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Meinungen aus der Lesejury

Veröffentlicht am 23.12.2018

Kleiner, unerwartet intensiver Roman voller moralischer Konflikte, der auf ganzer Linie überzeugt

Die Polizisten
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Eines heißen Sommertages meldet sich Virginie freiwillig für einen Sondereinsatz, da sie froh ist, wenn sie von ihren privaten Problemen abgelenkt wird. Die Polizistin ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Eines heißen Sommertages meldet sich Virginie freiwillig für einen Sondereinsatz, da sie froh ist, wenn sie von ihren privaten Problemen abgelenkt wird. Die Polizistin und ihre zwei Kollegen, Érik und Aristide, machen sich auf den Weg, um einen Flüchtling, dessen Asylantrag negativ beurteilt wurde, zum Flughafen zu bringen, wo er dann in seine Heimat zurückgebracht werden soll. In einem Anflug von Neugier und Rebellion öffnet Virginie auf der Fahrt das Kuvert mit den Informationen über den Mann – schnell wird klar, dass bei der Beurteilung nicht alles mit rechten Dingen zugegangen sein kann und dass eine Rückkehr nach Tadschikistan den sicheren Tod für den Flüchtling bedeuten würde. Die Autofahrt wird immer mehr zu einem Gewissenskonflikt, der die drei Beamten auf eine harte moralische Probe stellt...

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Ullstein Buchverlage
Seitenzahl: 192
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präsens
Perspektive: wechselnde Perspektiven, aus weiblicher und männlicher Sicht geschrieben
Kapitellänge: kurz
Tiere im Buch: + Es werden keine Tiere verletzt oder getötet.

Warum dieses Buch?

Cover und Klappentext haben mich sofort neugierig gemacht, ebenso das hochaktuelle Thema. Dieser Satz auf der Buchrückseite hat mich dann endgültig überzeugt: „Ein packend erzählter Roman, der einem ungelösten gesellschaftlichen Konflikt ein menschliches Gesicht gibt.“

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg war sehr angenehm und ist mir problemlos gelungen. Sofort fühlte ich mit der Hauptfigur, Virginie, mit und wollte wissen, wie es ihr weiterhin ergeht.

„Für einen gerade annehmbaren Lohn hat sie in den Rotlichtvierteln ihre Seelenruhe eingebüßt, nichts erstaunt sie mehr, sie weiß alles über die trostlostesten Seiten des Daseins, und immer fragt sie sich, wieso ihre Augen nicht schmutzig werden, fassungslos, dass sich nicht der kleinste Widerschein von all diesem Elend in ihnen findet.“ E-Book, Position 91

Schreibstil (♥)

Hugo Boris konnte mich mit seinem Schreibstil schon auf den ersten Seiten begeistern. Der Autor beschreibt viele traurige, ungerechte Dinge sehr nüchtern und unvoreingenommen, trotzdem hat mich das Buch emotional berührt und mitgerissen. Vielleicht wirken manche Vorfälle gerade aufgrund der sachlichen Erzählweise so schockierend und machen so wütend. Die Sprache ist durchaus anspruchsvoll: Lange Sätze, viele Hypotaxen und wunderbar treffende Vergleiche und Beobachtungen kennzeichnen den Schreibstil, auch Spuren von Humor lassen sich gelegentlich finden. Trotzdem lässt sich das Buch sehr angenehm und flüssig lesen – anschauliche Beschreibungen und die nuancierte Schilderung des Innenlebens der Figuren machten für mich die Lektüre zum Genuss.

„Sie wirkt nicht abgespannt, hat keine dicken Tränensäcke, ihr Gesicht ist spitz wie eh und je, da ist nur das ganz leichte Schielen, es wird stärker, wenn sie müde ist, weswegen man sie nicht hübsch, sondern apart findet, dieser widerspenstige Blick macht ihren Charme aus.“ E-Book, Position 77

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Mit seinen nicht ganz 200 Seiten ist „Die Polizisten“ ein relativ kurzer Roman. Von der Länge sollte man sich jedoch nicht täuschen lassen, da das Buch unerwartet intensiv ist. Die Autofahrt nach Roissy, während der jeder der Beamten mit seinen eigenen Dämonen, Wünschen, Prinzipien und Moralvorstellungen kämpft, inszeniert der Autor als eindringliches, tiefgründiges Kammerspiel, das meiner Meinung nach unglaublich gut gelungen ist. Die Beschränkung auf wenige Figuren und die Enge im Wagen schaffen eine einmalige Atmosphäre und eine subtile Anspannung, die dazu führt, dass man ständig regelrecht mitfiebert, was als nächstes passieren wird. Jedes Wort der Charaktere, jeden Blick und jede Geste habe ich analysiert und gebangt, ob es ein Happy End geben wird – und wenn ja, für wen. Da jede Entscheidung lebensverändernde Konsequenzen mit sich ziehen würde und es folglich keine „einfache“ Lösung gibt, hadert man auch als Leserin mit dem Gewissen, weil man gleichzeitig die Beamten in Herz schließt und den Flüchtling in Sicherheit wissen will.

Für diesen Roman hat Hugo Boris monatelang Polizisten bei der Arbeit begleitet, und diese Erfahrung verleiht der Geschichte viel Authentizität. Unaufgeregt wird von den großen und kleinen Dramen erzählt, die den Alltag als Polizistin oder Polizist prägen. Wie belastend dieser Beruf, für den die Beamten oftmals nur wenig Anerkennung erhalten, sein kann, wird dann deutlich, wenn die Polizisten im Buch sich an ihre schlimmsten Fälle erinnern. Viele der Anekdoten entstammen dem wahren Leben. Nachdenklich macht auch die Tatsache, dass die Polizei in Frankreich der Berufsstand mit der höchsten Selbstmordrate ist.

Der Autor hat wenige, aber wichtige und hochaktuelle Themen wie Abschiebung, Abtreibung, Verantwortung und moralisch richtiges Verhalten ausgewählt und behandelt diese trotz der Kürze des Buches mit der nötigen Tiefe und Sensibilität. Die Beamten müssen schwierige Entscheidungen treffen und lernen ebenso wie die LeserInnen, dass beim Prüfen der Asylanträge gravierende Fehler passieren können, dass sich Menschen nicht so viel Mühe geben, wie sie es sollten, und dass dieses Thema wesentlich komplexer ist, als es häufig scheint. Auch wenn ich persönlich die Handlungsweisen der Figuren nicht immer hundertprozentig nachvollziehen konnte (ich selbst hätte in manchen Situationen nachdrücklicher nachgeholfen) und auch wenn mir das Ende nicht alle Wünsche erfüllt hat, so habe ich Érik, Aristide und Virginie sehr gerne auf ihrer Reise begleitet. Übrigens sei euch das Online-Interview von „Jetzt“ mit dem Autor wärmstens ans Herz gelegt: Hier zeichnet der Autor ein Bild der aktuellen Lage der Polizei in Frankreich und spricht auch darüber, warum er das Buch geschrieben hat. Übrigens ist ein Kinofilm bereits in Vorbereitung – ich freue mich darauf!

„Man hat die Drecksarbeit unterbezahlten Angestellten irgendwelcher Behörden überlassen, die damit klarklommen müssen. Die Verantwortung verteilt sich auf die Polizeipräfektur, die Wärter, das Begleitpersonal, die Grenzpolizei, die Piloten, die Hostessen und Stewards, damit jeder bequem denken kann: Ich war’s nicht, die anderen haben’s getan.“ E-Book, Position 954

Figuren (♥)

Die Hauptfiguren (Nebenfiguren spielen im Roman nur eine sehr untergeordnete Rolle) werden oft direkt charakterisiert und konnten mich durchgehend überzeugen, vor allem Virginie und Aristide fand ich wunderbar komplex und liebevoll gezeichnet. Ihre Gewissenskonflikte, Probleme, Ängste und Zweifel werden sehr intensiv und glaubwürdig dargestellt. Ich mochte beide auf Anhieb und habe sie mit jeder Seite mehr ins Herz geschlossen. Besonders gefallen hat mir auch, dass sich der Autor entschieden hat, eine starke, mutige Frau zur Heldin seines Buches zu machen. Das Erzählen aus ihrer Perspektive gelingt ihm sehr gut.

„Sie sah ihn an, wie man in einen Abgrund blickt, der einen unwiderstehlich anzieht.“ E-Book, Position 301

Spannung & Atmosphäre (♥)

Irgendwie habe ich damit gerechnet, dass das Buch belehren würde und dass es dabei vielleicht ein bisschen langatmig sein würde. Womit ich nicht gerechnet habe, war die durchgehende (An)Spannung, die sich durch die komplette Geschichte zieht. Ich habe mit den Figuren mitgefiebert, gebangt und gehofft, habe beim Lesen viel nachgedacht und ständig selbst mit meinem Gewissen gekämpft. Die Atmosphäre im Buch ist dicht und intensiv, ich möchte diese Lektüreerfahrung daher keinesfalls missen.

„Morgens beim Anziehen wählt er sein Unterhose mit dem Gedanken aus, dass er, sollte er heute dran glauben müssen, im Leichenschauhaus, auf dem Obduktionstisch eine gute Figur machen möchte. Es ist nur ein kurzes Aufflackern, aber er denkt daran. Er entscheidet sich für die Unterhose, in der er sich vor dem Gerichtsmediziner nicht zu schämen braucht.“ E-Book, Position 981

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (+)

Es gibt zwar zwei Szenen, in denen sich frauenfeindliche Sprache finden lässt (man merkt wieder einmal, dass manchen Männern in Ausnahmesituationen schnell Worte wie „kleine Schla+++“ herausrutschen, wenn Frauen nicht das tun, was sie wollen), jedoch fällt mein Urteil hier sehr milde aus. Es gibt es starke, mutige weibliche Heldin, immer wieder werden Rollenstereotype gebrochen. Ich bin insgesamt zufrieden.

Mein Fazit

Mit seinem Roman „Die Polizisten“ hat Hugo Boris ein unerwartet eindringliches, intensives Kammerspiel geschaffen, das mich absolut überzeugen konnte. Der Schreibstil ist anspruchsvoll und nüchtern, gleichzeitig aber auch sehr angenehm und anschaulich, die Geschichte nimmt einen emotional mit und lässt einen nicht kalt. Es war ein Genuss für mich, diese komplexen, liebevoll gezeichneten Figuren auf ihrer Reise voller Gewissenskonflikte zu begleiten und mit ihnen mitzufiebern, dabei über ihre Entscheidungen nachzudenken und mit meinen eigenen moralischen Prinzipien zu hadern. Der Autor beschreibt das Innenleben und die Gefühle der Charaktere nuanciert und eindrücklich und behandelt hochaktuelle Themen wie Abschiebung, Abtreibung und generell moralisch schwierige Entscheidungen mit angemessener Tiefe. Wer sich nicht nur berieseln lassen möchte, sondern bereit ist, sich auf eine Reise voller (An)Spannung und moralischer Konflikte einzulassen, dem sei dieser kleine, aber unerwartet feine Roman wärmstens ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne ♥
Ausführung: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Protagonisten: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne
Atmosphäre: 5 Sterne ♥
Spannung: 5 Sterne ♥
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 5 Sterne ♥
Geschlechterrollen: +
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 5 Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!

Veröffentlicht am 09.12.2018

Lesenswerter Klassiker, der auch heute seine Wirkung nicht verfehlt

Rubinroter Dschungel
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Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Molly Bolt wächst in den 50er-Jahren in den Südstaaten auf. Sie ist ein Adoptivkind, die Beziehung zur konservativen Mutter, die eine perfekte Hausfrau aus Molly machen ...

Spoilerfreie Rezension!


Inhalt

Molly Bolt wächst in den 50er-Jahren in den Südstaaten auf. Sie ist ein Adoptivkind, die Beziehung zur konservativen Mutter, die eine perfekte Hausfrau aus Molly machen möchte, ist schwierig, und auch sonst scheint das selbstbewusste, intelligente und willensstarke Mädchen nicht in ihr Umfeld zu passen. Gesellschaftliche Erwartungen sind Molly schon im Kindesalter egal, ohne Scham und sehr neugierig experimentiert sie mit ihrer Sexualität und findet früh heraus, dass sie lesbisch ist. Molly will Regisseurin werden und hat große Pläne, und als sie endlich ein Stipendium für eine Filmhochschule in New York erhält, scheinen sie endlich in greifbare Nähe zu rücken…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Ullstein Taschenbuch Verlag
Seitenzahl: 304
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präteritum
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Molly Bolt)
Kapitellänge: mittel
Tiere im Buch: + Eine der Figuren arbeitet zwar im Metzgerladen und es wird einmal Lammeintopf verzehrt, jedoch werden in der Geschichte selbst keine Tiere verletzt oder getötet. Weil auch in diesem Roman eine Katze alleine gehalten wird, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Das Cover des Romans fand ich zunächst eher nichtssagend, als ich dann jedoch herausfand, dass es sich bei „Rubinroter Dschungel“ um die Neuveröffentlichung eines Klassikers der feministischen Literatur handelt, der erstmals 1973 erschienen ist, war meine Neugier geweckt. Als Feministin bin ich an dieser Art von Literatur natürlich immer interessiert, besonders spannend fand ich es natürlich, herauszufinden, wie feministische Literatur in den 70er-Jahren geschrieben wurde und wie aktuell sie heute noch ist!

Meine Meinung

Einstieg (+)

Der Einstieg gelang mir ohne Probleme, Mollys charmant direkte, selbstbewusste Erzählstimme hat mich sofort meinen Weg in die Geschichte finden lassen.

„‘Du kannst kein Arzt sein. Nur Jungens können Ärzte werden. Leroy muß der Arzt sein.‘
‚Du hast sie ja nicht mehr alle, Spiegelglass, Leroy ist dümmer als ich. Ich muß unbedingt der Arzt sein, da ich die Gescheitere bin, und ob man ein Mädchen ist, spielt dabei keine Rolle.‘“ E-Book, Position 443

Schreibstil (+)

Auch der Schreibstil der Autorin konnte mich überzeugen, er zeigt sich am Beginn des Buches noch kindlicher und wird dann gemeinsam mit Molly langsam erwachsen. Die Sprache ist flüssig und angenehm, anschaulich, emotional, dabei oft entwaffnend direkt und ungeniert, die Dialoge sind lebendig und wirken echt. Ich war sehr überrascht davon, wie sehr bei Mollys sexuellen Experimenten ins Detail gegangen wird, wie „schamlos“ und unbefangen ihre Beziehungen und ihre Denkweise geschildert werden – vor allem, wenn man bedenkt, dass dieses Buch in den 70er-Jahren im prüden Amerika erstmals erschienen ist. Immer wieder kommt es zu kuriosen Situationen, die ihre eigene Art von Humor entfalten und mich mehrmals zum Schmunzeln oder Lachen gebracht haben.

„‘Du muss doch wenigstens ‚etwas‘ von dem tun, was alle machen. Sonst mögen die Leute dich nicht.‘
‚Ist mir egal, ob sie mich mögen oder nicht. Jeder ist blöd, das ist es, was ich denke. Mir ist wichtig, daß ich mich mag, das ist mir wirklich wichtig.‘“ E-Book, Position 528

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Rita Mae Browns Entwicklungsroman, der sich hauptsächlich mit dem Erwachsenwerden und der Emanzipation der Protagonistin, mit den Themen Selbstbestimmung und sexuelle Freiheit beschäftigt, ist von der Biografie der Autorin stark beeinflusst. Molly wächst in der Unterschicht auf, an einem Ort und zu einer Zeit, in der die gesellschaftlichen Erwartungen und die Forderung nach traditionellen Rollenbildern erdrückend waren. Wie revolutionär dieses Buch damals gewesen sein muss, kann man sich aus heutiger Sicht vermutlich kaum vorstellen. Nicht nur bricht die Protagonistin radikal mit Genderstereotypen, sondern sie ist noch dazu eine „Lesbierin“, eine, die „andersrum“ ist. Damals wurde ein solches Verhalten noch als krankhaft angesehen, als therapierbar. Die junge Molly, die trotz ihrer konservativen Erziehung beeindruckend moderne Einstellungen entwickelt, muss schnell lernen, dass die Chancen für Frauen und Homosexuelle im „Land der unbegrenzten Möglichkeiten“ ganz und gar nicht unbegrenzt sind. Im Gegenteil, sie muss sich mit Sexisten, Konservativen und Homophoben herumschlagen, erleidet immer wieder harte Rückschläge (obwohl sie intelligent, talentiert und ehrgeizig ist) – und hört dennoch nie auf, für ihre Träume zu kämpfen.

Die Autorin erzählt eine authentische Geschichte, die uns die vielen (unerwarteten) Wendungen vor Augen führt, die ein Menschenleben oftmals nimmt. Die Autorin kritisiert die Gesellschaft, behandelt viele wichtige Themen wie Rassismus, Sexismus und Homophobie mit der nötigen Tiefe und zeigt auf, wie uns unsere Herkunft prägt und unsere Chancen und Möglichkeiten bestimmt. Auch das Ende fand ich gelungen – vor allem, weil es so offen ist, kann es Denkprozesse anstoßen und zum Nachdenken anregen.

Obwohl man merkt, dass die Gesellschaft damals noch viel engstirniger und konservativer war und obwohl man heutzutage mit vielen der beschriebenen, diskriminierenden Verhaltensweisen glücklicherweise nicht mehr durchkommen würde, verfehlt „Rubinroter Dschungel“ auch im Jahre 2018 nicht seine Wirkung, denn: Kein Land der Welt hat bisher absolute Gleichstellung erreicht, immer noch haben wir massive Probleme mit Sexismus, Rassismus und Homophobie in unserer modernen Gesellschaft, und manche der diskriminierenden Aussagen im Buch kann man (leider!) bestimmt auch heute noch genau so hören. „Rubinroter Dschungel“ verdeutlicht uns, dass schon ein großes Stück des Weges hinter uns liegt, erinnert uns aber gleichzeitig auch daran, dass wir noch einiges vor uns haben.

Protagonistin & Figuren (♥)

Molly Bolt ist eine wunderbare Protagonistin mit einem ganz eigenen Charme. Sie nimmt kein Blatt vor den Mund, ist intelligent, wissbegierig, mutig, stark, wild (manchmal vielleicht sogar schon etwas zu wild) und furchtlos, liebt ihre Freiheit und lässt sich von niemandem sagen, wie sie zu sein und was sie zu tun hat. So rennt sie als Kind mit zerrissenen Kleidern auf den Feldern herum, weigert sich, Kleider zu tragen und schwört sich, niemals zu heiraten. Molly ist mit Sicherheit eine starke Frau mit Vorbildwirkung – es ist zweifellos beeindruckend, welche klaren Ziele sie sich setzt und wie zielstrebig sie diese verfolgt. Egal, welche Hindernisse ihr in den Weg geworfen werden: Sie klettert einfach drüber und weigert sich, aufzugeben – auch wenn sie es als Frau, als Arme, als Lesbe viel schwerer als die meisten anderen hat.

Auch die anderen Figuren sind großteils liebevoll gezeichnet (wenn auch nicht immer sympathisch!), auch wenn viele Molly nur sehr kurz auf ihrem Lebensweg begleiten. Besonders beeindruckt und gerührt hat mich Mollys Vater, der als Einziger das Potential seiner Tochter erkennt und fest entschlossen ist, ihr ein besseres Leben zu ermöglichen.

„‘Molly wird aufs College gehen.‘
‚Große Worte.‘
‚Meine Tochter geht aufs College.‘“ E-Book, Position 574

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Ich war ständig neugierig, wie es weitergeht, und bin Molly sehr gerne in der Geschichte gefolgt. Dennoch wäre das Buch meiner Meinung nach noch besser geworden, wenn man ihm Mittelteil noch etwas mehr Spannung beigefügt hätte. Sehr gut gefallen haben mir die glaubwürdigen, ungeschönten Milieubeschreibungen und die Südstaatenatmosphäre in den 50ern, die die Autorin auf den ersten Seiten heraufbeschwört.

„‘Ich begann mich zu fragen, ob Mädchen Mädchen heiraten können, weil ich mir sicher war, daß ich Leota heiraten und für immer in ihre grünen Augen sehen wollte. Aber ich sollte sie nur heiraten, wenn ich nichts mit der Hausarbeit zu tun hätte.‘“ E-Book, Position 631

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Dieses Buch ist nicht grundlos zum Klassiker feministischer Literatur geworden, sondern kritisiert Sexismus, Rassismus und Homophobie wirkungsvoll. Die starke Protagonistin beeindruckt und hat Vorbildwirkung. Einen winzigen Kritikpunkt gibt es trotzdem: Mollys leichte Oberflächlichkeit, ihr Bodyshaming, ihre Fixierung auf Äußerlichkeiten und die seltene Verwendung von frauenfeindlicher / homophobe Sprache (die aber teilweise notwendig sind, um das Milieu zu charakterisieren).

Mein Fazit

Rita Mae Browns biographisch beeinflusster Entwicklungsroman ist nicht grundlos zu einem Klassiker feministischer Literatur geworden. „Rubinroter Dschungel“ schildert nicht nur authentisch das Aufwachsen, die Selbstfindung und den hindernisreichen Lebensweg einer jungen, lesbischen Frau, die in den 50er Jahren in Amerika geboren wird, sondern kritisiert gleichzeitig die Gesellschaft wirkungsvoll. Der Schreibstil ist flüssig, emotional und entwaffnend direkt, die Protagonistin zeigt sich intelligent, mutig und stark, und die wichtigen Themen werden von der Autorin mit der nötigen Tiefe behandelt. Lediglich etwas mehr Spannung hätte es im Mittelteil sein dürfen. Sein Alter merkt man dem Buch an den Mietpreisen und an der noch engstirnigeren, konservativeren Gesellschaft an, dennoch verfehlt „Rubinroter Dschungel“ auch im Jahre 2018 nicht seine Wirkung, denn: Kein Land der Welt hat bisher absolute Gleichstellung erreicht und immer noch haben wir massive Probleme mit Sexismus, Rassismus und Homophobie. „Rubinroter Dschungel“ verdeutlicht uns, dass schon ein großer Teil des Weges in eine gleichberechtigte, offene, friedliche Gesellschaft hinter uns liegt, erinnert uns aber gleichzeitig auch daran, dass wir noch ein großes Stück vor uns haben. Deshalb: Bitte (noch) nicht die Beine hochlegen!

Leseempfehlung: Jenen LeserInnen, die sich für das Thema interessieren, sei dieses Buch ans Herz gelegt!

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 4 Sterne
Ausführung: 4 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 4-5 Sterne
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4-5 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an, denn vieles, was kritisiert wird, ist leider heute noch aktuell!

Insgesamt:

❀❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 4 Lilien!

Veröffentlicht am 16.11.2018

3,5 Sterne: Gelungener, innovativ erzählter Roman - warum ich trotzdem ein bisschen enttäuscht bin

Verdammt perfekt und furchtbar glücklich
1

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Ottila McGregor hat immer noch an der Trauer um ihren Vater zu knabbern, und ihr schlechtes Gewissen, weil sie sich ihrer psychisch kranken Schwester gegenüber in der Jugend nicht immer sehr freundlich verhalten hat, hält sie nachts wach. Zudem hat Ottila ein Alkoholproblem, ist in eine ungesunde Affäre mit ihrem Chef verwickelt und hat das Gefühl, dass ihr Leben außer Kontrolle gerät. Doch damit soll von nun an Schluss sein. Ottila sucht sich eine Therapeutin, die sie bei ihrem nicht ganz einfachen Vorhaben unterstützt, endlich eines zu werden: verdammt perfekt und furchtbar glücklich…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: Blumenbar
Seitenzahl: 400
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Ottila McGregor)
Kapitellänge: sehr kurz bis mittel
Tiere im Buch: + / - Tiere werden ohne Reflexion verspeist, manchmal schien es mir sogar so, als würde bei all dem lockeren Geplänkel über Tieropfer vergessen, dass es sich hierbei um fühlende Lebewesen handelt. Das hat mir nicht gerade gefallen. Zudem wird ein Opferritual zusammengefasst, bei dem zwei Ziegenböcke und ein Hund getötet werden. Einmal wird sogar gesagt, dass der einzige Grund, dass Ottila und Thales keine Opferung durchführen, nur sei, dass es illegal ist. Zudem werden die Lammschlachtungen zu Ostern als lustig dargestellt und Murmeln angepriesen, die Stinkkäfer enthalten. Weil auch in der Kindheit der Protagonistin wieder eine Katze alleine gehalten wurde, hier wieder meine Anmerkung: Katzen sind alleine niemals glücklich (sind sind EinzelJÄGER, keine EinzelGÄNGER), sondern sehr einsam und unglücklich. Sie können verschiedene Verhaltensstörungen entwickeln und depressiv und/oder aggressiv werden. Wer seine Katze liebt, schenkt ihr deshalb mindestens einen Gefährten.

Warum dieses Buch?

Wer mich kennt, weiß, dass mich Anneliese Mackintoshs intensiver Erzählband „So bin ich nicht“ vor wenigen Jahren regelrecht umgehauen hat. Ich war wahnsinnig begeistert und schwor mir damals, das nächste Werk der Autorin zu lesen, egal, worum es gehen würde. Diesen Plan habe ich natürlich (wie man an dieser Rezension sehen kann) in die Tat umgesetzt.
Meine Meinung

Einstieg (+)

Den Einstieg fand ich auch dieses Mal sehr stark, da ich mich sofort an „So bin ich nicht“ erinnert fühlte, als ich die betrunkenen, gnadenlos ehrlichen SMS las, die von der Protagonistin an Silvester verschickt wurden. Meine Erwartungen stiegen weiter, als ich den interessanten Aufbau des Buches bemerkte: Die Autorin kreiert eine zusammenhängende Erzählung (und zeichnet ein Gesamtbild von Ottilas chaotischem Leben), die aus vielen kleinen Schnipseln besteht. Das ungewöhnliche, innovative und abwechslungsreiche Leseerlebnis setzt sich zum Beispiel aus SMS, Therapeutengesprächen, Zitaten, Flyern, Listen, Briefen, Tagebucheinträgen, Gästebucheinträgen, Totenscheinen, einem selbstgemachten Scrapbook, Blog-Einträgen und einem Übungsbuch für AlkholikerInnen auf Entzug zusammen – ein sehr interessanter Aufbau, der niemals langweilig oder vorhersehbar wird.

„Morgens probiere ich immer irgendwas zu machen, das mir guttut. Eine Banane essen, meditieren, Fotos von Leberzirrhose googeln. Manchmal schreie ich auch in mein Kissen.“ E-Book, Position 215

Schreibstil (+/-)

Der Schreibstil ist durch die vielen verschiedenen Beiträge verschiedener Menschen nicht einheitlich, die Sprache wird stets auf die verschiedenen Charaktere und ihre spezifischen Sprechweisen angepasst (zum Beispiel werden Orthographie und Stil verändert), was den Eindruck von Authentizität erzeugt. An den Kapiteln, die aus Ottilas Sicht geschrieben sind, gibt es eigentlich nicht viel auszusetzen. Die Sprache ist einfach, dabei jedoch niemals lieblos, flüssig, angenehm lesbar. Auch gibt es wieder manche Formulierungen, die mich entweder schlucken, nachdenklich werden oder schmunzeln haben lassen. Jedoch fehlte mir dieses Mal diese unverwechselbare Intensität, die mich am Vorgängerwerk so begeistern und emotional mitnehmen konnte. Meiner Meinung nach liegen der Autorin kürzere, verdichtete Werke mehr, weil sie da jedes Wort viel bewusster zu setzen scheint. Wow-Momente waren jedenfalls dieses Mal sehr selten.

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+)

Auch dieses Mal zeigt Anneliese Mackinstosh keine Scheu vor schwierigen, ernsten und traurigen Themen und geht wieder in die Tiefe, wenn es um Alkoholismus, Krebs, Sterben, Trauer, psychische Krankheiten, selbstverletzendes Verhalten, Suizid, toxische Beziehungen und Gewalt gegen Frauen geht. Erneut konnte mich die Autorin mit ihrem ehrlichen und gleichzeitig sensiblen Umgang mit diesen Aspekten überzeugen, auch wenn sie mich nicht so emotional mitnehmen und treffen konnte wie mit ihrem Erstling. Das liegt möglicherweise am insgesamt lockereren Ton und einem Humor, der sich leichter zeigt als im Vergleichswerk. Jedoch könnte das Buch für labile Menschen, die gerade selbst mit einer schwierigen Phase oder Depressionen kämpfen, trotzdem schwer zu verdauen sein – daher nähert euch diesem Werk am besten mit Vorsicht. Das Ende fand ich gelungen, es wird mir aber nicht lange im Gedächtnis bleiben. Für mich war das Debüt der Autorin damals sehr nah an der Perfektion und meine Erwartungen an dieses Buch waren dementsprechend sehr hoch. Ich weiß, dass die Autorin es noch besser kann und dass man hier durchaus noch emotional viel mehr herausholen können hätte. Deshalb bin ich hier wohl strenger als ich es bei einem anderen Buch wäre und – ja, leider – auch ein kleines bisschen enttäuscht.

„Es gab zwar eine vernünftige Form der Trauer, die ich ausleben konnte. […] Aber es gibt noch eine andere Sorte Trauer, eine unbezähmbare, die immer wieder in mir hochkocht. Eine Trauer, die faucht und beißt. Eine Trauer, die sich an der gesamten Menschheit rächen will.“ E-Book, Position 4689

Protagonistin (♥)

Erneut gelingt es der Autorin, eine Protagonistin zu erschaffen, die man schnell ins Herz schließt. Ottila ist liebevoll ausgearbeitet, eine komplexe, komplizierte Person mit vielen authentischen Schwächen und Stärken und einer schwierigen Vergangenheit. Sie macht im Laufe der Geschichte eine glaubwürdige Entwicklung durch. Ihre Ehrlichkeit ist entwaffnend und schonungslos, ihr Humor oft düster, ihre Versuche, sich zu verändern, und ihr wiederholtes Scheitern dabei ließen mich mitfühlen und mitleiden. Ottila kennt keine Tabus, breitet ihre Fehler und kleinen, charmanten Verrücktheiten vor den LeserInnen aus, ohne sie jemals zu beschönigen oder sich zu rechtfertigen. Vielmehr präsentiert sie sich einfach, wie sie ist, und überlässt es dann uns, zu urteilen. Eine Situation, die sich sehr ungewöhnlich anfühlt! Ottila hat mich mit ihrer impulsiven, leicht verrückten, unbedarften Art ein wenig an Lucy in „Fische“ von Melissa Broder erinnert. Solche ungewöhnlichen Protagonistinnen finde ich einfach wunderbar!

„Meine Zunge wurde ein bisschen taub, und ich wusste, dass ich schon ziemlich betrunken war, weil ich die Augen weiter aufriss als üblich. Das war immer ein sicheres Zeichen. Keine Ahnung, warum ich das machte. Vielleicht ein Flirtversuch mit dem Leben.“ E-Book, Position 1296

(Neben)Figuren & Liebesgeschichte (♥)

Was die Nebenfiguren betrifft, gibt es hier nur Lob auszusprechen. Besonders beeindruckt hat mich die glaubwürdige Zeichnung der psychisch kranken Schwester Mina, die so viele Facetten von ihr einfängt, ihre schwierigen Verhaltensweisen beschreibt und sie dabei niemals unsympathisch oder gar monströs oder klischeehaft erscheinen lässt. Mir gefällt auch, wie hier oft mit Vorurteilen gebrochen wird (auch wenn die psychiatrische Anstalt teilweise auf mich doch sehr altmodisch, stereotypisch und nicht mehr zeitgemäß wirkte). Auch die Mutter, die immer wieder unerwartete Familiengeheimnisse enthüllt, langsam dem Alkohol verfällt und mit ihrem Leben und ihrer Trauer kämpft, empfand ich als sehr dreidimensional.

Die Liebesgeschichte strotzt vielleicht nicht unbedingt vor Chemie und kribbelnden Momenten, aber ich finde sie authentisch und gelungen: Endlich mal keine Insta-Love, sondern die Zuneigung entwickelt sich langsam, ist nicht perfekt, sondern einfach echt und gesund und dabei sehr schön zu lesen.

„Aber die Pfleger lassen sich nicht täuschen, genauso wenig wie ich: Minas Blick ist zwar ruhig, aber ihr Kopf ist hellwach, tüftelt immer neue Möglichkeiten aus, sich umzubringen, und fragt sich, ob sie je den Mut haben wird, es durchzuziehen.“ E-Book, Position 1698

Spannung & Atmosphäre (+/-)

Auch wenn dieses Buch eine lockerere, positivere, weniger deprimierende Grundstimmung aufweist, so gibt es dennoch auch melancholische Momente, die es zu einer nicht immer leicht verdaulichen Lektüre machen. Obwohl ich neugierig war, wie es mit Ottila weitergeht, und trotz des interessanten Aufbaus hatte das Buch meiner Meinung nach ein paar Längen, genügend Spannung war für mich trotz mancher unerwarteten Wendung nicht immer vorhanden, manche Beschreibungen und Vorkommnisse fand ich im Vergleich zum Vorgängerband auch einfach ein bisschen banal und nicht so mitreißend.

Geschlechterrollen & Vielfältigkeit (♥)

Das Buch enthält sehr viele starke, interessante Frauenfiguren, was mir sehr gut gefallen hat. Die bisexuelle Protagonistin selbst kümmert sich nicht um gesellschaftliche Erwartungen, ist gebildet und eine Feministin, die in der Ehe eine frauenfeindliche, veraltete Institution sieht, die für Frauen nur Nachteile hat. Ihr Partner Thales ist ein moderner, sensibler Mann, der eine gleichberechtigte Beziehung mit Ottila lebt, ebenfalls feministisch eingestellt ist und zum Beispiel auch sehr gerne kocht. Das Buch verstärkt keine schädlichen Gender-Stereotypen, sondern bricht mit ihnen, wenn zum Beispiel die Mutter mit der Tochter einen Angelausflug macht oder mit Mitte 50 ihre Liebe für Paintball entdeckt. Die zwei Stellen, an denen frauenfeindliche Ausdrücke verwendet werden (1x Miststück, 1x Schla+++), kann ich verzeihen, obwohl sie natürlich trotzdem angesprochen werden sollen. So ist dieses Buch, was diesen Aspekt betrifft, sicher nicht perfekt, aber durchaus nah dran.

„Erstens wäre ich als Rapunzel völlig fehlbesetzt, allein schon, weil mein Haar so kurz und splissig ist. Und selbst wenn ich üppige, kräftige blonde Locken hätte, würde ich sie abschneiden und mich selbst aus dem Fenster abseilen, vielen Dank. Ich brauche keinen Man, der mich rettet.“ E-Book, Position 1057

Mein Fazit

Mit ihrem ersten Roman hat Anneliese Mackintosh eine gelungene Geschichte vorgelegt, die sich nicht nur durch die außergewöhnliche, innovative Erzählweise (ganz viele Schnipsel setzen sich zu einer zusammenhängenden Geschichte zusammen) auszeichnet, sondern sich auch durch die humorvolle und gleichzeitig tiefgehende und sensible Behandlung ernster und trauriger Themen wie Trauer, Alkoholismus und psychische Krankheiten von der Masse abhebt. Der Schreibstil zeigt sich einfach und angenehm (dabei niemals lieblos) und hat mich einige Male schmunzeln, nachdenklich werden oder schlucken lassen. Die Protagonistin ist so schonungslos ehrlich, kompliziert und liebevoll ausgearbeitet, dass ich sie sofort ins Herz schließen musste und auch die Nebenfiguren und die Liebesgeschichte wirken sehr „echt“. Trotz dieser positiven Punkte bin ich ein bisschen enttäuscht vom Buch, weil ich weiß, die Autorin kann es noch viel besser. Manche Schilderungen empfand ich als etwas banal, es gab ein paar Längen und obwohl „Verdammt perfekt und furchtbar glücklich“ durchaus einige sehr gelungene Momente aufweist, so fehlt ihm die unverwechselbare Intensität des Vorgängerwerkes („So bin ich nicht“). Ich habe mir so viel von diesem Buch erhofft, wollte erneut emotional mitgerissen werden, Worte lesen, die sich anfühlen wie ein Schlag in die Magengrube, so in das Buch verwickelt werden, dass ich mich fast darin verliere. Doch auch wenn die Geschichte gut ist, so steht sie wie die kleine, weniger talentierte Schwester im Schatten des tatsächlich „verdammt perfekten“ Debüts, "So bin ich nicht".

Leseempfehlung: Fans des Debüts sollten sich diesen Roman natürlich trotzdem nicht entgehen lassen, alle anderen sollten dem Buch einfach eine Chance geben. Wer „So bin ich nicht“ übrigens noch nicht kennt – es sei euch hiermit wärmstens und überschwänglich ans Herz gelegt.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3,5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne
Schreibstil: 3,5 Sterne
Protagonistin: 5 Sterne ♥
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2-3 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3,5 Sterne
Liebesgeschichte: 4 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Regt zum Nachdenken an!

Insgesamt:

❀❀❀,5 Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3,5 nicht ganz zufriedene Lilien!

Veröffentlicht am 12.11.2018

Still & faszinierend, langatmig, oberflächlich - konnte mich nicht ganz überzeugen!

Das Vogelhaus
0

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Rebellische Tochter, erfolgreiche Violinistin und schließlich gefeierte Tierforscherin und Autorin. Len Howard verbrachte ihre zweite Lebenshälfte in ...

Die Rezension enthält leichte Spoiler!


Inhalt

Rebellische Tochter, erfolgreiche Violinistin und schließlich gefeierte Tierforscherin und Autorin. Len Howard verbrachte ihre zweite Lebenshälfte in einem abgelegenen Cottage im Süden Englands, wo sie mit Vögeln zusammenlebte, diese erforschte und sich mit ihnen anfreundete. Sie war nicht nur eine Pionierin auf ihrem Gebiet, sondern auch eine ungewöhnliche, moderne, feministische Frau. Umso schöner, dass Eva Meijer ihr mit diesem Buch ein Denkmal setzt.

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Einzelband
Verlag: btb
Seitenzahl: 320
Erzählweise: Ich-Erzähler, Präsens
Perspektive: aus weiblicher Perspektive (Len Howard)
Kapitellänge: mittel bis eher lang, dazwischen kurze Vogelbeobachtungen
Tiere im Buch: + / - Es wird Hummer gegessen, Vögel verhungern, sterben aus Kummer, werden bei Heckenarbeiten grausam getötet. Die Protagonistin tötet zudem eine Taube mit einem Stein, um sie zu erlösen. Positiv ist, dass der sorglose, rücksichtslose Umgang mit unseren Singvögeln und generell Tierversuche mit Vögeln von der Forscherin scharf kritisiert werden, weil sie keine brauchbaren Ergebnisse liefern. Hier auch wieder meine Empfehlung: Wenn ihr ebenfalls gegen sinnlose, oft grausame Tierversuche seid, schaut bitte beim Verein „Ärzte gegen Tierversuche“ vorbei, der schon jahrelang engagiert und teilweise sogar schon erfolgreich für Alternativen und für eine tierversuchsfreie Forschung kämpft.

Warum dieses Buch?

Als Tierliebhaberin bin ich natürlich immer daran interessiert, mehr über die großen und kleinen Lebewesen zu erfahren, die uns umgeben. Zudem habe ich mich immer gefragt, wie der Alltag als TierforscherIn aussieht. Weibliche Forscherinnen erhalten ja oft viel weniger Aufmerksamkeit als ihre männlichen Kollegen, daher freute ich mich umso mehr, dass Len Howard im Mittelpunkt dieser Geschichte steht und wollte dieses Buch unbedingt lesen.
Meine Meinung

Einstieg (+/-)

Der Einstieg machte mich sofort neugierig, auch wenn es schlussendlich nach dem Prolog, vor allem durch diesen großen Zeitsprung in die Jugend von Len Howard, länger gedauert hat, bis ich wirklich in der Geschichte angekommen war und auch mit der Hauptfigur eine Verbindung aufgebaut hatte. Woran das lag, darauf gehe ich später noch näher ein.

"'Sie können die Hecke jetzt nicht beschneiden. Sie ist voller Nester. Die meisten Jungen sind schon aus dem Ei geschlüpft.' Meine Stimme ist höher als sonst, mir ist, als drücke mir jemand die Kehle ab. [...]
' Wenn Sie die Hecke beschneiden wollen, müssen sie erst mich aus dem Weg räumen.'" Seite 6

Schreibstil (+/-)

Was den Schreibstil angeht, bin ich zwiegespalten. Einerseits schreibt Eva Meijer flüssig, angenehm und einfach, manchmal sind ihre Beschreibungen sehr treffend, sensibel und teilweise sogar poetisch. Andererseits war mir die Sprache teilweise auch ZU einfach, zu kühl, zu spannungsarm, mit zu wenigen Ecken und Kanten, um mich mitreißen und begeistern zu können.

„Ich erzähle ihr, dass ich Worte manchmal fürchte, weil sie Dinge einfangen, die man besser nicht einfangen sollte.“ Seite 65
„Das Früher ist ein Hügel in der Ferne, der nicht mehr näher, aber auch nicht weiter weg rückt. Das Jetzt ist ein Gesicht in der Menge, das einen Ausdruck annimmt, das deinen Blick erwidert und vorbeigeht.“ Seite 112

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (+/-)

Wie einige andere LeserInnen auch, habe ich mir nach dem etwas fehlleitenden Klappentext vom vorliegenden Buch etwas anderes erwartet. Ich rechnete damit, dass Len Howards späte Jahre und ihre Vogelbeobachtungen den größten Teil des Romans ausmachen würden, leider wurde dem Thema aber nur ein Drittel gewidmet (und auch in diesem Abschnitt hätte ich mir oft mehr Details gewünscht). Ein großer Teil des Buches beschäftigt sich jedoch biographisch (hier wurde wurden nach eigenen Angaben der Autorin Fakten und Fiktion vermischt) mit den früheren Jahren der Forscherin, mit ihrer Jugend und ihrer Zeit als Violinistin in einem Orchester. Manche Szenen konnten mich absolut überzeugen, die Atmosphäre des frühen 20. Jahrhunderts konnte mich vollkommen für sich einnehmen, andere Kapitel und Schilderungen wirkten auf mich jedoch auch sehr banal, zu oberflächlich und nicht interessant genug.

Verzaubern konnten mich an diesem Buch, das in den Niederlanden bereits einige Preise erhalten hat und zu einem Bestseller wurde, die Vogelbeobachtungen, die man immer am Beginn jeden Kapitels findet und Len Howards deutlich spürbare Liebe zu ihren Vögeln, die man auch in den Bildern erkennt, die am Ende des Buches beigefügt wurden. Manche Themen wie Erwachsenwerden und Selbstfindung, das Abnabeln von der Familie, werden tiefgründig und authentisch behandelt, viele andere Aspekte wie die Freundschaften von Gwendolen bekommen aber meiner Meinung nach zu wenig Raum. Zudem waren meine Erwartungen nach dem Lesen des Klappentexts hoch und ich wartete ständig darauf, dass mich der Roman wie angekündigt „zwingt, herkömmliche Vorstellungen in Frage zu stellen“, was aber leider nicht so richtig geschehen wollte. Das Ende fand ich rund und gelungen, auch wenn es mir nicht lange im Kopf bleiben wird.

„Im September und Oktober packte die Kohlmeisen die Zerstörungswut: Sie zerfetzten Papier und pickten Löcher ins Holz. Das schien ihnen ganz einfach Spaß zu machen, außerdem hatten sie viel freie Zeit, nun da ihr Nachwuchs selbst für sich sorgen konnte und sie noch nicht mit Vorbereitungen für den Winter zu beginnen brauchten.“ Seite 101

Protagonistin (+/-)

Was die Heldin betrifft, bin ich ebenfalls zweigeteilt. Um ehrlich zu sein, war mir Len Howard in ihren frühen Jahren am sympathischsten. Ihren Drang, sich von der Familie und deren (konservativen) Werten zu emanzipieren und die Welt zu entdecken, kennt wohl jede/r Heranwachsende. Jedoch gelang es mir im ganzen Buch nicht, eine wirklich enge Bindung zur Hauptfigur aufzubauen. Sie schien mir oft kühl, wenig emotional und bot (abgesehen von ihrer Tierliebe und ihrem Engagement für die Vögel) wenig Identifikationsfläche. Mit zunehmendem Alter wird die Forscherin immer mürrischer und scheint immer weniger Geduld mit den Menschen zu haben (was an sich eigentlich schon eine glaubwürdige Entwicklung ist). Nicht immer konnte ich dabei Lens Verhaltensweisen verstehen. Zum Beispiel hatte ich überhaupt kein Verständnis dafür, dass sie sich nach ihrem Umzug überhaupt nicht mehr bei ihrer Familie gemeldet hat – angeblich, weil sie so viel zu tun hatte. Meiner Meinung nach eine Ausrede. Sie entschloss sich bewusst, ihre Schwester, die ihre Mutter und ihren Bruder alleine pflegte, vollkommen im Stich zu lassen. Das hat meine Gefühle ihr gegenüber nicht gerade erwärmt.

„Auf dem Rückweg fängt es an zu schneien. Der Schnee bringt Trost und Verheißung. Kinder dürfen noch kurz nach draußen, Erwachsene begreifen wieder, dass sie auch mal Kinder waren.“ Seite 96

(Neben)Figuren (-)

Auch hier muss ich mich einigen anderen RezensentInnen leider anschließen. Während die tierischen Mitbewohner der Forscherin detailliert beschrieben und liebevoll ausgearbeitet werden, so bleiben menschliche WegbegleiterInnen meist nur kurz in Lens Leben, sind dabei oft blass und austauschbar. Man erfährt (bis auf wenige Ausnahmen) einfach zu wenig über sie, um sie ins Herz zu schließen, obwohl man das eigentlich doch möchte. Manchmal fehlt dieses gewisse Etwas, das sie unverwechselbar und unvergesslich macht. Dieser Eindruck hängt wohl auch mit den großen Zeitsprüngen zwischen den Kapiteln zusammen, nach denen man sich immer erst einmal wieder in Gwendolens Leben zurechtfinden muss.

Spannung & Atmosphäre (-)

„Das Vogelhaus“ ist ein ruhiges, stilles, manchmal melancholisches, teilweise sehr atmosphärisches Buch, das stark von Lens alltäglichen Beobachtungen durchzogen ist. In manchen Momenten fand ich das Buch wunderbar entschleunigend, faszinierend, überzeugend, poetisch, oft fand ich es jedoch auch langatmig, teilweise sogar langweilig und musste mich zwingen / motivieren, weiterzulesen. Einen durchgehenden Spannungsbogen gibt es nicht, es sind eher Neugier und Interesse für diese ungewöhnliche, progressive Frau, die einen weiterlesen lassen. Punktuell wird durchaus Spannung aufgebaut, was gut gelingt, die Durststrecken dazwischen haben mich jedoch immer wieder gestört.

„Am Strand zieht feiner Regen graue Streifen durch die Luft – grauer Strand, graues Meer, grauer Himmel. Meine Lippen sind salzig, ich summe Noten, um meine Stimme zu hören. Sie verwehen.“ Seite 120

Geschlechterrollen (♥)

Gwendolen Howard war ohne Frage eine Frau, die für ihre Zeit ungewöhnlich, vielleicht sogar geradezu empörend emanzipiert war. Sie verteilt Flyer für die Suffragetten-Bewegung und lässt sich auch sonst von niemandem etwas vorschreiben, geht ihren eigenen Weg. Zudem weigert sie sich zeitlebens, zu heiraten, unter anderem wohl auch, um ihre Freiheit zu behalten. Trotz ihrer konservativen Familie, die ihr versichert, dass sie nicht arbeiten müsse, dass es ihre Aufgabe sei, sich wie eine Dame zu verhalten und einen respektablen Ehemann zu finden, beschließt Len, Violinistin zu werden und in einem Orchester zu spielen. Sie arbeitet hart für ihre Erfolge, wehrt sich gegen Sexisten und kritisiert immer wieder die Tatsache, dass in der Wissenschaft Frauen oft nicht so ernst genommen werden wie Männer. Lens Freundinnen leben ebenfalls lange Jahre ein sehr selbstbestimmtes Leben, manche haben zahlreiche Liebhaber – niemals wird dieses moderne Liebesleben im Buch verurteilt, was ich großartig finde (vor allem in einem Roman, der in der Vergangenheit spielt)! Aus all diesen Gründen konnte mich „Das Vogelhaus“, was diesen Aspekt betrifft, auf ganzer Linie überzeugen!

Mein Fazit

„Das Vogelhaus“ ist ein interessanter, stiller Roman, der mich leider insgesamt nicht ganz überzeugen konnte. Der Schreibstil ist angenehm und flüssig, sensibel, manchmal aber auch langatmig, kühl und distanziert, auch zur Hauptfigur blieb leider immer eine gewisse Distanz, was mit Sicherheit auch an den großen Zeitsprüngen im Buch liegt. Die Nebenfiguren fand ich leider blass und austauschbar (bis auf wenige Ausnahmen), überhaupt fehlten mir insgesamt Tiefe und Spannung. Dennoch gab es auch Aspekte, die mich überzeugen konnten: Manche Beschreibungen waren poetisch bis philosophisch, Lens enge Freundschaft zu den Vögeln und ihre Beobachtungen sind faszinierend und lehrreich und ihre Liebe zu den Tieren ist auf jeder Seite spürbar. Die Forscherin war eine interessante, ungewöhnlich moderne, leidenschaftliche und feministische Frau, daher ist es schön, dass die Autorin mit diesem Buch dafür sorgt, dass sie nicht in Vergessenheit gerät.

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 3 Sterne
Worldbuilding: 3 Sterne
Ausführung: 3 Sterne
Einstieg: 3 Sterne
Schreibstil: 4 Sterne
Protagonistin: 3,5 Sterne
(Neben)Figuren: 2-3 Sterne
Atmosphäre: 3 Sterne
Spannung: 2 Sterne
Ende: 4 Sterne
Emotionale Involviertheit: 3 Sterne
Geschlechterrollen: ♥
Interessant und lehrreich!

Insgesamt:

❀❀❀ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 3 nicht ganz überzeugte Lilien!

Veröffentlicht am 31.10.2018

Rundum gelungene Fortsetzung: überzeugende Figuren, atemlose Spannung & Tiefe

Rache der Orphans
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Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war ...

Spoilerfreie Rezension


Inhalt

Evan Smoak ist als der „Nowherre Man“ bekannt. Er hilft Menschen, die in großen Schwierigkeiten stecken und geht dabei nach einem strengen Moralkodex vor. Doch das war nicht immer so – früher war Evan ein Auftragskiller der Regierung – dieselben Auftraggeber wollen ihn und das gefährlich Wissen, das er besitzt, nun auslöschen. Dabei machen sie auch nicht vor jenen Menschen halt, die Evan die Welt bedeuten. Als Jack, sein Ziehvater und Ausbilder, von seinen Feinden getötet wird, zählt für Evan nur noch ein Gedanke: Rache, denn dieses Mal ist es persönlich. Vor seinem Tod gelingt es Jack jedoch noch, Evan eine mysteriöse Nachricht zu hinterlassen: Er soll ein Paket abholen. Eine Mission, die ganz anders verlaufen wird, als der erfahrene Killer denkt, und die sein Leben auf den Kopf stellen wird…

Übersicht

Einzelband oder Reihe: Band #3 der Orphan-Reihe
Verlag: HarperCollins
Seitenzahl: 464
Erzählweise: Figuraler Erzähler, Präteritum
Perspektive: hauptsächlich aus männlicher Perspektive (Evan Smoak), manchmal auch weibliche Perspektive, wechselnde Perspektiven
Kapitellänge: mittel bis kurz
Tiere im Buch: - Eine Ente wird als Köder benutzt und im Anschluss kaltblütig erschossen. Ansonsten werden keine Tiere verletzt oder getötet. Unangebracht fand ich den Vergleich des Geräusches, das die Bremsscheiben eines Autos machen, mit dem Geräusch, das ein Huhn macht, wenn man ihm den Hals umdreht. Es sollte wohl lustig sein, aber das ging daneben, da ich Gewalt gegen Tiere absolut nicht witzig finde.

Warum dieses Buch?

Da mich der erste Band damals vollkommen begeistern konnte und bis heute einer meiner absoluten Lieblingsthriller ist, begleite ich Evan Smoak nun schon seit einigen Jahren auf seinem Weg. Der Protagonist ist einmalig, nicht nur gnadenlos effektiv und gefährlich, sondern ebenso gnadenlos sympathisch. Daher führte an diesem dritten Band natürlich kein Weg vorbei.

Meine Meinung

Einstieg (+)

Wie immer ist mir der Einstieg wieder sehr leicht gelungen. Sofort war ich wieder in Evans Welt, es ist mittlerweile ein bisschen so wie heimkommen – ein Gefühl, dass bei mir nur beim Lesen absoluter Lieblingsreihen aufkommt. Der spannende Prolog, in dem Evan verletzt am Steuer sitzt, von der Polizei verfolgt wird und besorgt an die Person denkt, die laut im Kofferraum gegen die Wand hämmert, macht sofort neugierig, denn natürlich will man wissen, wie Evan in diese Lage geraten konnte.

„Evan seufzte.
Jetzt hatten sich hinter ihm drei Streifenwagen mit voller Weihnachtsbeleuchtung und heulenden Sirenen auf beide Fahrbahnen verteilt und kamen immer näher.
Genau in diese Moment wurde auch das Hämmern aus dem Kofferraum lauter.“ E-Book, Position 38

Schreibstil (♥)

Auch dieses Mal gibt es am Schreibstil wieder nichts auszusetzen. Erneut schreibt Gregg Hurwitz einfach (dabei aber nicht oberflächlich), flüssig, angenehm – routiniert erzeugt er mit seinen Worten atemlose Spannung und beschreibt nuancierte Gefühle sehr intensiv, so dass man als LeserIn wieder stark emotional involviert ist. Evan Smoak lässt seine LeserInnen auch in diesem Band nicht kalt. Auch Spuren von Humor lassen sich im Buch finden. Die Erzählweise ist wieder sehr filmisch, schnell, temporeich – manche Szenenübergänge wirken wie Schnitte, das Kopfkino leuchtet in allen Farben auf und man kann die Verfilmung des Buches schon fast vor sich sehen. Man merkt definitiv, dass der Autor auch Drehbücher schreibt. (Übrigens soll die Reihe nun als Serie verfilmt werden – Vorfreude!)

„Trotz der großzügigen Dimensionen seiner Wohnung bekam Evan keine Luft mehr. Er spürte einen wilden Schmerz in seiner Brust, etwas, das er nicht einordnen konnte. Angst?“ E-Book, Position 70

Wie blutig schreibt Gregg Hurwitz?

Auch in diesem Band wird es mitunter wieder sehr blutig und brutal. Evan lässt seinen Rachegelüsten freien Lauf und zeigt nur wenig Mitleid mit seinen Feinden, die er gerne auch mal leiden lässt, bevor er sie endlich erlöst. Mir erschien Evan in diesem Band viel brutaler, gewissenloser, kälter und vielleicht sogar ein bisschen weniger liebenswürdig (den Ton Joey gegenüber fand ich teilweise unangebracht und zu schroff) als in den letzten Bänden – eine Veränderung, die mir zwar nicht wirklich gefallen hat, die jedoch aber auch irgendwie verständlich und nachvollziehbar ist (er trauert immerhin und ist wütend, macht eine schwierige Phase durch).

Inhalt, Themen, Botschaften & Ende (♥)

Auch dieses Mal gelingt es dem Autor wieder, einen wendungsreichen, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thrillerelementen und ernsten Themen zu verbinden und dabei in die Tiefe zu gehen. „Rache der Orphans“ bietet nicht nur actionreiche Verfolgungsjagden und Kampfszenen, sondern ebenso wieder stille und intensive Momente, in denen Evan seine sensible Seite, sein Mitgefühl und seine Trauer zeigen darf. Erneut spielen Themen wie Kindheit, Pflichten, Opfer, die man bringen muss, die Frage, was ein glückliches Leben, was Stärke ausmacht, Verantwortung, Trauer, Rache, moralisches Handeln und Familie wieder eine wichtige Rolle. Teilweise nimmt Evan in diesem Buch erstmals die Rolle eines Vaters ein – neues Terrain für den eigentlich distanzierten Einzelgänger. Der Showdown am Ende macht neugierig auf die Fortsetzung und kann wieder mit einigen unerwarteten Wendungen und gelungenen Momenten aufwarten – Gregg Hurwirtz hat erneut ein Buch geschrieben, das das Label „Thriller“ verdient.

Etwas negativ aufgefallen ist mir erstmals das übertriebene Product Placement im Buch. Wahrscheinlich gab es das auch schon in den Vorgängerbänden, dieses Mal wurde aber meine Aufmerksamkeit darauf gelenkt. Meiner Meinung nach hätte man nicht von jedem Wasserhahn-, Mikroskop- und Tintenrollerhersteller den Namen nennen müssen, aber bitte. Weil es sich hier um ein Buch für Erwachsene handelt, die dies kritisch evaluieren können, sehe ich diesen Punkt nicht wirklich als problematisch, finde ihn nur etwas anstrengend manchmal.

Protagonist & Figuren (♥)

Auch wenn der Protagonist dieses Mal auch Seiten von sich gezeigt hat, die mir nicht wirklich gefallen haben (Rachegelüste, Grausamkeit, Gewissenlosigkeit, kein Mitgefühl bei seinen Feinden), so ist die Figurenentwicklung doch wieder eine der größten Stärken des ganzen Buches. Evan entwickelt sich weiter, hadert immer noch mit seinem Schicksal, verzaubert immer noch mit Szenen voller Mitgefühl und beweist erneut viel Herz. Gregg Hurwitz baut bekannte Figuren weiter aus, lässt sie gänzlich neue (und teilweise wunderbar überraschende) Facetten von sich zeigen, verleiht ihnen mehr Tiefe und Glaubwürdigkeit. Aber auch neue Charaktere werden eingeführt, auch sie sind liebevoll ausgearbeitet und können wieder vollkommen überzeugen. Von diesem Schriftsteller können sich einige andere AutorInnen eine dicke Scheibe abschneiden, denn ausgezeichnet kann ein Thriller nur sein, wenn er Spannung, Tiefe und dreidimensionale Figuren vereint. Gregg Hurwitz zeigt auch dieses Mal wieder, wie das geht.

„Er lag da und starrte an die wasserfleckige Karte an der Decke, auf der die ganze Welt in all ihrer Düsternis und Vielschichtigkeit abgebildet schien.“ E-Book, Position 1467

Spannung & Atmosphäre (+)

Auch wenn die Spannung nicht durchgehend atemlos ist (auch ruhigere Momente stehen im Fokus), so konnte mich der Autor dennoch mit vielen unerwarteten Wendungen, einem interessanten Plot und vielen actionreichen, spannenden Momenten überzeugen. Es machte wieder Spaß, Evan auf seinem Weg zu begleiten, sogar ein bisschen als als im ruhigeren, langsameren zweiten Band. Den Auftakt kann „Rache der Orphans“ zwar nicht toppen, aber Gregg Hurwitz schließt mit diesem Buch nahtlos daran an und beweist einmal mehr, dass diese Reihe zu einer der besten überhaupt gehört. Insgesamt sollen fünf Bände geplant sein – ich werde mit Sicherheit bis zum Schluss dabei sein und kann es kaum erwarten, bis die Fortsetzungen erscheinen!

Geschlechterrollen (+/-)

Dieses Mal gibt es in diesem Bereich zwar wieder viel, aber nicht nur Lob von mir. Einerseits ist Evan selbst kein Sexist, sondern putzt und kocht mit Leidenschaft, bewundert manche Dame für ihre ausgefeilte Kampftechnik und fühlt sich beispielsweise auch von einer erfolgreichen Anwältin nicht eingeschüchtert. Zudem gibt es ein breites Spektrum von Frauen im Buch – mächtige, gut ausgebildete, erfolgreiche Frauen, alleinerziehende Mütter, eiskalte Killerinnen – und wichtige Themen wie Gewalt gegen Frauen werden angemessen aufgegriffen und kritisiert. Auch klassische Geschlechterstereotypen wie die Behauptung, dass Mädchen kein räumliches Vorstellungsvermögen hätten, werden widerlegt. Andererseits lässt sich hin und wieder leider auch frauenfeindliche Sprache im Buch finden, Frauen werden (selten zwar, aber immerhin) als Schlam+++, sogar Fo++++ bezeichnet, Mädchenparfüm wirke angeblich fehl am Platz neben Computern, Prostitution wird nicht genügend verurteilt, sondern Prostituierte werden sogar noch abwertend von Evan als Nu++++ bezeichnet, einmal werden zurechtgemachte Frauen als „nuttig aufgemachte Tussis“ beschrieben. Wenn der Autor in den nächsten Bänden noch ein kleines bisschen sensibler auf diesen Aspekt eingeht, bekommt er auch hier die volle Punktzahl!

„‘Es heißt doch immer, Mädchen haben kein räumliches Verständnis. Hat man offenbar vergessen, mir zu sagen.‘
‚Du hättest sowieso nicht hingehört.‘“ E-Book, Position 1730

Mein Fazit

Gregg Hurwitz liefert wieder ab und beweist einmal mehr, dass die „Orphan X“-Reihe zu den besten überhaupt gehört und dass man sie sich keinesfalls entgehen lassen sollte. Der Schreibstil ist wie gewohnt angenehm, erzeugt routiniert Spannung und beschreibt Emotionen intensiv und nuanciert – lässt die LeserInnen also niemals kalt. Inhaltlich gelingt es dem Autor wieder, einen interessanten, unvorhersehbaren Plot mit klassischen Thriller-Elementen und Tiefe zu verbinden, Themen wie Verantwortung, Familie, Trauer, Opfer, die man bringen muss, und Rache stehen dieses Mal im Mittelpunkt. Die Figurenzeichnung gehört wieder zur den größten Stärken des Buches, Evan darf neben seinen Rachegelüsten und seiner Wut auch wieder seine sensible Seite und viel Herz zeigen, altbekannte Charaktere enthüllen neue, wunderbar überraschende Facetten von sich, neue Figuren überzeugen ebenso. Auch, was die Spannung, die actionreichen Szenen, die unerwarteten Wendungen und die Spuren von Humor betrifft, die das Buch wieder durchziehen (obwohl auch wieder Zeit für ruhigere Momente ist), gibt es hier nichts auszusetzen. Kurz: Für Fans sowieso ein Muss, und wer die Reihe bisher noch nicht auf dem Schirm hatte, dem möchte ich sie hiermit wärmstens ans Herz legen (unbedingt mit Band 1 beginnen!). Für mich und alle anderen Fans heißt es nun erst einmal wieder warten, bis Evans Geschichte 2019 endlich weitergeht und der Nowhere Man sich endlich wieder am Telefon meldet mit den Worten: „Brauchen Sie meine Hilfe?“

Bewertung

Idee, Themen, Botschaft: 5 Sterne ♥
Worldbuilding: 5 Sterne
Ausführung: 5 Sterne
Einstieg: 5 Sterne ♥
Schreibstil: 5 Sterne ♥
Dialoge: 5 Sterne ♥
Protagonist: 4,5 Sterne
(Neben)Figuren: 5 Sterne ♥
Atmosphäre: 4 Sterne
Spannung: 4,5 Sterne
Humor: +
Ende: 5 Sterne
Emotionale Involviertheit: 4,5 Sterne
Geschlechterrollen: +/-

Insgesamt:

❀❀❀❀❀♥ Lilien

Dieses Buch bekommt von mir 5 verdiente Lilien und ein Herz und somit den Lieblingsbuchstatus!