt sehr flüssig und angenehm, anschaulich, poetisch und ästhetisch. Kaum zu glauben, dass es sich hier um ein Debüt handelt! Gefühle werden nuanciert und mitreißend geschildert, auch spannende Passagen werden gekonnt inszeniert. Nur selten (vor allem am Beginn) gab es langatmige Abschnitte, die es mir etwas erschwert haben, mich zu motivieren, weiterzulesen. Liebhaber_innen von qualitativ hochwertiger Literatur werden diesen Stil lieben. Mit einer eindringlichen Erzählstimme und absolut wunderbaren Beschreibungen, Vergleichen, Metaphern und sprachlichen Bildern nimmt uns Tara Westover mit auf eine Reise, die ganz und gar unglaublich erscheint und die mich auch lange nach dem Lesen nicht losgelassen hat.

„Manchmal gibt es das in einer Familie: ein Kind, das nicht hineinpasst, das aus dem Rhythmus ist, dessen Metrum auf die falsche Melodie eingestellt ist. In unserer Familie war das Tyler.“ Seite 72

Inhalt, Themen & Botschaften (♥)

Was für ein Buch! Das waren die ersten Worte, die mir durch den Kopf gingen, als ich dieses Werk zuschlug. Tara Westovers Geschichte erscheint unwirklich, unglaublich: Es passiert so viel – Schönes, aber vor allem auch Schreckliches – , dass man im ersten Moment gar nicht glauben kann, dass es sich hier um eine Biographie mit Wahrheitsanspruch handeln soll und nicht um überdrehte Fiktion. Dabei war das Buch für mich stellenweise sehr schwer zu verdauen, vor allem was die Rückschläge, die Tara wiederfuhren, die intensiven Schilderungen der Gewalt in ihrer Kindheit und die schädlichen Frauen- und Männerbilder, die ihr so tief eingeimpft wurden, dass sie sich auch lange als Erwachsene, erfolgreiche Akademikerin nicht davon befreien konnte, betrifft. Auch heute scheint die Autorin noch mit ihrer Abstammung und Vergangenheit zu kämpfen, das Thema scheint noch nicht abgeschlossen zu sein. Auf jeden Fall wünsche ich der Autorin alles Gute und dass sie ihren Frieden findet.

Tara Westovers Geschichte macht wütend, ist überwältigend, berührend und schockierend, und sie führt dazu, dass man seine eigenen Bildungserfahrungen in einem ganz anderen Licht sieht. Die Hindernisse, denen ich auf meinem eigenen Bildungsweg als erstes Kind einer Arbeiterfamilie, das studiert, begegnete, erscheinen geradezu lächerlich und marginal, wenn man sie mit Taras Kampf um Bildung, Selbstbestimmung und Freiheit vergleicht. Ohne Frage ist sie eine beeindruckende Frau, die Unglaubliches geleistet hat.

Gewidmet ist das Buch Tyler, Taras älterem Bruder, der ihr ein wichtiges Vorbild war und sie immer unterstützt hat. Er wirkt tatsächlich wie ein Lichtblick in einer Welt, die als Außenstehende für mich absolut unwirklich erschien. Die Autorin schreckt vor den hässlichen Seiten ihres Lebens nicht zurück und beschreibt detailliert die schrecklichen Verletzungen, die ihre Familienmitglieder und sie selbst immer wieder erleiden und die nicht ärztlich behandelt werden. Für empfindliche Mägen ist das Buch daher mit Sicherheit nicht gut geeignet. Wichtige, aber schwierige Themen wie Unterdrückung, psychische Krankheiten, häusliche Gewalt, Fanatismus, die Loslösung von der eigenen Famlilie und Minderwertigkeitskomplexe werden ebenfalls nicht ausgeklammert, sondern ehrlich, feinfühlig, authentisch und tiefgründig behandelt. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es für die Autorin schmerzhaft war, in ihren alten Tagebüchern zu lesen und dieses Buch zu verfassen. Doch es hat sich meiner Meinung nach gelohnt: Die vorliegende Geschichte ist einzigartig und inspirierend und ist es definitiv wert, gelesen zu werden.

Protagonistin und Figuren (♥)

„Es mag noch so klar sein, dass man einen Nervenzusammenbruch hat, nur einem selbst ist es nicht klar. ‚Mir geht’s doch gut‘, denkt man. ‚Vierundzwanzig Stunden nonstop ferngesehen gestern, na und? Ich bin nicht am Ende. Ich bin bloß faul‘.“ Seite 414

Es ist sehr leicht, mit Tara mitzufühlen. Mit jeder gelesenen Seite schließt man diese starke, niemals arrogante weibliche Protagonistin mehr ins Herz, will sie umarmen, trösten, schlicht aus dieser Familiensituation „retten“. Taras intensive Gefühle und ihre lebendige Gedankenwelt werden sehr anschaulich beschrieben, sodass es einfach war, ihre Handlungen, Ängste und Zweifel zu verstehen und ein Genuss, sie auf ihrer Reise zu begleiten.

Auch die anderen Figuren wirken lebendig und dreidimensional. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie nach allem, was ihr vor allem von ihrem Bruder und ihren Eltern angetan wurde, auch die positiven Seiten ihrer Verwandten schildern und mit einem erstaunlich liebevollen Blick auf sie blicken konnte. Ich weiß nicht, ob mir das gelungen wäre – wahrscheinlich nicht. Es wäre einfach gewesen, sie als böse Menschen darzustellen und sich damit die Wut von der Seele zu schreiben, doch Tara ist es gelungen, genau das nicht zu tun und ihre Familienmitglieder so ehrlich und authentisch wie möglich zu beschreiben. Das Ergebnis sind real wirkende Menschen, mit einnehmenden guten und erschreckenden negativen Seiten, die in den Graubereichen zwischen „gut“ und „böse“ zu Hause sind. Dankbar war ich beim Lesen jedem, der Tara in irgendeiner Weise geholfen hat und es gut mit ihr gemeint hat. Aus diesem Grunde gehörten Charles und Tyler zu meinen Lieblingsfiguren.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

„Befreit“ gelingt es leider nicht durchgehend, den Spannungsbogen aufrecht zu erhalten. Vor allem am Beginn gibt es langatmige Stellen und Spannungseinbrüche. Nach dem ersten Drittel des Buches entwickelte das Buch jedoch einen regelrechten Sog, dem ich nur schwer entfliehen konnte. Ich wollte Tara unbedingt bis zum sehr gelungenen, lange nachklingenden Ende begleiten, auch wenn bei diesem trotz der großen Leistungen der Autorin ein seltsam unbefriedigender, ernüchternder und bedrückender Unterton mitzuschwingen scheint.

„Doch Rechtfertigung hat keine Macht über Schuldgefühle. Keine noch so große gegen andere gerichtete Wut kann sie lindern, weil die Schuldgefühle nie ‚sie‘ betreffen. Sie sind die Angst vor der eigenen Erbärmlichkeit.“ Seite 440

Feministischer Blickwinkel (♥)

Es gibt zwar viele frauenfeindliche Ansichten in diesem Buch (und frauenfeindliche Ausdrücke wie z. B. Hu++), doch stets werden die negativen, schmerzhaften und schädlichen Konsequenzen von toxischer Männlichkeit dargestellt. Man merkt, was dieses Gedankengut anrichten kann und kann das Buch daher als Kritik an veralteten, misogynen Frauenbildern und religiösem Fanatismus lesen. Zudem steht eine unglaublich starke, tolle Frau im Zentrum dieser Geschichte, die als Inspiration und Vorbild dienen kann, weil sie niemals aufgegeben hat und trotz aller Widerstände ihren Weg gegangen ist – auch wenn das sehr schwer war und es sicherlich auch immer noch ist. Dafür gibt es ein Herz.

Mein Fazit

„Befreit“ ist eine unglaubliche, überwältigende, berührende, bedrückende und schockierende Geschichte, die einem oft schwer im Magen liegt und die einen nach dem Lesen nicht so schnell wieder loslässt. Es lohnt sich, durchzuhalten, auch wenn man (wie ich) nicht sofort einen Zugang zur Geschichte findet. Taras Westovers Schreibstil ist anspruchsvoll, aber trotzdem flüssig, er ist poetisch, eindringlich und voller wundervoller Vergleiche und sprachlicher Bilder. Die starke weibliche Protagonistin ist eine beeindruckende, sympathische Persönlichkeit, die einem mit jedem Kapitel mehr ans Herz wächst und mit der ich intensiv mitgefühlt und mitgelitten habe. Großen Respekt hat die Autorin dafür verdient, dass sie es schafft, ihre Familienmitglieder authentisch und mit all ihren guten und schlechten Seiten darzustellen (trotz allem, was ihr angetan wurde) und dafür, dass sie auch schwierige Themen wie Fanatismus, psychische Krankheiten, Misogynie, die Loslösung von der eigenen Familie und physische und psychische Gewalt ehrlich, feinfühlig und tiefgehend behandelt. Auch wenn es vor allem im ersten Drittel des Buches Spannungseinbrüche und langatmige Stellen gibt, so ist das Kritik auf hohem Niveau. „Befreit“ ist nämlich insgesamt eine rundum gelungene Biographie und eine beeindruckende, inspirierende Lebensgeschichte, die beim Lesen etwas mit einem macht und einen in gewisser Weise verändert zurücklässt. Deshalb: Unbedingt lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 2 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 5 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses gelungene Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 06.03.2019

Gelungener feministischer Ratgeber, der Mädchen ermuntert, ganz sie selbst zu sein

How to be a girl
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Inhalt

Schlank muss man als junge Frau sein, wunderschön, glatte Haut, glänzendes Haar und hohe Wangenknochen haben. Oder? Die gesellschaftlichen Erwartungen, die in der heutigen Zeit von allen Seiten ...

Inhalt

Schlank muss man als junge Frau sein, wunderschön, glatte Haut, glänzendes Haar und hohe Wangenknochen haben. Oder? Die gesellschaftlichen Erwartungen, die in der heutigen Zeit von allen Seiten auf Mädchen und junge Frauen einprasseln und die unerreichbaren Schönheitsideale, die Modemagazine und Werbespots propagieren, sind erdrückend und drängen Jugendliche dazu, sich Ziele zu stecken, die sie niemals erreichen können. Julia Korbik hat mit ihren neuen Buch einen modernen Kompass geschaffen, der mit populären Mythen aufräumt und Mädchen ermuntert, sich zu trauen, sie selbst zu sein und ihren eigenen Weg zu gehen. Denn das ist auch im Jahre 2019 für Mädchen leider nicht so einfach, wie es sein sollte.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Genre: Sachbuch für 13-16-Jährige
Verlag: Gabriel in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH
Seitenzahl: 160
Tiere im Buch: Es kommen keine Tiere im Buch vor.

Warum dieses Buch?

Als angehende Lehrerin, Frau und Feministin liegt mir das Thema Gleichberechtigung sehr am Herzen, da ich mir eine tolerantere, freiere und glücklichere Zukunft für die folgenden Generationen wünsche. Immer noch haben Frauen mit vielen Nachteilen zu kämpfen, immer noch haben wir (leider!) den Feminismus bitter nötig (wer mir an dieser Stelle widersprechen möchte, sollte sich zuerst intensiv mit dem Thema auseinandersetzen, denn auch ich war früher anderer Meinung). Ich hatte große Hoffnungen, dass dieses Buch bei jungen Mädchen Bewusstsein schafft für veraltete Rollenbilder und die schädlichen, einengenden Erwartungen, mit denen Frauen auch im 21. Jahrhundert immer noch konfrontiert sind.

Meine Meinung

Aufbau & Einstieg (+)

Der Aufbau ist übersichtlich. Das Buch ist in fünf größere Kapitel unterteilt, die verschiedene Unteraspekte des jeweiligen Themas behandeln. Einem kurzen Vorwort, das die Motivation hinter diesem Buch erklärt, folgen abwechslungsreiche Kapitel, die neben viel Fließtext unter anderem auch Listen, Exkurse, Kurzbiographien von starken Frauen und Männern, die sich für Gleichberechtigung einsetzen, und Begriffserklärungen enthalten. So wird es niemals langweilig und der Fließtext wird in gut verdauliche Häppchen unterteilt. Am Ende gibt es noch ein Verzeichnis mit weiterführender Literatur – Interessierte bekommen hier also Buchtipps, wenn sie sich näher mit dem Thema beschäftigen möchten. Nicht optimal fand ich, dass die Checklisten oft den Fließtext unterbrochen haben und ich dadurch oft aus dem Lesefluss gerissen wurde. Die interessanten Einschübe hätte man am Ende oder Anfang eines Unterkapitels platzieren sollen.

Schreibstil (+/-)

„Hinter dem Mythos Girl Hate steckt ein gesellschaftliches Problem: Er trägt dazu bei, dass Mädchen sich selbst und andere Mädchen klein halten und sich untereinander bekämpfen. Und er verhindert, dass sie ihre Energie in andere Dinge stecken. Die Eroberung der Welt, zum Beispiel.“ Seite 28

Der Schreibstil hat mir gut gefallen. Er ist einfach, macht Mädchen Mut und nimmt ihre Sorgen ernst. In einem freundschaftlichen Ton und nie von oben herab behandelt die Autorin wichtige Themen. Immer wieder spricht sie hierbei ihre Leser_innen direkt an, was mir auch sehr gut gefallen hat. Hin und wieder wird der Ton leider doch zu belehrend – es besteht die Gefahr, dass Jugendliche dadurch abgeschreckt werden bzw. das Buch weglegen, um dagegen zu rebellieren. Teilweise hätte ich mir auch gewünscht, dass die Autorin schneller auf den Punkt kommt und bei manchen Aspekten mehr in die Tiefe geht (die Ratschläge bleiben manchmal doch sehr oberflächlich und allgemein).

Inhalt (+)

„Bilder sind vor allem dann gefährlich, wenn sie auf bereits ausgeprägte Schwächen treffen – und diese Schwächen sind bei Mädchen und Frauen reichlich vorhanden, schließlich wird ihnen ständig eingeredet, sie seien unzulänglich. Sie lernen geradezu, ihren Körper auf Makel und Fehler hin zu untersuchen: Wir schauen unseren Körper an, um zu sehen, was damit nicht stimmt.“ Seite 44

Eine Sache vorweg: Ich habe mir vor dem Schreiben dieser Rezension andere Bewertungen durchgelesen und war teilweise schockiert, was darin stand. Man bräuchte so ein Buch doch nicht, wir hätten ja schon vollständige Gleichberechtigung erreicht – und überhaupt, in einem Buch für Jugendliche Feminismus anzusprechen – das geht gar nicht! Das kann ich absolut nicht verstehen! Gerade im Jugendalter werden Rollenvorstellungen verinnerlicht und die eigene Persönlichkeit und das eigene Wertesystem werden ausgebildet. Wenn man Menschen in diesem Alter nicht für das Thema sensibilisieren soll – wann denn dann? Ich sehe das daher vollkommen anders: Die Jugendlichen von heute sind die Gesellschaft von morgen, darum müssen wir bei ihnen ansetzen, wenn wir die Zukunft verändern wollen. Zudem hat bis zum heutigen Tag noch kein einziges Land der Welt vollkommene Gleichstellung erreicht – das ist Fakt! Wer sich eingehend mit diesem Thema beschäftigt, dem wird das auch schnell klar.

In fünf Kapiteln enttarnt Julia Korbik Sexismus und widerlegt verbreitete Mythen (wie die Behauptung, dass der unheimliche Fremde die größte Gefahr für uns Frauen darstellt), schafft Bewusstsein für schädliche gesellschaftliche Erwartungen, denen wir uns oft unbewusst beugen, erklärt die wichtigsten feministischen Begriffe und schreibt mutig und sehr informativ gegen Intoleranz, Misogynie und Gewalt gegen Frauen an. Auch wenn die konkreten Tipps der Autorin nicht immer als innovativ und bahnbrechend eingestuft werden können und auch wenn sie bei ihrem nächsten Werk vielleicht noch mehr darauf achten sollte, dass es wirklich durchgehend Spaß macht, dieses zu lesen (hier könnte noch ein wenig mehr auf die Zielgruppe eingegangen werden), so wurde hier doch ein sehr wichtiges Buch geschaffen, das Individualität, Selbstbestimmung und (weibliche) Freiheit feiert.

„Ein Unbekannter stürzt hervor, eventuell hat er sogar eine Waffe. Er überfällt die Frau, vergewaltigt sie und lässt sie danach hilflos im Gras liegen. Die Wahrheit ist aber: Eine Vergewaltigung kann jederzeit passieren und von Menschen verübt werden, die du kennst, mit denen du bekannt, befreundet, verwandt oder in einer Beziehung bist. Gewalt gegen Mädchen und Frauen, ob sexualisiert oder nicht, wird zu einem hohen Prozentsatz von Männern aus dem Bekannten- und Familienkreis begangen.“ Seite 111

Obwohl dieses Buch gut gelungen ist, ist es nicht perfekt: Der Spaß bleibt bei manchen trockeneren Kapiteln (wie zum Beispiel jenen über Geschichte) meiner Meinung nach hin und wieder etwas auf der Strecke und das Werk ähnelt zu stark einem Lehrbuch, dennoch thematisiert Julia Korbik viele Themen, die die Altersgruppe bewegen. Es geht um unerreichbare Schönheitsideale, die Wichtigkeit des Genderns (Sprache schafft Bewusstsein!), um Offenheit und Toleranz gegenüber Minderheiten, um die Schädlichkeit von Geschlechterstereotypen (starre Geschlechterbilder sind übrigens ein Risikofaktor für Gewalt gegen Frauen), beeindruckende Persönlichkeiten, die nicht dem traditionellen Rollenbild entsprechen und die die Welt mit ihren Leistungen verändert haben, um das Umgehen mit starken Gefühlen wie Wut, um die negativen Konsequenzen von starren Männlichkeitsvorstellungen (höhere Selbstmordrate!) und um Body shaming. Auch sexistische Werbung und frauenfeindliche Konzepte wie „Stutenbissigkeit“, Victim blaming und Slut shaming werden thematisiert und kritisiert. Selbstbestimmung und Einverständnis sind ebenfalls wichtige Themen. Dabei werden immer wieder seriöse Quellen zitiert, die das Gesagte untermauern.

Wer übrigens behauptet, dass die Grenzen zwischen einvernehmlicher Intimität und Zwang gerne mal verschwimmen und dass das alles sehr verwirrend sei, dem empfehle ich, bei Youtube „Tea Consent“ oder (auf Deutsch) „Beiderseitiges Einverständnis – Tee“ einzugeben und das Video auf sich wirken zu lassen. Das sollte alle Unklarheiten beseitigen. „How to be a girl“ ist ein wichtiges Buch, das Mädchen ermutigt, ganz sie selbst zu sein, Bewusstsein für einengende, schädliche gesellschaftliche Erwartungen schafft und sie ermuntert, sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren. Solange sich Menschen über Bücher wie dieses aufregen und behaupten, dass wir sie ja gar nicht nötig hätten und dass „feministische Ideologie“ nichts in einem Jugendbuch zu suchen hätte, solange können wir uns sicher sein, dass wir diese Literatur bitter nötig haben.

„Oft wird so getan, als könnte der männliche Teil der Bevölkerung gar nicht wissen, was angemessenes Verhalten gegenüber Mädchen und Frauen ist, weil das Empfinden von Belästigung rein subjektiv sei. […] Aber: Untersuchungen zeigen, dass es sehr wohl so etwas wie einen gesellschaftlichen Konsens darüber gibt, was angemessenes Verhalten ist. Menschen, die diesen Konsens ignorieren, tun das meistens bewusst.“ Seite 109

Gestaltung & Illustrationen (+/-)

Nicht ganz so gut finde ich, dass die Gestaltung doch etwas klischeehaft rosa / pink ist – aber wenn so das Zielpublikum erreicht werden kann – bitte! Prinzipiell gefällt mir das Design, die verschnörkelten Überschriften und comicartigen Illustrationen sind gelungen, lösen bei mir aber auch keine Begeisterungsstürme aus. Etwas mehr Bilder und mehr Abwechslung hätten dem Buch wahrscheinlich gut getan.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Da es sich hier um ein feministisches Buch handelt, das Mädchen ermutigt, sie selbst zu sein und sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, gibt es in dieser Kategorie natürlich ein Herz!

Mein Fazit

„How to be a girl“ ist ein wichtiges Buch, das bei den Jugendlichen von heute (der Gesellschaft von morgen!) ansetzt und diese für Sexismus, veraltete gesellschaftliche Erwartungen und schädliche Geschlechterstereotypen sensibilisiert. Julia Korbik schreibt mutig und informativ gegen Misogynie, Slut shaming und Gewalt gegen Frauen an, widerlegt verbreitete Mythen, ermuntert Mädchen, sie selbst zu sein und sich gegen Ungerechtigkeiten zu wehren, und kämpft mit ihrem Buch für mehr Toleranz, Selbstbestimmung, Freiheit und eine glücklichere, gleichberechtigte Zukunft. Lediglich auf die Zielgruppe hätte die Autorin etwas mehr eingehen (teilweise wirken die Ausführungen zu trocken oder belehrend) und bei ihren Ratschlägen in manchen Kapiteln mehr in die Tiefe gehen können. Ansonsten handelt es sich hier aber um ein rundum gelungenes Buch, das ich euch und euren Töchtern, Nichten, Cousinen und Schwestern nur ans Herz legen kann.

Empfehlung: Besonders als Geschenk für Mädchen sehr zu empfehlen!

Bewertung

Idee: 5 Sterne ♥
Inhalt: 5 Sterne ♥
Struktur: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Illustrationen: 3 Sterne
Tiefe: 3,5 Sterne
Rollenbilder: ♥

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch erhält von mir vier zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 21.02.2019

Viele gute Ansätze, viel verschenktes Potential

Vox
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Spoilerfreie Rezension!


Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: S. FISCHER
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: aus weiblicher Sicht ...

Spoilerfreie Rezension!


Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: S. FISCHER
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: aus weiblicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: angenehm kurz
Tiere im Buch: -! Obwohl die Protagonistin wenigstens von ein wenig schlechtem Gewissen gequält wird und obwohl ihr die Tiere leidtun, ändert das nichts an der Tatsache, dass in diesem Buch unzählige Tiere in Tierversuchen leiden und sterben müssen. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, oft grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, der schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für eine tierversuchsfreie Forschung kämpft.

Warum dieses Buch?

Ich liebe Dystopien, ich liebe feministische Literatur, und ich fand Margaret Atwoods Roman „Der Report der Magd“ (im Original „The Handmaid’s Tale“) sehr gut. Aus all diesen Gründen führte für mich an diesem Werk, das mich mit seinem interessanten Klappentext sofort um den Finger gewickelt hat, kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg fiel mir sehr leicht. Der einfache Schreibstil und die kurzen Kapitel machten den Beginn sehr angenehm. Ich habe schnell in die Geschichte gefunden.

„Ich habe VOX als Warnung geschrieben, als Warnruf gegen eine Politik der Geschlechtertrennung, aber auch um zu zeigen, wie sehr unsere Persönlichkeit und Menschlichkeit von unserer Sprache abhängt.“ E-Book, Vorwort der Autorin, Position 49

Schreibstil (-)

Christina Dalcher schreibt flüssig und einfach, was mir auf den ersten Seiten sehr gefallen hat. Nach einer Weile bemerkt man aber, dass die Sprache zwar angenehm lesbar ist, leider aber auch sehr oberflächlich und etwas lieblos wirkt. Ich hätte mir hier mehr Komplexität, mehr Abwechslung und einen höheren ästhetischen Wert des Buches gewünscht, vor allem, da es sich hier ja nicht um einen Jugendroman handelt (was man leicht vergessen könnte, wenn uns die teilweise irritierend direkten Ausführungen der Protagonistin über ihr Liebesleben nicht immer wieder daran erinnern würden). Auch der Wortschatz scheint sehr begrenzt, wodurch es zu Wiederholungen und immer wieder auch zu gleichen Formulierungen kommt. Ob das an der Übersetzung liegt, kann ich leider nicht beurteilen. Auch die Vergleiche fand ich leider häufig lahm oder sogar schlecht. Sprachlich konnte mich Christina Dalcher also leider nicht wirklich abholen, obwohl es ihr durchaus gelingt, punktuell Spannung zu erzeugen und die Emotionen ihrer Figuren glaubwürdig und intensiv zu beschreiben.

„‘Die Frau hat keinen Anlass, zur Wahl zu gehen, aber sie hat ihren eigenen Bereich, einen mit erstaunlicher Verantwortung und Wichtigkeit. Sie ist die gottgewollte Bewahrerin des Heims … Sie sollte voll und ganz erkennen, dass ihre Stellung als Ehefrau, Mutter und Engel des Heims die heiligste, verantwortungsvollste und königlichste ist, die Sterblichen zuteilwerden kann; und sie sollte alle Ambitionen nach Höherem abweisen, da es für Sterbliche nichts Höheres gibt.“ E-Book, Position 893

Inhalt, Themen & Botschaften (+/-)

„Und wir haben es nicht kommen sehen.“ E-Book, Position 365

Ja, ich gebe zu, die Erwartungen waren sehr hoch. Nicht nur weil ich Dystopien liebe, sondern auch, weil ich feministische Literatur, die uns vor Augen hält, wie schnell es gehen kann, dass wir als Frauen unsere hart erkämpften Rechte wieder verlieren, sehr wichtig finde. Über Christina Dalchers Debüt habe ich im Vorfeld viel Gutes, aber auch viel Negatives gehört, ihr Buch wurde auch mit Margaret Atwoods Werk „Der Report der Magd“ (engl. „The Handmaid’s Tale) verglichen – einem feministischen Klassiker, der schockierender nicht sein könnte. Dennoch habe ich mich bemüht, möglichst unvoreingenommen an die Lektüre heranzugehen.

Die Prämisse ist erschreckend: Statt der 16.000 Wörter, die ein Durchschnittsmensch pro Tag von sich gibt, dürfen Frauen in der Zukunft nur noch 100 Worte benutzen (das ist fast gar nichts!) – ein Wortzähler am Handgelenk überwacht dies streng. Wer das Limit überschreitet, wird mit immer heftiger werdenden Stromstößen bestraft. Frauen wird so nach und nach ihre Stimme genommen, Religion gewinnt wieder die Oberhand, die entstandene Diktatur hat die Todesstrafe wieder eingeführt und schickt ihre Gegner in Lager oder Gefängnisse. Diese Ausgangssituation erinnert tatsächlich stark an Margaret Atwoods Roman. Im Mittelpunkt der Geschichte stehen Frauenrechte, Unterdrückung, Rebellion, Liebe, Familie und eine Frau, die innerlich zerrissen ist zwischen Liebe zu und Hass auf die Männer in ihrem nächsten Umfeld.

Hier enden aber auch schon die Parallelen. Die Geschichte hat viel Potential – man hätte sie zu einer unvergesslichen, schockierenden und wachrüttelnden Dystopie verarbeiten können. Leider verschenkt die Autorin einen großen Teil dieses Potentials: Obwohl der Beginn des Romans gut gelingt, merkt man schnell, dass hier viel zu sehr an der Oberfläche gekratzt und viel zu wenig in die Tiefe gegangen wird. Zudem wirkt konstruiert, Erklärungen fehlen. Statt auf drastische Weise das weibliche Leben in dieser düsteren Zukunft zu schildern und diese Welt detailliert auszugestalten, driftet die Dystopie immer mehr in einen herkömmlichen Thriller ab. Auch die mittelprächtige Liebesgeschichte nimmt (zu viel) wertvollen Platz in der Geschichte ein.

Dennoch handelt es sich bei „Vox“ sicher nicht um ein rundum schlechtes Buch – wenn die Erwartungen hoch sind, enttäuscht aber auch ein unterdurchschnittliches, das den Hype nicht wert zu sein scheint. Der Roman hat aber durchaus auch seine guten Seiten: Einige Szenen sind sehr atmosphärisch und stark geschrieben, außerdem schafft das Buch mit Sicherheit Bewusstsein für aktuelle anti-feministische Strömungen und die Gefahren, die von ihnen ausgehen. Alleine schon für die Themenwahl und ihre Botschaft ist die Autorin also zu loben. Eines gelingt dem Buch auch ohne Zweifel: Man beginnt ganz unbewusst, die Wörter der Figuren (und teilweise sogar die eigenen im realen Leben) mitzuzählen, jedes davon scheint kostbar – wie schnell sie verbraucht sind, wird schmerzhaft bewusst. Aufzuzeigen, wie wichtig Sprache und Kommunikation in unserem täglichen Leben sind – auch das gelingt Christina Dalcher. Man merkt zudem, dass die Linguistin für das Thema brennt – nebenbei gibt es viele interessante Informationen zu linguistischem Grundwissen, die mit Sicherheit sehr interessant sind, wenn man nicht (wie ich) im Studium bereits damit zu tun hatte. Teilweise verkommen die Einschübe leider aber auch zu Info-Dumping.

Protagonistin und Figuren (+/-)

Prinzipiell mochte ich die Protagonistin von Anfang an gerne. Sie ist intelligent und lässt sich trotz der schwierigen Zeiten nichts gefallen. Ihre Gedankengänge und Emotionen waren meist glaubwürdig und für mich nachvollziehbar. Ihre Wut auf das System und auch auf die Männer in ihrer Familie, die sich mehr und mehr mit der Unterdrückung der Frauen und den traditionellen Geschlechterrollen anzufreunden scheinen, wurden greifbar und ich habe stark mit ihr mitgefühlt. Mir hat gefallen, dass diese gesellschaftlich nicht akzeptierten Gefühle unverblümt und ehrlich geschildert wurden.

Dann gab es aber auch wieder Momente, in denen ich die Protagonistin nicht verstehen konnte: Als zum Beispiel ein Mensch ums Leben kommt, macht sie nur Minuten später einen absolut geschmacklosen, makabren Witz darüber – aufgrund der Situation und ihren Lebenserfahrungen meiner Meinung nach absolut unglaubwürdig und übertrieben. Ein weiteres Beispiel: Jean betrügt ihren Mann – aber ihre Nachbarin, die dasselbe tut, bezeichnet sie herablassend als „Schla+++“. Da Slut shaming absolut schädliches Verhalten Frauen gegenüber ist, nur dafür gemacht, sie kleinzuhalten, finde ich das absolut unpassend – dafür und für Jeans sexistische Einteilung der Welt in „typisch Frau“ und „typisch Mann“ (wolltest du dagegen nicht eigentlich kämpfen, Jean?) gibt es auch ordentlich Punkteabzug!

Die anderen Figuren bleiben bis auf wenige Ausnahmen meiner Meinung nach seltsam farblos und blass, sie werden mir nicht in Erinnerung bleiben. Es gab (außer Jean) niemanden, mit dem ich wirklich mitgefiebert habe oder der mir ans Herz gewachsen ist – sehr schade! Die Figuren wirken konstruiert, nicht lebendig oder dreidimensional.

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Obwohl sich das Buch im Verlauf der Lektüre nicht ganz so entwickelt hat wie erhofft, so gelingt es der Autorin doch immer wieder, Spannung aufzubauen. Auch wenn diese zwischendurch immer wieder kurzzeitig einbricht, wollte ich doch immer wissen, wie es weitergeht. Es gibt zudem einige unerwartete Wendungen, die mich zwar nicht vollends begeistern, aber doch überraschen konnten. Vor allem im letzten Drittel wird die Spannung dann noch einmal ordentlich angehoben. Jedoch – hier stimme ich einigen Kritiker*innen zu - erscheinen sowohl das Hinarbeiten auf den Höhepunkt, als auch das Ende selbst sehr überhastet. Viel zu viel passiert auf einmal, viele Fragen bleiben offen. Es wirkt tatsächlich, als wäre die Autorin unter Zeitdruck geraten und hätte nicht mehr genug Zeit gehabt, die Geschichte zu einem runden, gut ausgestalteten Ende zu führen. Das ist schade, das Buch hätte es eigentlich verdient.

Feministischer Blickwinkel (+/-)

Jeans in ihrem Kopf verfestigte Geschlechterstereotypen und ihre unhinterfragte Misogynie (Nachbarin!) finde ich sehr ärgerlich. Die Protagonistin müsste es nämlich eigentlich besser wissen, wohin solche starren Geschlechterrollen führen können. Dennoch darf hier auch nicht vergessen werden, dass es sich hier prinzipiell um feministische Literatur handelt, die wachrütteln und vor gefährlichen anti-feministischen Strömungen in unserer heutigen Gesellschaft warnen soll. Das ist natürlich ein großer Pluspunkt!

Mein Fazit

„Vox“ ist eine feministische Dystopie, die leider viel Potential verschenkt. Der Schreibstil ist zwar flüssig, aber ästhetisch leider nicht überzeugend und bietet nur wenig Abwechslung. Die meisten Personen bleiben seltsam blass und austauschbar, was es mir unmöglich gemacht hat, mir ihnen mitzufühlen und mitzuleiden. Zur Protagonistin habe ich ein gespaltenes Verhältnis: Die von ihr verinnerlichten Geschlechterstereotypen werden leider nur selten hinterfragt, ihre Gefühle werden dafür aber meist sehr anschaulich und greifbar geschildert. Ihre gelungene, interessante negative Zukunftsvision gestaltet Christina Dalcher nicht ausreichend aus –hier geht die Autorin leider nicht genug in die Tiefe, sondern kratzt nur an der Oberfläche. Der Roman, der immer mehr zu einem Thriller mit mittelprächtiger Liebesgeschichte wird, hat zwar durchaus seine gelungenen, spannenden Momente, wird aber dann zu einem überhastet wirkenden Höhepunkt geführt, der viel zu viele Fragen offen lässt. „Vox“ ist somit ein Buch, das viele gute Ansätze, aber leider auch große Schwächen hat und das mich daher leider enttäuscht hat.

Leseempfehlung: Lieber gleich Margaret Atwoods "Der Report der Magd" / "Handmaid's Tale" lesen!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3,5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Einstieg: 4 Sterne
Schreibstil: 2,5 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 4 Sterne
Liebesgeschichte: 2 Sterne
Ende: 1,5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Geschlechterrollen: + / -

Insgesamt:

❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 2,5 Lilien!

Veröffentlicht am 03.02.2019

Aufwühlendes, beklemmendes Buch, das unheimlich wütend macht

Du wolltest es doch
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+ Achtung: Die Rezension enthält Spoiler! +


Inhalt

Eigentlich ist Emmas Leben ziemlich perfekt. Sie ist eines der beliebtesten Mädchen der Schule, wird um ihre Schönheit beneidet und hat viele Freunde. ...

+ Achtung: Die Rezension enthält Spoiler! +


Inhalt

Eigentlich ist Emmas Leben ziemlich perfekt. Sie ist eines der beliebtesten Mädchen der Schule, wird um ihre Schönheit beneidet und hat viele Freunde. Die meisten Mädchen wollen sein wie sie und die Jungen reißen sich um ihre Aufmerksamkeit. Emma genießt ihr Leben, nichts scheint ihr etwas anhaben zu können. Doch alles ändert sich, als sie auf einer Party Drogen nimmt und vom Trainer der Footballmannschaft vergewaltigt wird, der einfach nicht aufhört, als Emma ihn darum bittet. Doch der Abend wird noch viel schlimmer: Emma wird ohnmächtig und wird daraufhin von einer Gruppe Schulkollegen missbraucht. Die verabscheuungswürdige Tat wird gefilmt und fotografiert und landet auf Facebook. Schließlich ist es eine aufmerksame Lehrerin, die die Seite sieht und sich mit der Polizei in Verbindung setzt. Emma beschließt Anzeige zu erstatten. Eine Entscheidung, durch die sie in ein tiefes Loch fällt. Die ganze Stadt scheint sich gegen sie verschworen zu haben, stellt sich auf die Seite der Vergewaltiger und behauptet, Emma wäre eine Lügnerin. Ihr eher promiskuitives Liebesleben scheint der Beweis zu sein: Eigentlich wollte sie es doch…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Carlsen
Seitenzahl: 368
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens (selten auch Präteritum)
Perspektive: weiblicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: mittel bis lang
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet. Aber: Weil auch in diesem Roman eine Katze alleine gehalten wird, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Als ich dieses Buch entdeckt habe, war mir sofort klar, dass ich es unbedingt lesen musste. Als angehende Lehrerin, Frau und Feministin liegt mir dieses Thema und die gesellschaftlichen Strukturen, die damit in Verbindung stehen, am Herzen. Da es sich hier um ein Jugendbuch handelt, war ich natürlich sehr gespannt, wie die Autorin das Thema in ihrem Buch verarbeitet.

Meine Meinung

Hier gleich eine Warnung: Diese Rezension ist sehr, sehr lang geworden. Aber es gibt meiner Meinung nach zu diesem wichtigen Thema, das mir sehr am Herzen liegt, sehr viel zu sagen.

Einstieg (+/-)

Der Einstieg ist mir nicht ganz so einfach gelungen. Das lag an zwei Dingen: Zum einen passiert am Beginn lange Zeit nichts wirklich Spannendes (hier wird der Alltag der Hauptfigur geschildert), zum anderen fand ich Emma am Anfang sehr unsympathisch und wurde einfach nicht mit ihr warm. Dies hat sich aber im Laufe des Buches zum Glück geändert.

Schreibstil (+)

Feinfühlig und in einem einfachen, angenehm lesbaren Schreibstil, der für die Zielgruppe sehr gut geeignet ist, erzählt die Louise O’Neill Emmas Geschichte. Emmas bedrückende Gefühls- und Gedankenwelt wird intensiv und authentisch geschildert, immer wieder gibt es sehr bildhafte Beschreibungen und Einschübe und Fragen in Klammern, die oft jene Gedanken beinhalten, die die Heldin eigentlich nicht wahrhaben oder zulassen möchte.

„Dylan kniet auf dem Mädchen (‚auf mir, mir, aber das kann nicht ich sein, das bin nicht ich‘), legt die Hände auf das (auf mein … nein, ihr) Gesicht, als wollte er es verdecken. Sie hat kein Gesicht.
Sie ist nur ein Körper, eine lebensgroße Spielpuppe.
Sie ist ein Es. Ein Ding (‚ich, ich, ich, ich, ich‘).“ E-Book, Position 1605

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Louise O’Neill Beitrag zur aktuellen MeToo Debatte hat mehrere Preise erhalten und in Irland sogar Platz 1 der Bestsellerlisten erreicht. Das zeigt, dass die Bevölkerung sich mit diesem Thema auseinandersetzt und dafür zunehmend sensibilisiert wird. Die Geschichte ist in zwei Teile geteilt: Der erste davon beschäftigt sich mit Emmas Leben vor und kurz nach der Vergewaltigung, in der zweiten Hälfte springen wir ein Jahr in die Zukunft, wo wir als LeserInnen auf eine vollkommen veränderte Emma treffen. Louise O'Neill beschreibt die Welt nicht, wie sie sein sollte, sondern wie sie leider immer noch ist. Die Autorin versucht mit diesem Buch aufzurütteln, was ihr meiner Meinung nach ausgezeichnet gelingt.

Ich habe dieses Buch schon vor Wochen beendet, habe die Rezension aber vor mir hergeschoben, weil ich einfach nicht wusste, wie ich beginnen sollte, da mich dieses Buch so aufgewühlt hat. Womit ich nämlich nicht gerechnet habe, war die unbändige Wut, die in mir hochgekocht ist und eigentlich während der gesamten Lektüre in meinem Bauch gebrodelt hat. Was mich so wütend gemacht hat:

Der Umgang des Umfelds mit Emmas Trauma: Das beginnt schon einmal mit ihrem Bruder, der das Video online sieht und Emma erst einmal mitteilen muss, wie sehr er sich für sie schämt. Jeder Blinde hätte auf den ersten Blick erkannt, dass Emma bewusstlos war und missbraucht wurde! Auch die Eltern fand ich furchtbar. Der Vater ist enttäuscht, dass die Tochter offensichtlich vorher schon keine Jungfrau mehr war, und die Mutter, eine typische Hausfrau der alten Generation, die den einzigen Wert einer Frau in ihrem Aussehen und in ihren Hausfrauenqualitäten sieht, geht ebenfalls absolut falsch und unsensibel mit der Situation um. Sie kämpft nicht wie eine Löwin für ihre Tochter, sondern schämt sich und fragt sich ständig: „Was sollen denn die Leute denken?“

Am schlimmsten fand ich aber, dass sie „zur Feier des Tages“ Pfannkuchen für ihre Tochter macht, als diese sich entschließt, zu schweigen, die Anzeige zurückzuziehen und die Stadt nicht weiter gegen sich aufzubringen. Sie ist erleichtert, dass sie nun endlich alles totschweigen kann und so tun, als wäre es niemals geschehen. Die Eltern sind stolz auf ihre Tochter – darauf, dass sie sich selbst verrät.

Durch den Bruder (der sich weiterentwickelt), Connor und die engagierte Lehrerin, die vorbildlich handelt gibt es immerhin kleine Hoffnungsschimmer. Wäre Emmas Umfeld ein anderes, unterstützenderes, liebevolleres, das an ihrer Seite kämpft, dann wäre die Geschichte vermutlich anders ausgegangen und Emma würde ihr Trauma auch leichter verarbeiten können.

Auch viele andere strukturelle Probleme, die mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, werden von der Autorin tiefgründig und kritisch behandelt. Daher möchte ich dieses Buch gerade jenen Menschen ans Herz legen, die immer noch glauben, dass wir Feminismus und Debatten wie #MeToo eigentlich gar nicht mehr brauchen. Schaut euch die Frauenfiguren in Videospielen an (meine Hassfigur ist hier „Quiet“ aus Metal Gear Solid V), schaut euch Filme und Werbung an. Fakt ist, wir haben immer noch massive Probleme mit Gleichberechtigung, Sexismus und Rollenstereotypen. Am schlimmsten finde ich jedoch, dass Victim blaming (dt. das Opfer beschuldigen) und Rape culture (dt. Vergewaltigungskultur) immer noch so stark in der Gesellschaft verankert sind. Wenn jemand vergewaltigt wird, wird oft nicht in erster Linie versucht, das Opfer zu unterstützen und den Täter zur Verantwortung zu ziehen. Viel öfter werden zuerst einmal Fragen gestellt: Hatte das Opfer nicht einen kurzen Rock an? Hatte es nicht diesen großen Ausschnitt? Hat sie Alkohol getrunken, den Kerl hereingebeten oder sich von ihm einladen lassen? Und dann kommt die verquere, traurige Schlussfolgerung: Ganz klar, sie war selbst schuld! Das muss endlich aufhören! Niemand ist selbst schuld, wenn ihm Gewalt widerfährt!

Frustrierend finde ich auch die Zeitungsartikel, die die Wirklichkeit verzerren und uns Frauen das Bild vermitteln, dass die größte Gefahr vom unbekannten Fremden ausgeht, der uns nachts in einer dunklen Gasse auflauert. Die Wahrheit sieht leider anders aus: Die größte Teil der Vergewaltigungen passiert im Familien-, Verwandten- und Freundeskreis – falls euch also jemals jemand so etwas Schlimmes antun sollte, wird es mit größter Wahrscheinlichkeit jemand sein, den ihr kennt und dem ihr vertraut. Nur wenige Taten werden angezeigt, weil es so selten zur Verurteilung kommt (laut Buch in Irland 1%). Viel zu oft steht Aussage gegen Aussage. Übrigens machen „erfundene“ Vergewaltigungen nur einen ganz kleinen Prozentsatz aus (die Dunkelziffer jener Fälle, die aus falschen Schuldgefühlen nicht angezeigt werden, ist hierbei weit höher), also bitte denkt daran, wenn ihr das nächste Mal einen Zeitungsartikel kommentiert, und dem Opfer vorwerft, dass es ja nur Aufmerksamkeit will.

Sehr anschaulich beschrieben hat die Autorin auch die unerklärlichen Schuldgefühle, die Opfer häufig haben. Emma fühlt sich schuldig, sie hat das Gefühl, sie hat das Leben ihrer Familie, der Täter, ihrer Freunde, der ganzen Stadt zerstört. Man möchte beim Lesen Emma umarmen und viele der sich furchtbar dumm verhaltenden anderen Figuren anschreien. Zwei große Probleme, die eng mit sexualisierter Gewalt zusammenhängen, sind zum einen schädliche Rollenstereotypen (diese halten die Ungleichheit aufrecht) und Sexismus und zum anderen das intensive Slut shaming, das immer noch betrieben wird, oft auch von Frauen. Ein Mann, der ein aufregendes Liebesleben hat, ist ein Held, eine Frau hingegen eine Schla+++. Diese Doppelmoral und diese Versuche, Frauen kleinzuhalten und zu kontrollieren, müssen endlich aufhören. Wir haben das Jahr 2019 und es gibt keine Schla+++, Hu+++ und Bit+++ - nur Frauen, die ihr Liebesleben so gestalten, wie es ihnen gefällt. Und das ist ihr gutes Recht – Männer machen das schließlich schon immer! Darum: Wenn jemand in eurem Umfeld Slut shaming betreibt, sprecht es an, auch wenn es nicht immer leicht ist. Denn: Bewusstsein dafür zu schaffen, wie schädlich unser misogynes Verhalten ist, ist der erste Schritt in Richtung Veränderung. Und mein persönlicher Tipp: Menschen, die den „Wert“ einer Frau heutzutage immer noch an der Zahl ihrer Sexualpartner bemessen, einfach konsequent aus dem Freundeskreis aussortieren.

Auch dieses Konzept des Vaters, der die „Verehrer mit dem Knüppel“ abwehren muss oder der seiner Tochter sagt, dass sie erst mit 30 einen Freund haben dürfe, ist nicht mehr zeitgemäß. Warum darf der Sohn seine eigenen Erfahrungen machen, das Mädchen aber muss von Jungen ferngehalten werden? Kleiner Tipp an dieser Stelle: Aufklärung ist das Zauberwort, sie führt im Gegensatz zu zahlreichen Verboten wirklich zu weniger Teenagerschwangerschaften. Und meine Botschaft an junge Mädchen: Lasst euch nicht zu etwas drängen, was jemand anders will, sondern tut Dinge nur, wenn IHR sie wollt.

Louise O’Neill entscheidet sich in ihrem Buch für ein ungewöhnliches, ernüchterndes, frustrierendes, schmerzhaftes Ende, das aber leider glaubwürdig ist. Dieses Ende und der schädliche Umgang praktisch aller Menschen in Emmas Umfeld mit ihrem Trauma führen jedoch dazu, dass ich mir nicht sicher bin, ob dieses Buch für Jugendliche geeignet ist. Das Opfer leidet, die Bösen kommen mit ihren Taten davon und es gibt keine positiven Vorbilder und Strategien, die sich betroffene Mädchen abschauen können. Viel eher denke ich, dass sich beim Lesen ein Gefühl der Hilflosigkeit einstellen wird, das Gefühl, nichts gegen so eine Tat tun zu können. Daher: Für Erwachsene ist dieses aufrüttelnde, eindringliche Buch sicher perfekt geeignet, für Schüler*innen / Jugendliche nur, wenn das Buch im Unterricht behandelt und intensiv nachbearbeitet wird.

Protagonistin und Figuren (+/-)

Die Autorin hat hier etwas sehr Mutiges gewagt: Sie wählt eine Hauptfigur, die am Beginn sehr oberflächlich, arrogant und egoistisch ist, zu der man keine Sympathien aufbauen kann. Doch gerade anhand dieser schwierigen Heldin wollte Louise O’Neill zeigen, dass niemand, auch Emma, eine Vergewaltigung verdient hat und wie eine solche Tat das Leben auch einer selbstbewussten, beliebten jungen Frau zerstören kann. Die Emma, die wir im zweiten, noch viel bedrückenderen Teil der Geschichte kennenlernen, ist eine veränderte, zerstörte Emma, die unter Depressionen leidet, das Haus nicht mehr verlässt und mehrmals versucht, sich das Leben zu nehmen. Die Beiläufigkeit und Nüchternheit, mit der Emma ihre Selbstmordgedanken erwähnt, schockiert. Dieses Thema behandelt die Autorin sehr glaubwürdig, aber auch deswegen könnte das Buch für Jugendliche sehr schwer zu verdauen sein.

Die anderen Figuren sind gut ausgearbeitet, auch wenn bei manchen (z. B. beim Vater) noch Luft nach oben ist und auch wenn manche nur eine kleine Rolle in der Geschichte erhalten. Macht euch beim Lesen jedoch dafür bereit, auf ein außergewöhnlich unsympathisches Figurenensemble zu treffen, das eure Geduld auf eine harte Probe stellen wird.

„(Gleichzeitig wünschte ich mir, ich könnte davontreiben. Ich wünschte, ich könnte mich in so viele kleine Stücke zerschneiden, dass nichts mehr von mir übrig bleibt.)“ E-Book, Position 3127

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Nicht ganz so gut gefallen hat mir, dass die Autorin zum einen wichtige Schlüsselszenen / lange Zeitabschnitte übersprungen hat (das Verhör der Polizei etc.), während der ich Emma gerne begleitet hätte. Das hätte auch die Bindung zu ihr noch verstärkt. Zum anderen fand ich das Buch teilweise, in jenen Abschnitten, in denen nichts Nennenswertes passiert (z. B. am Anfang) oder in denen sich die Handlung im Kreis dreht, etwas langatmig. Wenn man an solchen Stellen gekürzt hätte, wäre das Buch noch knackiger, intensiver und besser geworden. Trotzdem wollte ich immer unbedingt wissen, wie es weitergeht, eine Grundspannung war also vorhanden. Louise O’Neill gelingt es, eine sehr beklemmende Atmosphäre zu kreieren, die für viel Wut, Mitgefühl und Frust sorgt.

Feministischer Blickwinkel (♥)

Viele weibliche und männliche Figuren sind im Buch sehr stereotyp (was Geschlechterrollen betrifft) dargestellt. Da die Autorin dies jedoch macht, um damit aktuelle gesellschaftliche Probleme zu kritisieren und dafür Bewusstsein zu schaffen, ist das natürlich positiv. Überhaupt hat die Autorin für ihren Mut, ihr ehrliches, kritisches Nachwort und die gelungene Verarbeitung der schwierigen (und doch so wichtigen) Themen nur eines verdient: ganz viel Lob und Anerkennung!

Mein Fazit

„Du wolltest es doch“ ist ein aufwühlender, beklemmender Jugendroman, der vielen Menschen die Augen öffnen wird und der sehr wütend macht. In einem angenehmen, einfachen und doch sehr intensiven Schreibstil erzählt die Autorin Emmas Geschichte und thematisiert dabei authentisch, feinfühlig und tiefgründig Themen wie Vergewaltigung, Sexismus, Slut shaming, Victim Blaming und Genderstereotypen. Für ihren Mut, eine zu Beginn eher unsympathische Figur zur Protagonistin ihres Buches zu machen und für ihre gelungene Kritik schädlicher gesellschaftlicher Strukturen, die Frauen immer noch benachteiligen, hat die Autorin vor allem eines verdient: viel Lob und Anerkennung. Aufgrund der beklemmenden Atmosphäre, des schädlichen Verhaltens fast aller im Buch vorkommenden Figuren und aufgrund des zwar realistischen, aber sehr frustrierenden, ernüchternden Endes, das zu Gefühlen der Hilflosigkeit führen kann, würde ich das Buch Jugendlichen allerdings nur empfehlen, wenn es im Anschluss in der Schule / zu Hause intensiv nachbesprochen wird.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 3 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3,5 Sterne
Ende: 5 Sterne ♥
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses gelungene Buch bekommt von mir 4 Lilien!